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Der Frieden von Gomra

 

 

 

 

 

Die Söhne kamen zurück vom Feld der Ehre. Geschlagen,

ohne Tritt.

Die Alten fluchten, die Frauen klagten.

Der Waffenschmied entfachte wieder das Feuer.

Für neue Schwerter, neue Speere, schärfer, als je zuvor.

 

 

Nebel zog auf in den Bergen von Gomra, schlich hinunter in die Ebene, umwaberte die Höfe, die Katen, die Große Halle, die Pferche und den Hügel mit den uralten Steinen.

Der Winter war im Anzug, die Scheunen wohl gefüllt, die Pferde, Rinder und Schweine gut genährt; das Holz war gespalten, der Met gärte in den Fässern.

Doch nicht nur Nebel umschlich Gomra, sondern auch Furcht. Kalte, lähmende Furcht. Und gleichzeitig Hass. Uralter, nie versiegter Hass.

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Die Späher hatten es gemeldet. Am anderen Ende der Ebene, gegen den Nordstern hin, hatten sie die Feinde gesichtet – stark, kampfeslüstern und gierig nach dem Met, nach dem Korn, nach den Frauen und nach Blut. Es waren die Kämpfer des Zandokkar-Clans, die da heranrückten, Todfeinde seit alters her. Sie wollten Vergeltung, Rache und Genugtuung für den Raub der Rinder, für den Tod zweier Hirten im Sommer und für die Schmach. Vor allem wieder für die Schmach, wie schon so oft.

Keiner wusste, wann es angefangen hatte, keiner wusste mehr, warum. Aber jedem war klar, wer daran Schuld war: die anderen.

Und so zogen sie gegeneinander, Generation um Generation, wieder und wieder, dass die Frauen kaum mit dem Gebären nachkamen.

Doch dieses Mal war Fürst Segomaros von Gomra sicher, dass der bevorstehende Kampf der letzte wäre. Sie würden siegen, ein für alle Mal und tanzen auf den Leichen ihrer Feinde. Die Tage der Schande würden sie tilgen, die ihr Volk immer wieder hatten erleiden müssen, sie würden ihre Ahnen rächen, deren Gebeine Schicht auf Schicht auf dem ewigen Schlachtfeld am Fuße des Hügels zusammen mit denen der erschlagenen Feinde verrotteten, und sie würden die Tränen der Frauen mit Blut aufwiegen.

Und die Zuversicht des Fürsten übertrug sich auf die Kämpfer in der Großen Halle. Sie ließen ihn hochleben, lärmten, schütteten Met in sich hinein und schlugen mit den Schwertknäufen auf ihre Schilde.

Denn sie wussten, worauf sich die Zuversicht des Fürsten gründete: auf den Druiden Fionnlagh vom Erlenfluss, den die Götter ihnen geschickt hatte.

Seit vielen Monden schon lebte Fionnlagh unter den Dächern des Volkes von Gomra. Er heilte Kranke, sprach Recht, wie es alter Brauch und Sitte war und verrichtete die Opferrituale. Er hatte ihr volles Vertrauen gewonnen, und schließlich wagte es Fürst Segomaros, ihn um Hilfe gegen die Urfeinde zu bitten. Fionnlagh antwortete nach geraumer Bedenkzeit, dass er den uralten Streit mit dem Volk der Zandokkar in einer letzten Schlacht für immer beenden werde. Mächtige Verbündete habe er, die am Hügel mit den uralten Steinen zu ihnen stoßen würden, wenn es soweit wäre. Und jeder aus dem Volk von Gomra wusste, dass der Druide die Wahrheit sprach, denn der Hügel barg Unheimliches, Fremdes, Bedrohliches. Schon die Großmütter und wiederum deren Großmütter hatten die Kinder vor dem Hügel gewarnt. Jeder spürte die verborgene Kraft, und weder Jäger noch Ziegenhirten, weder Beerensammlerinnen noch Händler wagten je, den Hügel mit den uralten Steinen zu betreten.

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Als der Morgen graute, waren alle bereit. Sie hatten die Schwerter gegürtet, die Brustschilde gebunden und die Kurzspeere fest im Griff, als der Fürst auf seinem Streitross den Arm hob und in die Ebene hinaus zeigte. Die Ritualhörner gaben das Signal, und dann ritt Segomaros los, an seiner Seite der Druide auf seinem Schimmel, gefolgt von Kämpfern zu Fuß. Die Reiter bildeten zusammen mit den Streitwagen den Schluss des Heereszuges. Zurück blieben nur Frauen, Kinder und Alte. Diese glaubten sich sicher unter der Obhut der Göttin Nanusvelta, der Schützerin der Wohnstätten.

 

Die Sonnenstrahlen krochen gerade über den Hügel mit den uralten Steinen, als sie die Staubwolke sahen, die von Norden kam. Bald würden sie da sein, die Feinde. Unruhe machte sich breit, denn ihre Zahl erschien gewaltig.

Und dann standen sie sich auf Pfeilschussentfernung gegenüber, und der Mut der Krieger sank, als sie die tatsächliche Übermacht der Feinde erkannten.

Doch als sie den Druiden vor sich auf seinem weißen Pferd sahen, fassten sie wieder Zuversicht. Der Klang der Hörner und das rhythmische Hämmern der Schwerter auf den Schilden steigerte sich, und alle waren bereit, sich in den Kampf zu stürzen und ihr Leben zu geben - im sicheren Bewusstsein, dann sofort hinüber in die ersehnte Anderswelt zu gelangen. Sie konnten schließlich das Zeichen des Fürsten zum Angriff kaum noch erwarten. Doch dieser zögerte und blickte den Druiden an.

Fionnlagh vom Erlenfluss erwiderte den Blick nicht, sondern schnalzte leise mit der Zunge. Langsam ritt er auf das leere Feld zwischen den Kriegsparteien hinaus. Der Lärm verstummte schlagartig, es wurde totenstill. Kein Vogel war mehr zu hören. Dann stieß Fionnlagh einen Schrei aus, reckte die geballte Faust in den Himmel, drehte sein Pferd Richtung Hügel und schrie:

"N-ghaah! Yagshub-ghaah! Allenghu-ghaah!"

Alle blickten zum Hügel. Da spaltete sich der Boden an seinem Fuße, und die Krieger erstarrten vor Entsetzen. Die Pferde stiegen hoch und warfen ihre Reiter ab, die Kampfwagen kippten, und aus den Kehlen drang ein ersticktes Stöhnen.

Was da aus dem Boden quoll, überstieg alles an Grauen, das die Kämpfer sich vorstellen konnten.

Eine graue, wabernde Masse von menschenähnlichen Gespenstern bewegte sich auf die Kampflinie zu. Tote, Halbverweste, blanke Gerippe mit schlotternden, vermoderten Fetzen bekleidet, Schwertern in den Knochenhänden, mit rostigen Helmen auf den scheußlichen Totenschädeln. Graue Fleischfetzen hingen wie Lumpen an ihnen herab, Gedärme baumelten von Knochen, und zerschlissene, verschimmelte Fahnen flatterten zwischen ihnen in einem Wind, der gar nicht wehte.

Aber das Grauenhafteste an diesem Höllenheer war der unbeschreibliche Verwesungsgestank, der wie der Geruch der Hölle von ihm ausging.

Die Krieger sanken auf die Knie und murmelten Gebete, wälzten sich auf der Erde und rissen sich vor Abscheu an den Haaren.

Doch dann wandte sich der namenlose Wahnsinn nach Norden. Ein furchtbares Geschrei hob an, der Clan der Zandokkar ergriff panisch die Flucht, ohne Formation, ohne Ziel. Weg, nur weg von dieser Höllenbrut. Alles stob, kroch, rannte, stolperte davon, so schnell es nur ging, und noch während der Flucht färbte das Entsetzen ihre Haare schneeweiß.

Jetzt erst erkannten die Krieger von Gomra, dass das furchtbare Geisterheer ihre Feinde von ihnen fortjagte.

Und sie erhoben sich aus dem Staub, reckten die Schwerter und ließen ein alles übertönendes Siegesgeschrei erschallen. Auch Fürst Segomaros brüllte siegestrunken und wollte Fionnlagh danken. Doch der Druide war verschwunden.

Die Krieger fielen sich gegenseitig in die Arme, lachten und weinten und versicherten sich gegenseitig, was sie gesehen hatten. Und einer redete dann plötzlich von den Standarten, die die Geister mit sich trugen.

"Habt ihr gesehen? Es waren die Flaggen unserer Ahnen, die alten Kriegsstandarten! Es waren die Geister unserer Vorväter, die hier gefallen sind!"

"Ja, aber ich habe auch ebenso viele feindliche Fahnen gesehen", rief ein anderer. "Und, und … ich sehe sie schon wieder! Da, da! Bei Teutates, sie kommen zurück!"

Und er hatte recht. Der wieder zunehmende Gestank ließ keinen Zweifel aufkommen. Auf breiter Front kam die Geisterarmee in Angriffsformation auf sie zu. Und sie sah noch teuflischer und grauenhafter aus, als zuvor. Blanke Mordlust lag auf den grinsenden Totenschädeln, und die eingelegten Speere, die erhobenen Schwerter und die flatternden, schimmligen Wimpel der beiden Clans ließen keinen Zweifel aufkommen. Wie zuvor ihre Feinde rannten nun die Krieger Gomras in alle Richtungen davon. Nur die nicht, die vor blankem Entsetzen entseelt zu Boden sanken. Einige erreichten ihr Oppidum, und auch die Frauen, Kinder und Alten ergriffen nun die panische Flucht in alle Himmelrichtungen. Und keiner wusste, ob er den anderen jemals würde wiedersehen. Aber das spielte keine Rolle mehr.

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Oben auf dem Hügel saß zwischen den uralten Steinen Fionnlagh vom Erlenfluss, der Druide, auf seinem weißen Pferd, blickte auf die Ebene hinunter und lachte leise. Er hatte noch die Verwünschungen des Fürsten im Ohr, die ihn aber nicht berührten.

"Ich habe doch nur das endgültige Ende der ewigen Fehde versprochen, nichts weiter", kicherte er, schnalzte mit der Zunge, wendete seinen Schimmel und ritt davon.

 

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Seit jener Zeit herrscht Friede in der Ebene des Hügels mit den uralten Steinen.

Und jeder, den es heute zufällig in diese verlassene Gegend verschlägt, spürt das ruhige Rauschen der Natur, hört das fröhliche Gezwitscher der Vögel, das geschäftige Summen der Bienen, das Wispern der verkümmerten Birken und freut sich über die Schönheit des Landes.

Doch wenn abends die Nebel aus den Bergen von Gomra in die Ebene ziehen, wird sich das Grauen in die Seele des Reisenden schleichen, und er wird die Flucht ergreifen, weg, nur weg von diesem grauenhaften Ort.

Und er wird keinem erzählen, dass er je dort gewesen war.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.11.2016

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