Eigentlich dachte Stella Burger immer, dass es doch ein prickelndes Gefühl sein müsste, die Flasche sündhaft teuren Camus Extra Elegance Cognac aus dem Regal zu nehmen, sich umzudrehen, sie mit einer fast lasziven Bewegung unter ihrem Mantel verschwinden zu lassen und gleichzeitig in die Kamera zu lächeln. Aber das Erlebnis war wieder einmal enttäuschend. Sie wusste ja, wo der Detektiv war und was er gerade machte. Insiderwissen.
In ihrem Mantel war ein Stoffbeutel befestigt, durch den die Flasche so vor ihrem Bauch gehalten wurde, dass es zusammen mit den ebenfalls geklauten Chipstüten so aussah, als wäre sie schwanger. Deshalb hatte sie auch keine Bedenken, einfach an der Kasse vorbeizuschlendern, obwohl sie eigentlich erwartete, dass der Kaufhausdetektiv mit finsterer Miene auf sie zukommen und zur Rede stellen würde. Eine Kassiererin würde sie niemals aufhalten; das war nicht ihr Job. Aber auf den stummen Alarmknopf drücken, das könnte sie, wenn es ihr bei der stumpfsinnigen Arbeit nicht völlig gleichgültig war. Aber niemand belästigte die Diebin.
Fast enttäuscht verließ sie das Kaufhaus und fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Feierabend. Aber wozu? Da war niemand, der auf sie wartete. Nur das übliche, öde Fernsehprogramm und die geklauten Chips. Ein verbales Geplänkel mit dem Detektiv wäre wenigstens eine Abwechslung gewesen, so langweilig empfand sie ihr Dasein. Egal. Morgen ist wieder ein Tag.
Heico Ebersbacher saß noch in seinem Büro und starrte vor sich hin. Die kalt leuchtenden Schirme der Überwachungsanlage interessierten ihn nicht.
Dieses Miststück!, dachte er. Das war jetzt das vierte Mal, dass sie so unverfroren Schnaps geklaut hatte. Marke und Produkt waren ihr offenbar egal, Cognac, Whisky, Gin – anyway. Aber der Preis schien wichtig zu sein. Je höher, desto besser. Und die hochpreisigen Destillate standen natürlich im direkten Fokus der Kamera. Wodka Gorbatschow und den Billig-Grappa hätte sie unbeobachtet klauen können, aber offenbar war sie eine Feinschmeckerin. Oder sie verkaufte das Zeug weiter. Aber wenn schon, warum dann so auffällig? Brauchte sie den Kick?
Ebersbacher kannte das ganze Spektrum der Kaufhausdiebe. Die Jungspunde, die hier ihre Mutproben abliefern mussten, um in die Gang aufgenommen zu werden. Die Kleptomanen, die nicht anders konnten. Die Alkoholiker ohne Einkommen, die auch nicht anders konnten. Die werbungsgeschädigten Image-Klauer, die nur teure Markenartikel haben wollten, um im gesichtslosen Konsumentenmeer obenauf schwimmen zu können. Die Typisierungsliste war lang, und es gab Mischformen. Zum Beispiel die jugendlichen Möchtegerngangster am Rande der Alkoholsucht, die nur Jack Daniel's aber niemals Jim Beam klauten. In Discountern waren deshalb solche In-Marken unter Verschluss. Die Diebe waren die gleichen Fuzzies, die auf der Strasse Bier aus Flaschen soffen. Aber nur Augustiner Hell, weil das angesagt war. Corona, diese mexikanische Kopfschmerzplörre? Schon längst wieder out. Dagegen Jägermeister, dieser Altherren-Magenbitter – durch eine geniale Marketingstrategie weltweit ein Must-drink mit weiter steigendem Umsatz. Heico Ebersbacher schüttelte den Kopf und konzentrierte seine Gedanken wieder auf die Schnapsdiebin. So richtig passte die in keines seiner Diebesschemata. Sie war keine Edelklamottentussi. Definitiv nicht. Okay, der Mantel war Arbeitskleidung, um das geklaute Zeug besser wegschaffen zu können. Aber auch sonst: Schuhe, Haare, Hose – alles, was er von ihr sah, war – normal. Nur ihr Gesicht nicht und ihre Augen nicht, soweit er das aus der Ferne beurteilen konnte. Er ordnete seine abschweifenden Gedanken und grübelte weiter. Kleptomanin? Das passte überhaupt nicht. Seine Diebin litt keinesfalls unter einer Impulskontrollstörung. Kleptomanen klauen alles, was ihnen gerade unter die Finger kommt. Teuer oder billig, das ist völlig egal. Oft wird das Diebesgut nach der Tat sogar weggeworfen. Jugendliche Gang? Dafür war sie mindestens fünf Jahre zu alt. Blieb noch Alkoholikerin. Aber eine, die es gewohnt war, teuren Stoff zu schlürfen. In der Rechten den Cognac-Schwenker oder Whisky-Tumbler, in der Linken die edle Zigarettenspitze, umringt von einer Horde Snobs in einer angesagten In-Bar, die in elaboriertem Code vorgebrachte allgemeine Plattheiten für tiefsinnige Gedanken halten. Dann plötzlich: Aktiencrash, Fehlspekulationen, l'argent perdu. Pleite. Aber seinen Style pflegt man weiter. Promi-Alkoholismus? Nein, nein, das passte auch nicht. Ihr Gesicht passte nicht dazu, ihre Augen schon gar nicht. So sieht keine aus, die an der Flasche hängt und schon gar nicht eine Drogenabhängige, die das Zeug vertickt, um an Stoff zu kommen. Es passt eher zu einer einsamen, aber armen Frau, die sich ab und zu die Welt gesittet schön trinkt. Plötzlich empfand Heico Ebersbacher Mitleid mit ihr. Mitleid war ein Begriff, den er sich zugestehen konnte. Er hatte schon öfter einige der armen Menschen laufen lassen, obwohl ihn das seinen Job kosten würde, wenn es seinen Chefs zu Ohren käme. Aber hey, den dummen, pubertierenden Jungs würde er mit einer Anzeige ihre Zukunft versauen. Oder die Oma an der Armutsgrenze, die der verlockend dargebotenen, schweineteueren Edelsalami nicht widerstehen konnte – sollte er die vor allen Leuten bloßstellen? Am Samstag würde sie zum Beichten gehen und es bitter bereuen.
Keine Gnade hatte er mit organisierten Diebesbanden oder Spinnern, die ihre Taten als Revolution gegen den enthemmten internationalen Turbokapitalismus hochstilisieren wollten. Oder mit jugendlichen markenaffinen Label-Tussen, die auf Teufel-komm-raus in ihrer Peer-group mithalten wollten. Die brauchten einen Warnschuss, damit sie wieder auf den Boden kamen. Aber mit denen hatte er den meisten Ärger, da ihre Helikoptermütter immer mit einem Anwalt im Schlepptau angerauscht kamen, um ihr eigenes Erziehungsversagen zu vertuschen.
Eigentlich hasste Heico Ebersbacher seinen Job. Er hatte immer den alten Spruch im Ohr: Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant. Auf Diebe passte dieser Satz zwar so gar nicht, aber trotzdem.
Ebersbacher wollte immer weg. Weg von da, wo er war. Hinaus in die sprichwörtliche weite Welt. Eine Reise machen, zu sich selbst finden. Aber wie? Allein? Davor hatte er Angst. Und so ging er jeden Tag ins Nobel-Kaufhaus, um seinen Job zu machen.
Ebersbacher fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und betrachtete die Aufnahmen mit der Spirituosendiebin von vorn. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er hatte sie eben zum vierten Mal entkommen lassen. Es war eindeutig. Er hatte sich schon beim ersten Mal in sie verguckt. So richtig. Obwohl er in diesem Zusammenhang eigentlich keine Erfahrung und keine Ahnung hatte, was richtig war.
Stella Burger wollte sich einfach nur auf die Couch lümmeln und abschalten. Aber der Tag war hart gewesen. Fünfmal war sie heute gestellt worden. Vier Anzeigen wegen Ladendiebstahls und fünf Hausverbote. Die einzige Trophäe, die sie heute mit nachhause gerettet hatte, war die Flasche Camus Extra Elegance, die das hochprozentige Quartett auf ihrem Sideboard komplett machte.
Plötzlich klingelte es. Als sie öffnete, erkannte sie den Mann sofort. Es war der Detektiv vom Karstadt. Supi! Sie bat ihn herein, obwohl er außer einem gestammelten "Grüß Gott" noch nichts gesagt hatte. Er stapfte hinter ihr her, ließ sich in den angebotenen Sessel nieder und sah sich um. Und dabei erblickte er das gesammelte gestohlene Schnapsquartett auf dem Sideboard.
"Das …. das…"
"Ja, Kollege, das habe ich bei Ihnen geklaut!"
"Kollege?" Ebersbacher stand fast senkrecht im Sessel. "Kollege? Für was halten Sie mich?"
"Na ja, Sie haben mich nicht festgesetzt, mich nicht angezeigt. Ich wusste genau, dass Sie gerade vor den Bildschirmen sitzen. Warum also haben Sie nicht ihre Pflicht getan, und mich gestellt?" Heico Ebersbacher stammelte furchtbar herum.
"Äh, ja, Sie haben mir … leid getan, irgendwie. Ich wollte jetzt ja auch nur fragen, ob ich Ihnen helfen kann, ich kenn da jemanden bei den AA, äh, so, oder …"
Und so, wie der Blitz via Kamera bei Ebersbacher schon bei der ersten Aufnahme eingeschlagen hatte, so erwischte es nun auch Stella Burger. Sie sah Heico Ebersbacher an und fragte:
"Sie wollen mir helfen? Warum?" Ebersbacher stand auf, zog die Schultern zurück und sagte standhaft und klar:
"Weil ich mich in Sie verliebt habe." Stella Burger kostete es große Mühe, ruhig und vernünftig zu bleiben, und sie rang um Fassung, bis sie leise antworten konnte:
"Schau dir mal die Flaschen an. Ist eine davon geöffnet?" Ebersbacher drehte den Kopf und stotterte dann:
"Nein, äh, nein, aber …?
"Kein aber. Ich habe vorhin 'Kollege' zu dir gesagt. Du bist Kaufhausdetektiv, aber ich auch. Sogar bei derselben Security-Firma, wie du. Interne Ermittlung, sozusagen. Mein Job ist es, die Kollegen zu überprüfen, ob sie ihre Arbeit machen, oder ob sie etwa mit Ladendieben zusammenarbeiten. Oder auch, ob sie lieber auf dem Klo sitzen und mit ihren Handys spielen, anstatt zu arbeiten. Und du bist einer, den ich morgen an die Zentrale melden wollte, weil du mich viermal nicht angezeigt hast. Aber …"
"Aber?"
"Aber du hast mir einen verdammt guten Grund geliefert, es nicht zu tun! Ich mag meinen Job ebenso wenig, wie du, und so einen Kerl wie dich …"
Zwei Wochen später.
Es war ein alter, abgetakelter VW-Bus. Aber er war fahrtüchtig. Und er gierte danach, die Welt zu erobern. Fast so sehr, wie seine Insassen Stella und Heico, die mit ihm in die Sonne tuckerten …
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Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: BR. unter Verwendung eines Bildes von Gaby Eder / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2017
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