Salvatore Morini konnte sein Glück kaum fassen.
Er war Reporter der Boulevardzeitung La Vista, die zu Silvio Berlusconis Medienimperium zählte, und er brauchte dringend eine Story. Sonst wären seine Tage als Mitarbeiter gezählt, zumal er keinen festen Vertrag hatte. Eine gute Story, die ins Spektrum der Zeitung passte. Salvatore hasste seinen derzeitigen Job, er hasste das Schundblatt, er hasste seinen Besitzer Berlusconi, aber er hatte keine Wahl. Hier, im tiefsten Kalabrien, gab es als Arbeitgeber nur die Gazzetta oder die 'Ndragheta. Für ihn als Journalist war deshalb nur der Job bei der Zeitung akzeptabel. Aber woher die Story nehmen? Gegen die Mafia zu schreiben grenzte an Selbstmord, gegen die korrupten Lokalbeamten zu recherchieren ebenso. Seine Tage als Reporter in Kalabrien waren gezählt, wenn er keine gute Geschichte an Land zog. Doch diese Story marschierte gerade an ihm vorbei!
Salvatore Morini saß noch als letzter und einziger Gast vor der Fedora-Bar im Dunkeln, während von drinnen Tonio schon die Tür verschlossen hatte und die Rollläden herunter ließ. Salvatore setzte die Flasche Peroni an den Mund, schluckte den Rest des abgestandenen Bieres und wollte gerade aufstehen, als er auf der gegenüberliegenden Seite der sonst menschenleeren Strasse eine seltsame Prozession erblickte. Dunkel, sehr schemenhaft, aber für ihn doch klar erkennbar. Als er die Schattengestalten nach ihren Bewegungen, Gangmustern und Silhouetten differenzieren konnte, kamen ihm zwei davon sehr bekannt vor. Die eine, die ganz hinten ging, war eindeutig Jamila Odinga, eine Prostituierte, die er sehr gut kannte.
Sie war seine Lieblingswahl in dieser verdammten Stadt. Sie hatte eine gewisse Aura, die ihn ungemein ansprach, und sie wirkte, als wäre ihr Job eine Verlegenheitslösung, eine Bürde, die sie zutiefst anwiderte. Nach dem ersten Treffen, das für Salvatore sehr seltsam verlaufen war, hatte er sie immer wieder gebucht. Schon bei der ersten Begegnung hatte er gespürt, dass sie keine Prostituierte, sondern ein zutiefst unglücklicher Mensch war. Deshalb war er sehr häufig zu ihrem Standplatz gekommen, hatte sie zum Essen eingeladen, ist mit ihr in Bars gegangen, und sie hatten geredet. Nur geredet.
Jamila war eine intelligente Frau. In einer kenianischen Kleinstadt geboren, hatte sie Lesen und Schreiben gelernt und konnte bezaubernd über alles sprechen, was sie bewegte. Nur über ihre Arbeit nicht. Als Nutte war sie offenbar eine glatte Null. Salvatore war klar, woher die Striemen und blauen Flecken kamen, aber er sprach sie nicht darauf an. Er liebte die nächtelangen Gespräche und zahlte ihr neben ihrem Lohn, den sie sowieso an ihren Zuhälter abführen musste, immer noch mehr als das Doppelte obendrauf. Dass das für seine finanzielle Situation eine ziemliche Belastung darstellte, war ihm egal.
In der Dunkelheit konnte Salvatore ihr Gesicht nicht erkennen, denn es hatte eine Farbe wie Ebenholz, und ihre Kleidung hätte eher zu einer jungen, italienischen Mutter gepasst, die froh war, wenn sie sich überhaupt etwas Tragbares leisten konnte. Nicht das obszöne Nuttenoutfit. Doch ihr Gang verriet sie. Es war eindeutig Jamila Odinga.
Salvatore strengte die Augen an und versuchte, die anderen Personen zu identifizieren, aber auch deren Gesichter waren wie Schatten. Es waren alles Frauen. Schwarze Frauen. Und es lag auf der Hand, dass sie demselben Gewerbe nachgingen, wie Jamila. Und sie waren jung, denn sonst hätten sie der Person, die wie ein Leithammel mit langen, ausholenden Schritten vorne weg eilte, nicht so problemlos folgen können. Diese Person erkannte der Reporter sofort. Im schummrigen Schein einer einsamen, verdreckten Straßenlaterne leuchtete das Gesicht wie ein auf und ab hüpfender Vollmond. Der Rest des Körpers war durch eine schwarze Kutte nahezu unsichtbar. Padre Nicolo Pastera.
"Porco dio!", murmelte Salvatore, schaltete sein aufgemotztes Smartphone auf Fotomodus und drückte gefühlte hundert Mal auf den Auslöser, in der Hoffnung, dass ein verwertbares Bild dabei sein würde.
Die eilige Truppe verschwand in der nächsten Gasse, Salvatore sprang auf, überquerte die Strasse und rannte hinterher. Das ist ja nicht zu fassen!, dachte er. Ich danke dir, heiliger Francesco di Sales, Schutzpatron aller Journalisten! Ein katholischer Priester mit einer Horde Nutten im Schlepptau – nicht einmal die bigotten Mafiosi der 'Ndragetha' würden etwas dagegen haben, wenn er darüber schreiben würde. Im Gegenteil. Denn die Mitglieder der 'Ehrenwerten Gesellschaft' in Kalabrien gaben sich schon lange nicht mehr mit Zuhälterei ab. Zwanzig bis sechzig Euro pro Nutte und Nacht! Abzüglich der Kosten blieb da kaum was übrig. Sie rechneten jetzt in ganz anderen Dimensionen, seit sie an der Wallstreet und in dubiosen Gesellschaften wie der Deutschen Bank aktiv waren. Und sie hatten das Drogengeschäft der angeschlagenen sizilianische Cosa Nostra übernommen und überflügelten damit sogar die mexikanischen und kolumbianischen Kartelle. Also überließen sie das lächerliche Rotlichtgeschäft den afrikanischen Zuhältern, solange sie nicht störten. Aber für Berlusconis Schmierblatt würde es eine grandiose Geschichte werden. Magenschmerzen bekam Salvatore allerdings, wenn er an Jamila dachte. Er musste sie unbedingt heraushalten.
Vorsichtig spähte er in die Seitengasse und sah Jamila gerade noch nach rechts verschwinden. Wo wollte die Truppe hin? So lautlos er konnte rannte er durch die Gasse, und dann wurde ihm klar, wo das Ziel lag: Santa Margaretha.
Wow! Das kann doch nicht wahr sein!, dachte er. Der Pfarrer schleppt eine Horde Nutten ins Pfarrhaus um dort mit seinen Mitbrüdern eine flotte Orgie zu feiern! Ab-so-lu-ter Wahnsinn! Ein paar Bilder davon, eine reißerische Story dazu und seine Zukunft wäre gerettet.
Schnell huschte er die viuzza entlang, spähte über den Vorplatz zur Kirche am Campanile vorbei zum Pfarrhaus, doch dort war niemand zu sehen. Merda! Ein knarzendes Geräusch, das über den Platz schlich, lenkte seinen Blick zur Kirche zurück, und im Schummerlicht konnte er gerade noch erkennen, wie sich das Eingangsportal schloss.
Das kann doch nicht wahr sein!, dachte er wieder. Er traute es selbst dem verkommensten Pfaffen nicht zu, eine Orgie in der heiligen Kirche zu veranstalten und Padre Nicolo Pastera schon gar nicht. Oder doch?
Salvatore Morini holte tief Atem, hastete über den kleinen Platz und stieg die Stufen zum Portal hoch. Er sah sich verstohlen um. Nirgendwo in den umstehenden Häusern brannte Licht, kein später Passant war zu sehen, nur eine maunzende Katze rieb sich am Campanile. Vorsichtig öffnete er das Tor einen Spalt. Ein Schwall von Moder und Weihrauch, von Kerzenwachs und dem Geruch alter Leute drang heraus, aber hören konnte er nichts. Im Scheine weniger Altarkerzen lag das Kirchenschiff düster und leblos da wie eine altägyptische Gruft. Wo war die Gruppe abgeblieben? Der Gedanke an die Gruft ließ ihn erschauern. Sollten die wirklich so dreist sein und ihr obszönes Vergnügen in den Katakomben unter der Kirche stattfinden lassen? Wie pervers! Aber wo sonst sollten sie sein?
Salvatore Morini war einiges gewohnt. Als Reporter hatte er viel gesehen, viel erlebt. Aber das hier sprengte seine Vorstellungskraft. Vor allem, weil Jamila dabei war. Bisher hatte er es sich nicht eingestanden, aber jetzt, als die Abscheu so tief in ihn eindrang, wusste er plötzlich, dass er sich in sie verliebt hatte. Verliebt? Was für ein dämlicher, schwächlicher, blöder Begriff für das, was er gerade fühlte. Aber besser ein Ende mit Schrecken, als …
Salvatore zog das Tor weiter auf, zwängte sich hindurch und sorgte dafür, dass es sich geräuschlos wieder schloss. Im flackernden Kerzenlicht schlich er zur Treppe, die hinunter zur Krypta führte, tastete sich die seit dem Mittelalter von Millionen von Füßen ausgetretenen Stufen hinab, bog dann um einen scharfen Knick und lauschte. Und dann hörte er es. Als ehemaliger Ministrant und Italiener war er des Lateinischen soweit mächtig, dass er wusste, was die Worte bedeuteten, die er gerade hörte:
"Sicut dispérgitur fumus, dispergúntur, et sicut díffluit cera ante ignem, sic péreunt pecatóres ante Deum" –
Wie Rauch verweht, so verwehen sie, und wie Wachs vor dem Feuer zerfließt, vergehen vor Gott die Bösen.
Es war ein Psalm, der beim Rituale Romanum verwendet wurde. Beim Exorzismus.
Vorsichtig blickte Morini in die Krypta, und da sah er sie liegen. Flach auf dem Boden, die Arme ausgestreckt, die Hände gefaltet. Auf den Stufen des kleinen Altars mit den qualmenden Kerzen stand Pater Nicolo Pastera und besprühte zu seiner monotonen Rezitation der Exorzismusriten die Prostituierten mit Weihwasser.
Salvatore schoss aus dem Schatten einige Fotos. Dann zog er sich zurück, floh aus der Kirche, rannte über den Platz und versteckte sich hinter einem Vorsprung einer Bauruine.
Während er den Eingang des Gotteshauses beobachtete, versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Sicher war das eben ein ganz perverses Vorspiel zu der bald folgenden Orgie gewesen. Die Nutten mussten sich sozusagen einem Reinigungsritual unterziehen, bevor sie sich den illustren Gästen, die wohl bald auftauchen würden, widmen durften. Seine Gedanken spielten verrückt. Sollte er die Carabinieri rufen? Was sollte er ihnen sagen? Die würden ihn in eine Anstalt bringen, ohne einen Blick in die Kirche zu werfen. Und vor allem: wie konnte er Jamila helfen? Wollte sie überhaupt Hilfe?
Etwa zehn quälende Minuten waren vergangen, als er das Kirchenportal knarren hörte. Als erste trat Jamila heraus, gefolgt von den anderen Mädchen. Sie versammelten sich mitten auf dem Platz, winkten dem Pater zu, der die Kirche verschloss und zum Pfarrhaus ging. Wie verändert sie waren! Salvatore traute seinen Augen nicht. Sie lachten, hielten sich an den Händen, schnatterten, als hätte jemand einen gewaltigen Stein von ihnen gewälzt. Erst als aus einem Haus ein Mann brüllte: "Serenità, cazzo!" umarmten sie sich und verschwanden in verschiedene Richtungen.
Salvatore folgte Jamila völlig verwirrt. Kurz vor der Einmündung der Gasse in die Hauptstrasse hatte er sie erreicht und sprach sie an. Wie vom Blitz getroffen erstarrte sie, drehte sich dann um und flüsterte:
"Salvatore! Are you mambo, mambo? Why erschreckst du mich so, mio cuore?" Salvatore Moretti hatte so oft, so lange schon mit ihr geredet, dass er ihren Slang aus Pidgin-Englisch, gespickt mit Brocken aus Swahili und Italienisch verstand, als wäre sie ein Mädel aus dem Dorf seiner Jugend.
"Jamila! Was… was war das eben, was habt ihr da gemacht, in der Kirche?" Sie hob die Hand und legte sie ihm auf die Brust.
"Ich bin jetzt frei, Salvatore, verstehst du? Jetzt muss ich mich nicht mehr verkaufen. Ich hole mir morgen meinen Pass und gehe zurück in meine Heimat. Ich hätte dir geschrieben, du warst immer gut zu mir, aber ich muss weg. Versteh' mich bitte!" Sie drehte sich um und war in der Dunkelheit verschwunden, bevor Salvatore reagieren konnte. Seine Gedanken rotierten.
Frei? Zurück in die Heimat? Er wusste, wie elend hier die schwarzen Prostituierten leben mussten, weshalb er auch nicht verstehen konnte, warum sie überhaupt gekommen waren. Und warum immer noch welche kamen, heute im Zeitalter von Smartphone und Internet. Egal, wie arm sie in Afrika waren, egal, wie einfach sie dort lebten - dieses Dahinvegetieren unter der Knute der schwarzen Zuhälter konnte doch keine Alternative sein! Noch nie hatte Morini darüber nachgedacht, bis er Jamila kennengelernt hatte. Und ja, er konnte verstehen, warum sie wegwollte. Aber warum erst jetzt? Und wie wollte sie das schaffen? Der Zuhälter würde sie eher erschlagen, als ihr den Pass zurückgeben.
Ein dicker Kloß lag in Salvatores Magen, drückte auf sein Herz, erstickte sein Gemüt. Merda, merda! Er kickte eine leere Flasche über die Strasse und verursachte damit einen Höllenlärm in der lähmenden Stille. Egal, egal.
Zuhause legte er sich aufs Bett und starrte die Bilder auf seinem Smartphone an.
"Das ist echt surreal!", rief er und lachte wegen des ungewollten Wortspiels trocken auf. Echt surreal. Die seltsame, dunkle Prozession durch die düsteren Gassen, die makabere Szene in der Krypta; er meinte, den Weihrauch noch zu riechen, den Singsang, die Worte des Rituale Romanum noch zu hören. Aber er hatte keine wirkliche Story, die er seinen Chefredakteur verkaufen konnte, nichts, was seinen Job erhalten würde. Nochmals merda! Aber es war jetzt nebensächlich. Jamila war weg, und auch er würde bald diese verfluchte Stadt verlassen. Er stand auf, goss sich ein großes Glas Vecchia Romagna ein, leerte es in einem Zug, warf sich angezogen aufs Bett und schlief ein.
Als er wieder erwachte, hatte er einen schweren Kopf aber auch einen Plan. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Er konnte nicht anders. Padre Nicolo Pastera.
Der Mesner von Santa Margaretha wies nur mit dem Kopf in Richtung Sakristei, und Salvatore platzte ohne zu klopfen hinein.
Der Pater saß an einem Schreibtisch und blickte überrascht hoch.
"Salvatore Morini!", rief er. "Schön, dass du dich einmal hier blicken lässt!" Salvatore bekam rote Ohren. Ja, er kannte den Pater, war zusammen mit ihm in der Scuola Primaria gewesen. Aber danach hatten sich ihre Wege getrennt – bis heute.
"Ciao, Nicolo, tut mir leid, dich zu belästigen, aber schau dir das doch mal an." Er schaltete sein Smartphone ein und hielt es dem Pater vor die Nase. Und der wurde blass. So blass, wie er schon als Kind immer gewesen war, wie sich Salvatore jetzt zu erinnern glaubte. "Ein Pfarrer mit seinen zwölf Aposteln, äh, Prostituierten. Es tut mir leid, aber es ist mein Job. Ich muss dich fragen, was da abgelaufen ist, alter Freund."
"Alter Freund? Na ja, setz dich. Es ist kompliziert."
"Ich hab' Zeit, nur los."
Es war eine absurde Situation.
Salvatore saß im Rest eines Chorgestühls aus dem 15. Jahrhunderts und der Pater in seinem modernen Bürostuhl direkt vor ihm.
"Ich biete dir jetzt nichts zu trinken an, wir haben uns ewig nicht mehr gesehen, und du legst bestimmt keinen Wert auf alte Zeiten und Small Talk. Also lass mich gleich auf den Punkt kommen. Ich kenne das Revolverblatt La Vista, für das du arbeitest, deshalb gleich klipp und klar: Die Szene, die du aus dem Hinterhalt fotografiert hast, hat nichts mit sexuellen Abnormitäten zu tun. Aber sie ist trotzdem irgendwie … pervers." Der Pater fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, während Salvatore abwartete. Dann fuhr er fort: "Das, was du gesehen hast, war eine abgespeckte Form eines Exorzismus." Er stockte kurz und stellte dann eine Frage: "Was weißt du über Voodoo?"
"Voodoo? Na ja, wenig. Das ist doch so ein südamerikanischer Mummenschanz mit murmelnden, Trommel schlagenden, Schnaps spuckenden Gestalten, die ihren Klienten Geld abknöpfen. Irgend so eine seltsame Art von Aberglauben, oder nicht?" Padre Pastera holte Luft und antwortete:
"Ja, so irgendwie. Aber ursprünglich handelt es sich um eine Naturreligion aus Afrika, die dort noch immer sehr, sehr tief verwurzelt ist, ja sogar immer mehr zunimmt. Voodoo hat geschätzte 60 Millionen Anhänger, die Fetischmärkte in Afrika sind größer als so mancher Supermarkt. Das, was du eben beschrieben hast, der Quatsch in der Karibik oder in Brasilien ist ein abgeschmackter Überrest, der einmal von Sklaven mitgebracht und dann reichlich pervertiert worden ist. In Afrika wird Voodoo gelebt. In Afrika glauben sie wirklich daran. In Afrika werden Frauen aus den Dörfern gejagt oder totgeschlagen, weil man glaubt, dass es Hexen sind. In Afrika herrschen im 21. Jahrhundert teilweise noch Zustände, wie bei uns im Mittelalter. 300 Jahre Missionsarbeit haben dort erschreckend wenig bewirkt – sprich mal mit meinen Mitbrüdern dort unten."
"Herrgott Nicolo!" Salvatore richtete sich auf und zeigte mit dem Finger auf den Pater. "Du schwafelst von Afrika und vom Mittelalter, und in deiner Kirche praktizierst du den Exorzismus, ein Ritual, das aus einem noch finsteren Mittelalter stammt als Voodoo! Geht's noch? Und wozu?"
"Ja, Salvatore, stimmt, du hast völlig recht, aber gib mir die Chance, es dir zu erklären!"
"Nur zu, da bin ich schon sehr gespannt!" Salvatore Morini lehnte sich ins Chorgestühl zurück und starrte den Pater an.
"Salvatore, du hast richtig erkannt, es waren zwölf Prostituierte, die ich zu diesem Ritual bewegen konnte." Der Pater hob die Hand, um einen Einwand seines früheren Schulfreundes zu unterdrücken. "Als Reporter hättest du dir aber schon lange Gedanken machen sollen, warum sich diese Frauen einer so unsäglichen Tätigkeit widmen und dabeibleiben, obwohl sie dabei zugrund gehen." Er hob wieder die Hand. "Der Grund ist Voodoo. Hier, in der westlichen Welt, glauben die meisten Menschen nur noch an die Götzen namens Konsum, Geld, Kapital, Sex, Macht, dicke Autos und vielleicht noch Fußball. Welche wirklichen Werte haben wir denn noch zu bieten? In Afrika ist das noch anders. Der Urglaube an die Naturwesen, an Geister und Dämonen ist trotz aller Aufklärungsversuche noch immer sehr stark vorhanden. Und die Voodoopriesterinnen – meistens sind es Frauen – haben das Wunder vollbracht, christliche Legenden und Symbole in ihre Rituale einzubauen, zu synkretisieren und die Bevölkerung damit zu unterdrücken. Ja, genauso wie meine Vorgänger im Mittelalter. Und skrupellose Banden nutzen das brutal aus. Sie versprechen den Mädchen gute Jobs als Hausangestellte in Europa, versprechen ihnen, dass sie viel Geld nachhause schicken und ihre Familien unterstützen können. Auch die Familie glaubt daran und sammelt Geld für die Reise. Aber bevor es losgeht, werden sie zur Voodoopriesterin oder Voodoozauberer gebracht, um den Pakt zu bekräftigen. Dort werden ihnen als Opfergaben Scham- und Haupthaare abgeschnitten, manchmal sogar ein Glied eines Fingers oder eines Zehs um sozusagen Gott Bondyè oder seine Hilfsgeister Loa wohlgesinnt zu stimmen. Und ihnen wird gesagt, dass sie ihren Führern oder ihrer 'Madam' bedingungslos vertrauen und gehorchen müssen, vor allem in dem fernen Land, zu den sie aufbrechen. Denn diese Führer hätten Kontakt zu den Göttern und würden alle zum Guten wenden. Und dann kommen die armen Mädchen übers Meer, wenn sie dabei nicht ertrunken sind. Sie werden nie registriert werden, werden nie einen Asylantrag stellen, denn sie gehen sofort in den Besitz eines Zuhälters über. Und der sagt ihnen, was Sache ist. Die Schleusung hätte 40 oder 50000 Dollar gekostet, die sie jetzt verdienen müssten, und sie sollten bloß nicht auf die Idee kommen, abzuhauen, mit jemand zu telefonieren, oder sonst etwas. Denn das hätte zur Folge, dass mittels der Pfänder auf denen jetzt ein Voodoozauber läge, ihnen selbst und ihren Familien ganz schreckliche Dinge zustoßen würden. Und die Mädchen glauben so fest daran, dass nichts sie umstimmen kann. Sie haben keine Chance. Pass weg, Identität weg, Heimat weg, alles weg. Und über ihnen die drohende Rache Bondyès oder seiner Geister und Dämonen." Salvatore schüttelte vor Entsetzen den Kopf, aber sagte nichts, bis der Pater fortfuhr: "Wir kennen alle die lächerlichen Rituale der Voodoo-Priester mit ihren Püppchen, in die sie Nadeln stechen, mit den halbverkohlten Hühnerbeinen, lebend abgebissenen Fledermausköpfen, qualmenden Zigarren und der Schnapsspuckerei und machen uns kopfschüttelnd und wohlig schaudernd darüber lustig. Aber wenn die südafrikanische Regierung Duschen gegen AIDS empfiehlt, statt Kondome und Medikamente, und wenn alle dreißig Sekunden ein Kind vergewaltigt wird, die Hälfte davon unter sieben Jahre alt, weil die Männer glauben, dass das gegen die Ansteckung hilft, dann könnte ich schreien vor Wut und Zorn auf meinen Gott, der nicht strafend hernieder fährt, wie im Alten Testament, glaub mir. Giraffen sterben aus, weil Voodoo sagt, dass deren Hirn gegen die Geißel hilft, da stehen sie den Chinesen im Aberglauben in nichts nach. Das klingt jetzt so überheblich, ich weiß. Wir aufgeklärten Europäer schütteln die Köpfe über so viel zerstörerischen Blödsinn. Aber sind wir besser? Nein, zum Teufel, entschuldige. Du als Journalist weißt das doch! Unsere verfluchte Kolonialpolitik hat die Fluchtursachen doch hervorgebracht. Skrupellos haben unsere Vorväter den Kontinent ohne Rücksicht auf Ethnien, Religionen, oder Stammesstrukturen unter sich aufgeteilt, und noch heute beuten wir Afrika skrupellos aus, ohne …"
"Ja, ja, ich stimme dir zu, Nicolo. Aber das interessiert die Leute nicht. Sie wollen kein Geschichtsbuch aufschlagen oder über Kolonialpolitik googeln. Die meisten denken nur im Hier und Jetzt. Und sie sehen die Prostituierten an jeder Ecke und werden sich fragen, was ein katholischer Priester mit denen in der Krypta von Santa Margaretha anstellt. Das interessiert sie, das macht sie heiß, gleich nach dem Listenplatz von Juventus Turin."
"Ja, du hast recht, ich bin abgeschweift. Ich bin so verbittert, ich bin so … Pass auf, kurz und bündig. Die Prostituierten sind in der Hand der Zuhälter. Sie sind im Voodoo-Kult verfangen und glauben alles, was ihnen ihre 'Führer' sagen. Man kann kaum mit ihnen darüber reden. Also sind vor einiger Zeit einige Priester, darunter auch ich, auf die Idee gekommen, dem Voodoo-Zauber die Stirn zu bieten, und ein ebenbürtiges, nein ein überlegenes Ritual anzubieten, das die armen Kreaturen von dem Fluch befreit. Der Exorzismus. Jaja, ich weiß, das ist verrückt, und der Vatikan würde uns sofort exkommunizieren, wenn das publik werden würde. Aber es wirkt! Wir können nicht in kurzer Zeit erreichen, was Missionsarbeit in Jahrhunderten nicht geschafft hat, aber wenn ich nur ein paar dieser armen Mädchen mit meiner Zeremonie von ihrer dunklen Kette befreien kann, hat es sich schon gelohnt. Exorzismus gegen Voodoo – ja, das ist krass, das ist nicht glaubenskonform, aber, Himmelhergottnochmal – menschlich! Und ich bin ja nicht allein. Immer mehr meiner Brüder wagen diesen Weg. Allerdings erreichen wir nur die christlich getauften Mädchen. Aber ich habe mich mit dem Imam der nächsten Moschee in Verbindung gesetzt. Und der findet die Idee großartig. Er sucht nach einem Gegenritual in seinem Glauben, das stärker ist, als Voodoo, und das ist großartig. Aber wenn du jetzt einen Artikel darüber schreibst, werde ich zum Bischof zitiert, und was mit dem Imam passiert, will ich mir gar nicht ausmalen. Bitte, Salvatore, mach es nicht kaputt!"
Salvatore Morini stand auf, trat ans Fenster und blickte stumm in den Kirchengarten hinaus. Dann drehte er sich um, klopfte Padre Pastera auf die Schulter und sagte:
"Wir sollten uns mal auf ein Glas Wein treffen, Nicolo." Dann verließ er die Sakristei.
+
"Letzter Aufruf Flug Alitalia AZA737 nach Nairobi!"
Salvatore Moretti verstaute seinen Rucksack im Gepäckfach, setzte sich und legte den Sicherheitsgurt an.
Dann zog er die Postkarte aus der Tasche und las sie zum x-ten Mal:
Again zu haus ich bin, alles okay geregelt, können du komme? Per favore!! Jamila!
Und dann las er noch einmal die alte Meldung der Nachrichtenagentur ANSA:
Monte Voccara, Kalabrien. Gestern wurde ein vermutlich afrikanischer Zuhälter in seiner Wohnung tot aufgefunden. Offenbar ist er ohne Fremdverschulden gestürzt und hat sich das Genick gebrochen. Seine Wohnung war allerdings durchwühlt wurden, teilte die Polizei mit. Mehrere Pässe von kenianischen Frauen wurden aufgefunden, die auf einer Liste verzeichnet waren und jetzt den Frauen zurückgegeben werden sollen. 12 Pässe, die auf der Liste verzeichnet waren, fehlen allerdings. Ebenfalls wurde kein Bargeld gefunden. Die Staatsanwaltschaft sieht aber keinen Grund, Ermittlungen aufzunehmen, da kein Gewaltverbrechen vorliegt. Ein kurioser Nebenbefund allerdings: Auf dem Schrank in der Toilette fanden sich zwölf kleine Voodoo-Püppchen, in deren Genick jeweils eine Nadel steckte.
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Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: unter Verwendung eines Bildes von Kurt Michel, pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Allen Frauen, die Opfer von Ausbeutung, Gewalt und Aberglauben sind