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Die Nacht des Schakals

 

 

 

 

 

Still ist es geworden, ganz still. Nur manchmal ein kaum vernehmbares Rieseln des Sandes, wenn eine Brise über den Kamm der Düne streicht. Ruhig liegt das Meer da, nur winzige Wellen schwappen unhörbar an den Strand. Im Wasser spiegelt sich ein blutiger Sonnenuntergang. Der Wind ist kühl, aber die Sanddünen strahlen noch die Tageshitze ab. Noch.

Miriam Zinner weiß, dass es nachts in der Wüste sehr kalt wird, aber das ist ihr egal. Das Auto, das sich am Fuß der Düne festgefahren hat, wird kaum Schutz bieten. Der Motor hat nach vergeblichen Startversuchen offenbar den Geist aufgegeben; nicht einmal ein Klackern des Anlassers mehr. Auch das ist ihr egal. Miriam seufzt. Es ist vorbei. Endlich. Sie sitzt im Sand des Dünenabhangs und blickt irgendwo hin. Oder nirgendwo. Es ist egal.

 

*

 

Die letzten Wochen waren schlimm gewesen für Miriam Zinner. Ständiger Schichtdienst in der Klinik, Überstunden um Überstunden, ein neuer Leiter, dem nur die wirtschaftliche Performance am Herzen lag und die drohende Übernahme durch den ULTRA.medics Konzern als Menetekel an der Wand. Und dann ihr Mann. Einser-Jurist im Staatsdienst, der irgendeinem Referat in irgendeinem Tintenpalast vorstand.

"Schatz", dozierte er immer wieder, wenn sie von einer Schicht geschafft nach Hause kam, "was redest du denn da von Stress? Wenn man im Schützengraben liegt und einem die Granaten um die Ohren fliegen, das ist Stress!" Dieser Idiot. Saß hinter seinem Schreibtisch und schob manchmal Papierchen hin und her. War nicht mal beim Bund gewesen – nicht aus Überzeugung, sondern untauglich – und schwafelte über Schützengräben. Ja, der kannte sich wohl aus mit Stress. Miriam sagte nichts dazu. Das hätte sowieso nichts geändert. Ein Tintenpalastbewohner eben. Auf diese Bezeichnung war sie gekommen, als sie einen Reisebericht über Namibia las. Vorher hätte sie nicht einmal direkt sagen können, wo Namibia überhaupt liegt. Irgendwo in Afrika. Ehemals Deutsch-Südwest. Nach 25 Jahren deutscher Kolonialherrschaft und folgenden 70 Jahren als de-facto-Teil von Südafrika, wurde Namibia erst 1990 ein unabhängiger Staat. Miriam Zinner bekam immer eine Wut, wenn sie an den Kolonialismus dachte. Da machten sich irgendwelche Leute auf den Weg in irgendeinen anderen Kontinent, und dann sagten sie den Menschen dort: "Das Land gehört jetzt uns. Verpisst euch oder seid uns untertan oder wir schlagen euch tot! Aber vorher machen wir euch noch zu guten Christenmenschen." Miriam konnte es nicht fassen, dass Erbsenstaaten wie die Niederlande oder Belgien, die selbst erst seit ein paar Jahren existierten, sich zu Herren der neuen Welten aufspielten und jetzt über ein paar Flüchtlinge jammern, die doch die nachgeborenen Opfer ihrer Kolonialbrutalität sind. Sie dachte immer, dass Deutschland zum Glück erst sehr spät begonnen hatte, sich mit den anderen Nationen um die Reste des Kuchens zu streiten und nur ein paar Jahre hatte, um Unheil anzurichten. Namibia war einer dieser Reste. Und mit kaiserlich-preußischer Gründlichkeit machten sich die neuen Herren an die Arbeit, ihren Diebstahl zu verwalten. Sie bauten in Windhoek ein Regierungsgebäude, in dem die Beamten so viel Tinte verschrieben, dass es seither nur noch 'Tintenpalast' genannt wurde.

Seit Miriam Zinner das gelesen hatte, nannte sie ihren Mann insgeheim nur noch Tintenpalastbewohner, auch wenn sein Amt heute eher Druckerpatronen verschwendete. Sie hätte es ihm auch ins Gesicht sagen können, aber wozu? Sie hatte ihm schon lange nichts mehr zu sagen. Systematisch hatte ihr Gemahl auch mit der Zeit fast alle ihre Freunde vergrault und durch seine ersetzt, die ebenso nichtssagende Tintenpalastbewohner waren, wie er selbst.

 

*

 

Miriam greift in den Sand und lässt die Körner langsam durch ihre Finger rinnen. Sinnlos wie ihre Gedanken. Sinnlos wie ihr Leben in den letzten Jahren. Sinnlos wie alles, wie ihre Arbeit, wie ihre Feierabende, wie die nichtssagenden Bekannten. Ein absolutes Gefühl der Einsamkeit erfasst sie. Doch es schmerzt nicht. Es ist eine Befreiung. Endlich. Endlich alles hinter sich lassen, das ganze, zwecklose Dasein. Sie beginnt, die Einsiedlermönche des Mittelalters zu verstehen. Und doch wieder nicht, denn an einen Gott und an eine Erlösung zu glauben, das gelingt ihr nicht. Was für eine Erlösung? Wenn man nach der Qual des Lebens wieder erlöst werden soll, warum dann überhaupt geboren werden? Vielleicht habe ich deshalb meine Gene nicht weitergegeben?, fragt sie sich. Vielleicht hat der Finanzhai Gordon Gekko im Film Wallstreet doch recht, wenn er auf die Frage nach dem Sinn der Geldanhäufung, nach dem Sinn des Lebens gefragt wird und in etwa antwortet: "Das Leben ist ein Spiel. Wer am Ende am meisten Geld hat, der hat gewonnen." Was für ein bezeichnender Schwachsinn! Egal, egal.

Sie blickt auf den im Schein des aufgehenden Mondes blinkenden, im Sand festgefahrenen Jeep. Auto/mobil. Sich selbst bewegend. Jetzt wohl nicht mehr. Sie denkt, dass sie wohl hier erfrieren wird, oder morgen in der Hitze verdursten. Wasser hat sie nicht dabei. Geschätzte 120 Kilometer zu Fuß durch den feinen Dünensand nach Walvis Bay? Vergiss es. Ist nicht wichtig. Nichts ist mehr wichtig. Miriam fühlt sich so leer, so … beendet. Ihr Plan ist gescheitert. Punkt und aus.

 

*

 

Miriam Zinner hatte alles so satt gehabt. Sie hatte nichts zu verlieren. Sie wusste nur: Ich muss hier weg, weg aus diesem Leben. Der Klinik hatte sie nur per E-Mail mitgeteilt, dass sie ab sofort alle ihre Überstunden nehmen würde, und ohne eine Genehmigung abzuwarten war sie abgefahren. Ihr war klar, dass sich ihr Chef und damit auch ULTRA.medics freuen würden, dass sie eine langjährige und damit gut bezahlte Mitarbeiterin so einfach loswerden konnten. Und ihren Tintenpalastbewohner würde ihr Fehlen wahrscheinlich nicht besonders stören. Auf ihre whatsapp-Nachricht hat er nicht geantwortet. Last-Minute-Schalter. Namibia. Ein Platz bei der DERtour Explorer-Reise war noch frei. Gebucht. Fertig. Nur, weil sie kurz zuvor einen Reisebericht gelesen hatte. Und weil eines, das sie darin gelesen hatte, für sie besonders wichtig war:

Namibia ist nach der Mongolei das am dünnsten besiedelte Land der Erde. Keine Menschen. Einsamkeit. Ruhe. Sie glaubte nicht, direkt depressiv zu sein, wenn auch zunehmend misanthropischer, aber sie hatte nicht nachgedacht, was diese Reise betraf. Erst nach der Landung in Windhoek wurde ihr klar, dass für Ruhe und Einsamkeit eine Gruppenreise mit redseligem Reiseleiter kontraproduktiv ist. Nicht depressiv, sondern schizoid, dachte sie und schlug sich an die Stirn. Aber sie rang sich dazu durch, es erst einmal zu versuchen. Als sie nach den obligatorischen Highlights wie Waterberg, Etosha Nationalpark, Vingerklip, Twyfelfontain und anderen touristischen Spots inclusive mehrerer Zusatz -'Activities' in einem Katamaran über die Walvis-Bay schipperte, war es genug. Die Erklärungen der Bootsführerin, die nahezu jeden Satz mit einem lautstarken "Ladies and Gentlemen!" begann, drangen nicht mehr zu ihr durch. Sie beobachtete dagegen fasziniert eine junge Asiatin aus einer anderen Reisegruppe, die, statt sich mit ihren Landsleuten um das Buffet zu streiten oder die Möwen, Pelikane und Seehunde zu betrachten und nach Delphinen Ausschau zu halten, die gesamte Zeit in einer Ecke saß und in ihr Handy poste, grinste, grimassierte und sich zum Äffchen machte. Miriam Zinner war kurz davor, ihr das Smartphone zu entreißen und ins Meer zu werfen, besann sich dann aber anders. Denn diese seltsame Oberflächlichkeit und Ich-Bezogenheit unterschied sich nur strukturell von ihrem Alltag, dem sie entfliehen wollte.

Nahezu fluchtartig verließ sie das Boot am Ende der Tour, und ohne nach ihrer Gruppe zu sehen, drückte sie einem armen, selbsternannten Parkplatzwächter 100 namibische Dollar in die Hand und ließ sich zu einer Autovermietung führen. Hyundai, Landrover, Toyota – egal. Weg, nur weg von all den Menschen. Egal ob weiß, schwarz oder gelb. Es waren zu viele, zu viele.

Fast blind für ihre Umgebung steuerte sie kurz darauf den Wagen aus der Stadt und vertraute darauf, dass jeder andere Fahrer erkannte, dass hier eine Touristin am Steuer war, die mit Linksverkehr, anderer Anordnung der Bedienungshebel und Kreuzungen mit vier Stoppschildern so ihre Probleme hatte und Rücksicht nahmen. Sie nahmen Rücksicht. Hupend und gestikulierend zwar, aber Miriam kam unbeschadet aus dem gesichtslosen Hafenstädtchen. Eine schmale Salz-Pad führte durch gewaltige Salinenfelder und an Hunderttausenden Flamingos vorbei nach Westen. Es hätte auch Osten sein können, es war ihr gleichgültig. Aber die Karte der Vermietstation zeigte ihr, dass sie auf dieser Pad den Menschen am ehesten entgehen konnte. Sie konnte nichts mehr mit ihnen anfangen. Am Waterberg hatte der Reiseleiter vom Völkermord gesprochen, den deutsche Schutztruppen hier unter aufständischen Hereros angerichtet hatten, worauf ein klugscheißender Mitreisender bemerkte, dass die Engländer in ihrer Kolonialzeit wohl hunderttausendmal mehr Eingeborene ermordet hätten, ohne von Völkermorden zu sprechen. Sie mochte das nicht hören, wollte keine Aufrechnung von Menschenleben gegeneinander. Sie dachte an die geifernden Pegida-Rassisten zuhause und an die schwarzen Massenmörderdiktaturen im nachkolonialen Afrika. Sie wollte nichts mehr hören von Fluchtursachen, Geldgier und blödem Sozialschmarotzergeschwätz. Ihr gingen auch die bräsigen südafrikanischen Buren in den Lodgen auf die Nerven, die sich von schwarzen Fahrern zur Großwildjagd kutschieren ließen und sie behandelten, als wären sie noch immer die Herren und, und … Ihr Gehirn drohte zu verstopfen vor Abscheu über ihre eigene Spezies. Sie wollte das loswerden. Alles. Vielleicht auch sich selbst.

Nach einiger Zeit endete die Pad am Meer, und nur noch eine Sandpiste führte am Strand entlang nach Süden.

An das Schlingern und Rutschen gewöhnte sich Miriam schnell, fast automatisch, und sie kam zügig voran, bis an der Sandwich Bay eine gewaltige Düne ihren Weg versperrte und sie zwang, ins Landesinnere abzudrehen.

Einige Zeit später hörten dann die Fahrspuren der Allradfahrzeuge auf, mit denen Touristen von Walvis Bay aus durch und über die Dünen gefahren wurden – das ultimative Abenteuer. Doch Miriam Zinner fuhr weiter, einfach nach ihrem Instinkt. Vom Geländefahren hatte sie keine Ahnung, aber sie wusste, dass man, wenn es schon nicht um die Dünen herum ging, sondern nur darüber, mit Vollgas fahren musste. Bloß nicht zum Stillstand kommen. Senkrecht hoch, dann auf dem Kamm Gas weg und ganz langsam dahinter runter. Eher rutschend als fahrend, wie im Tiefschnee. Das Geräusch, das dabei durch den Sand entstand, faszinierte sie. Roaring Dunes, hieß das, glaubte sie irgendwo gelesen zu haben. Durch die Leere in sich hatte sie keine Angst. Sie hatte auch keine Ahnung mehr, wo sie war. Irgendwo im Namib-Naukluft Park. Aber wo? Das portable Navigationsgerät hatte sie schon kurz nach Walvis Bay wütend auf den Rücksitz geworfen, so sehr war sie von der altjüngferlichen Stimme genervt, die ihr völlig blödsinnige Anweisungen gab. Aber was hätte Miriam auch als Zielort eingeben sollen? Stille und Einsamkeit? Mit einem kurzen Blick sah sie auf die Karte. Hatte sie das Black Cliff schon passiert? Lag die Conception Bay da rechter Hand, irgendwo hinter den glühenden Sandbergen? Steuerte sie vielleicht schon auf Sossusvlei zu? Der Gedanke bereitete ihr Übelkeit, denn dieser Ort würde wimmeln vor Menschen, die auf den weltbekannten Dünen herumkrabbeln und mit elektromagnetischer Strahlung von Myriaden von Selfies die Atmosphäre verpesten würden. Aber das konnte nicht sein! Oder doch? Miriam Zinner hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie fuhr einfach weiter, obwohl ihr die Arme vom Lenken und Gegenlenken lahm wurden, ihr verspannter Nacken schmerzte und Augen und Kehle brannten. Wasser. Ich habe nichts zu trinken dabei, sickerte in ihr Bewusstsein, doch diese Erkenntnis löste nichts in ihr aus.

Dann wurde es schlagartig kühler. Die Sonne stand plötzlich tief, als wäre sie irgendwo herunter gestolpert. Ein Linksschwenk nach rechts an der zehntausendsten Düne vorbei, dann sah Miriam plötzlich wieder das Meer. Und die Sonne, die sich knapp über der Erdkrümmung darin spiegelte. Dieser Anblick riss Miriam kurz aus ihrem Zombie-Modus, und dann war es passiert. Der Wagen stellte sich quer und fraß sich bis zum Bodenblech in den Sand. Aus, Ende. Sinnlos jaulten die durchdrehenden Reifen, dann blieb der Motor stehen. Rien ne va plus.

Miriam stieg aus, umrundete den Wagen, ohne das Desaster wirklich zu betrachten, watete dann die Düne hoch, setzte sich in den noch heißen Sand und betrachtete den blutigen Sonnenuntergang.

Dann hörte sie die Stille. Das Nichts. Die absolute Ruhe. Das, was sie gesucht hatte. Frieden. Sie schloss die Augen und lauschte in sich hinein. War da Frieden? Ja. Alles war so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Keine Menschen, kein Stress, keine Granaten über dem Schützengraben, kein selbstzufriedener Tintenpalastbewohner. Auch keine Freunde. Freunde? Die hatten kampflos das Feld geräumt, als der Tintenpalastbewohner sein Territorium abgesteckt hatte. Seine Kolonie. Auf ihrem Land. Aber waren das wirklich Freunde gewesen, die sie so einfach verlassen hatten? Egal. Wirklich egal?

Man nehme alle Gedanken, alle Erinnerungen, jede Erfahrung, man füge die gesamte Erziehung dazu, die Regeln, Gesetze, Vorschriften, die inneren Grenzzäune und Vorurteile, die genetischen Determinationen und kindheitsreligiösen Vorstellungen, packe darauf noch den gewaltigen Berg an Gefühlen, den man wie Sisyphos immer und immer wieder erklommen hat, ohne sich halten zu können. Und dann werfe man das ganze Konglomerat in einen gewaltigen Schredder. Schalter auf ON.

Genau das passiert jetzt gerade in Miriam. Alles, der gesamte Mischmasch, der dabei herauskam, tummelte sich in Miriams Kopf, in ihrem Herzen, in ihrem Sein. Es war vorbei. Sie hatte die Einsamkeit gesucht und das Nichts gefunden. Aus und vorbei. Sie war voll mit geschreddertem Müll. Randvoll.

Ohne sich zu erheben kotzte sie einfach zwischen ihre Beine. Es war wenig. Außer den Austern, etwas Weißbrot und einem Glas Sekt auf dem Katamaran hatte sie nichts mehr zu sich genommen. Blicklos starrte sie in den blutigen Sonnenuntergang. Dann schrie sie in die Stille:

"Was bin ich denn? Sie hat gelebt, wie man von einem Stein sagt, dass er lebe, oder von einem Baum sagt, dass er lebe. Cicero hat das gesagt, oder nicht? Das bin ich, er hat von mir gesprochen! Ich habe nicht mehr gelebt, ich habe nur noch existiert!" Ihr Kopf sank auf ihre Knie, und die Stille brach wieder über sie herein.

 

*

 

"Ist das ein Unterschied?" Miriam Zinner schreckt hoch, als hätte sie ein Skorpion gestochen.

"Ist da jemand?", ruft sie in die schnell hereinbrechende Dunkelheit, wobei ihr auf absurde Weise klar ist, dass sie bei diesem unglaublich dämlichen Satz in Fernsehkrimis immer Zustände bekommt. Doch etwas antwortet ihr:

"Yep. Ich bin's." Und dann sieht Miriam das Wesen. Es steht auf dem Dünenkamm, nur wenige Meter neben ihr und ist in der Dämmerung gut zu erkennen. Ein …Wolf …nein, eine Hyäne. Oder ein Schakal?

"Denk nicht nach, Menschlein. Denk nicht nach! Jaja. Kein Leopard, auch kein Hund, sondern ein kleiner, niedlicher Schakal. Du brauchst dich nicht zu fürchten, Menschlein."

"Ich fürchte mich nicht!", antwortet Miriam und unterdrückt einen weiteren Brechanfall.

"Ich weiß, du fürchtest dich vor nichts mehr. Du bist fertig, jaja." Dann bellt der Schakal ein keckerndes Lachen in die Nacht. Miriam versucht, ihren Gesprächspartner genauer zu betrachten und blickt in das kluge Gesicht eines hundeähnlichen Geschöpfs, das sie aus scheinbar uralten Augen interessiert betrachtet.

Ich habe einen Sonnenstich, ich bin dehydriert, meine Stimmung, egal, denkt Miriam. Alles vorbei. Ich werde verrückt. Kein Termin beim Psychiater möglich. Kein Netz. Ich trete aus meiner realen Existenz aus. Ich kündige. Sie versucht, ein hysterisches Gelächter zu unterdrücken, was aber nicht gelingt. Warum auch? Als es abebbt reißt sie wieder die Augen auf und starrt den Schakal an. Inzwischen hat der Mond die ins Meer geplumpste Sonne ersetzt.

Das Tier macht einen Buckel, dreht sich im Sand um seine Achse und setzt sich nieder.

"Jaja, ich kenne das", sagt er. "Ihr Menschen seid so …"

"Wie? Wie sind wir Menschen?"

"Denaturiert. Weg von euren Wurzeln, weg von der Welt."

"Weg von der Welt? Wie meinst du das?"

"Nun ja, wir Erdbewohner wären ja froh, wenn ihr wirklich weg wärt von unserer Welt. Aber ihr seid nun mal da. Wir sollten euch eigentlich hassen, obwohl wir ja gar nicht hassen können."

"Hey, Schakal, da sind wir schon mal zwei. Ich hasse meine Spezies auch!"

"Das ändert nichts, Menschlein. Du bist ein gutes Wesen, ich spüre das. Du liebst Tiere. Du spürst, dass die Welt vom Zusammenhalt aller Wesen abhängt. Du bist keine von der Art, die nur zum Vergnügen tötet. Ich töte auch. Aber ich mache das nur zum Überleben. Ich hänge mir nicht die Köpfe meiner Opfer in meine Höhle."

"Ja, Schakal, du bist Teil eines Systems, das aufeinander abgestimmt ist. Aber der Teil, dem ich angehöre, funktioniert nicht mehr. Wir töten uns selbst aus Gier. Gier nach Geld und Macht. Und weil es uns eingeredet wird. Ohne Rücksicht, ohne Sinn und Verstand. Kannst du verstehen, was ich meine?"

"Ja. Ihr seid wirklich dumm, ihr Menschen. Vernichtet unseren schönen Planeten, nur weil ein paar von euch für ein kurzes Leben reich und mächtig sein wollen und euch einreden, dass euch das etwas nützt. Und die anderen, die völlig Verrückten, erzählen euch, dass ein Gott das so will. Ich könnte mich schütteln vor Lachen, wie dumm ihr seid, ihr Menschen. Aber es ist nicht zum Lachen."

"Da hast du wohl recht, Herr Schakal. Ich heiße übrigens Miriam. Und wie heißt du?"

"Schakal reicht. I am, what I am … Wir Tiere geben uns keine Namen." Der Schakal bellt wieder sein Lachen in die Nacht.

"Und was macht ihr?"

"Wir sind einfach, wenn man uns lässt. Wir sind."

"Puh. Ist das die Lösung? Einfach nur sein?"

"Na klar, Menschlein. Einfach existieren. Einfach leben. Einfach seinen Platz auf unserem Planeten suchen, auf den man gehört. Wo das ist, das sagt unsere innere Stimme. Wie all den Tieren, die du in meinem Land gesehen hast. Den Zebras, den Kudus, den Oryx, Elefanten, Löwen, Geparden, Warzenschweinen und Klippschliefern. Sogar den blöden Perlhühnern. Ich weiß, ich bin manchmal ungerecht. Liegt in meiner Natur."

"Einfach sein? Ist das die Lösung?"

"Klar. Aber ich weiß, dass ihr Menschen eine besondere Art seid. Ihr seid Individuen. Ihr glaubt es zumindest. Und doch lauft ihr wie dumme Perlhühner den am lautesten Schreienden hinterher ohne zu denken. Ohne das Denken, auf das ihr sonst so stolz seid. Und das euch von uns unterscheidet. Ich für meinen Teil könnte auf eure Denkweise gut verzichten." Der Schakal steht auf, streckt sich und fährt fort:

"Du hast ein Problem. Du findest dich in deiner Herde nicht mehr zurecht. Das hat jetzt nichts mit deiner Spezies zu tun, so abstoßend und dumm sie sich auch verhält. Nur mit dir. Du bist ein Teil und kannst das nicht ändern. Nur verbessern. Aber du kannst dein persönliches Leben ändern, du hast es in der Hand. Du bist ein Mensch. Ich kann das nicht. Ich bin nur ein Tier, das seinen Instinkten folgt, zumindest glaubt ihr das, ihr arroganten Zweibeiner." Wieder bellt der Schakal lachend in die Wüste hinein. "Tu es!", fährt er fort. Versuche es wenigstens! Hier zu sitzen und zu erfrieren ist eine sehr dumme Lösung. Das machen nicht einmal die Klippschliefer!" Sein Lachen kommt als Echo vom Meer zurück. Miriam Zinner sitzt wie gebannt und lässt die Schakalsworte in sich sinken.

"Du bist einsam. Und du bist allein. Aber das ist etwas völlig Unterschiedliches. Ab und zu allein zu sein ist etwas Wunderbares. Ich mache das selbst immer wieder. Alle glauben dann, ich jage für mich selbst, aber gleichzeitig wissen sie, dass das nicht so ist. Jeder von uns will mal allein sein. Das brauchen wir. Es macht uns frei." Der Schakal blickt zu den Sternen hoch, und seiner Kehle entkommt ein leises, sehnsuchtsvolles Quietschen, ein Geräusch, das Miriam nur von Hunden kennt.

"Alleinsein macht auch dich frei. Es lässt dich zu dir selbst finden. Eure Führer, eure Stimmungsmacher sind nie allein. Das ist das Problem. Auch unter den Tieren gibt es welche, die das Alleinsein nicht ertragen. Die immer unter sich sein müssen, die das dauernde Abgelenktsein, das ewige umeinander herum Geeiere, herum Gegacker brauchen, weil sie mit sich selbst nichts anfangen können. Schau dir die Perlhühner an. Rasen hin und her in einer Tour. Machen ständig die gleichen Geräusche Tag und Nacht."

"Ja, stimmt!", lacht Miriam Zinner. "Mich haben sie in der Sossusvlei-Lodge um den Schlaf gebracht mit ihrem Gegacker!"

"Siehst du", sagt der Schakal und dehnt seinen Rücken. "Dich bringt das Gegacker, das Gerenne, das Getue um den Schlaf. Die Perlhühner aber bringt es um den Verstand. Oder gibt es bei euch Menschen ein einziges Sprichwort, das von klugen Hühnern redet? Aber alles hat sein Gutes: Uns Schakalen erspart es viel Energie bei der Jagd. Wenn es uns sieht, fällt so ein dummes Huhn einfach um vor Schreck."

"Na ja", lacht Miriam, "ob das wohl stimmt? Aber ich verstehe, was du sagen willst."

"Das hoffe ich", sagt der Schakal. Dann stellt er die Ohren und lauscht in die Nacht. Von verschiedenen Seiten erklingt ein Geheule, ein Geknurre, und Schatten huschen über den Sand. "Mein Rudel ruft mich. Schluss mit Alleinsein. Einsam sind nur die, die nicht dahin zurückfinden, wohin sie gehören. Hat mich gefreut, Menschlein, mach's gut und mach' dir nicht zu viel Sorgen um morgen. Nur ein wenig, denn wenn man sich Sorgen macht, ist man noch nicht verloren." Er hebt eine Pfote zum Gruß und verschwindet in der Nacht.

 

*

 

Miriam Zinner erwachte in ihrem Wagen, rieb sich die Augen und blickte aufs Meer. Die Sonne ging gerade auf und erfüllte den ganzen Himmel mit einem strahlenden Licht. Nicht blutig, sondern voller Leben. Schon lange hatte Miriam keinen solchen Sonnenaufgang mehr erlebt, und sie fühlte sich erstaunlich frisch und munter. Was war das nur für ein seltsamer Traum gewesen? Wunderbar und berührend. Er hatte sie irgendwie verändert, ihre tote Seele erweckt zu neuem Leben. Konnte das sein? Sie dachte an das festgefahrene Auto, an den defekten Motor, und ihr neuer Lebensmut begann wieder zu sinken. Aber jetzt war es ihr nicht mehr egal. Sie wollte leben, sie wollte neu beginnen, sie wollte sich ein neues Rudel suchen! Und jetzt würde sie jämmerlich in dieser Wüste sterben. Dann dachte sie an den Schakal und an das, was er zum Schluss gesagt hatte:

"Mach's gut und mach' dir nicht zu viel Sorgen um morgen. Nur ein wenig, denn wenn man sich Sorgen macht, ist man noch nicht verloren."

Vor Kälte zitternd stieg sie aus dem Wagen. Was hatte der Vermieter gesagt? Auf Sandpisten etwas Luft ablassen. Okay. Sie schraubte die Ventilkappen ab und drückte auf die kleinen Knöpfchen, bis sich zischend Luft aus den Reifen entleerte. Und dann war da noch etwas mit einer Differentialsperre. Sie stieg ins Auto zurück, wobei sie bemerkte, dass der Sand sich viel fester anfühlte, als am Abend zuvor. Klar, der Tau vom Meer! Und anhand der Betriebsanleitung im Handschuhfach fand sie auch Sinn und Zweck einer Differentialsperre erklärt und wo der Hebel dafür war. Die Lösung des Anlasserproblems fiel ihr selbst ein. Sie hatte den Motor abgewürgt und den Gang eingelegt gelassen. Und ohne die Kupplung zu treten startete der Wagen nicht.

Miriam Zinner, die überzeugte Atheistin, schickte ein Stossgebet zum Himmel und drehte den Zündschlüssel. Ohne zu Mucken startete der Motor, und mit Unterstützung von Tau und Differentialsperre gelang es Miriam, den Wagen freizubekommen. Sie fuhr rückwärts zwischen die Dünen und sah plötzlich die Spuren anderer Fahrzeuge. Wahnsinn! Sie war offenbar in ihrem deprimierten Zustand einfach im Kreis gefahren!

Als sie sich in die Sandspur eingefädelt hatte, sah sie im Rückspiegel ein Tier, das ihr nachstarrte und dann verschwand. Es war der Schakal, da war sich Miriam sicher. Und sie glaubte auch gesehen zu haben, dass er zum Abschied die Pfote erhoben hatte.

"Danke, danke, Schakal", flüsterte sie und gab behutsam Gas. Sie hatte furchtbaren Hunger und Durst. Und verdammt viel zu ändern in ihrem Leben.

 

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2016

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