Cover

Die Dehnbarkeit der Zeit

 

 

Plopp. Plopp. Plopp. Plopp … Plopp

Das Tropfen hörte einfach nicht auf. Es war nicht regelmäßig, es war kein Rhythmus zu erkennen, aber es war beständig da. Unüberhörbar. Manchmal schien es, als wäre der Wasservorrat endlich erschöpft. Als hätte die Folter ein Ende gefunden. Dann, nach scheinbar endloser Zeit: Plopp. PloppPlopp. Es war nicht laut, aber für Estrella klang es, als würde ein Hammer auf den Boden schlagen. Sie hatte versucht, das Geräusch zu ignorieren, aber gerade in den längeren Pausen wartete sie angespannt, ob es das letzte Plopp gewesen war. Sie hatte Fetzen aus ihrer Strumpfhose gerissen und in die Ohren gesteckt – vergeblich. Zum Tropfgeräusch kam nun noch ihr eigener Herzschlag. Ihre Tränen waren längst versiegt. Ihre Hoffnung auch. Sie würde sterben in diesem Kerker, der durch eine ständig brennende nackte Glühlampe beleuchtet wurde. Eine sehr schwache Glühlampe, aber sie war dankbar dafür. In völliger Dunkelheit wäre sie schon längst dem Wahnsinn verfallen.

Wie oft war sie schon an den feuchten Ziegelwänden entlang gelaufen, hatte die Mörtelfugen abgetastet, war über den Ziegelboden gekrochen, hatte die Stahltür untersucht? Und wie lange war es her, dass sie aufgegeben hatte, dagegen zu schlagen? Wie lange, dass sie sich nicht mehr die Seele aus dem Leib schrie? Rammstein fiel ihr ein.

Stein um Stein mauer ich dich ein. Stein um Stein, und keiner hört dich schreiiiiin!

Estrella lachte hysterisch auf und warf sich auf die modrige Matratze. Tränen hatte sie keine mehr.

Ihr war klar, dass sie nicht verdursten würde. In einer Mulde des Ziegelbodens sammelte sich Tropfwasser, das sie aufschlürfen konnte. Nicht viel, aber genug. Und verhungern würde sie auch nicht. Das würde zu lange dauern. Sie erinnerte sich an ihr Medizinstudium, wo sie einmal ausrechnen sollten, wie viel Gewicht wohl Jesus bei seinem 30-tägigen Fasten in der Wüste verloren haben könnte. Es war erstaunlich wenig. Es hing natürlich von der Zeit ab. Aber so lange würde sie nicht mehr leben. Der Wahnsinn. Das Tropfen.

 

Maximilian Karlhauser hatte alles richtig gemacht. Er hatte nicht versucht, das Problem alleine zu lösen. Er war nicht Multimillionär geworden, weil er aus dem Bauch heraus Entscheidungen traf, sondern erst nach genauer Analyse. Kosten – Nutzen. Er recherchierte immer gleichgelagerte Fälle und übertrug das Ergebnis auf sein aktuelles Projekt.

So knallhart-analytisch er bei seinen Geschäften war, so weich war er, was seine Frau betraf. Er sah sie auch bei diesem Problem nicht als Projekt. Aber dennoch reagierte er so wie immer, als er die Botschaft des Entführers empfangen hatte.

Keine Polizei! Sonst … Damit drohen alle Erpresser. Karlhauser akzeptierte die Forderungen sofort. Dann kontaktierte er seine Anwälte, hörte sich noch andere Meinungen an und schaltete dann die Polizei ein.

 

Plopp. Plopp. Es musste ein Ende haben. Die Zeit zog und zog sich. Estrella hatte schon lange angefangen, über die endlose Zeit nachzudenken. Sie hatte kein Gefühl mehr dafür. Waren es erst ein paar Stunden, seit sie hier in diesem verfluchten Loch hockte, oder schon ein paar Wochen?

Zeit wird nur erfassbar, wenn es Veränderungen gibt. Bleibt sie stehen, wenn sie nicht gemessen wird? Die Relativitätstheorie fiel ihr ein, die Unschärferelation. Welchen Standpunkt nimmt derjenige ein, der die Zeit misst? Sie konnte die Zeit nicht messen, da sie nie eine Uhr trug. Ihr Mann hätte jeden Chronometer gekauft, den sie hätte haben wollen, aber sie lachte immer nur und sagte: "Dem Glücklichen schlägt keine Stunde."

Hier schlug ihr auch keine Stunde, aber sie war alles andere als glücklich. Ihr Mann stand immer unter dem rasenden Diktat der Zeit, sie dagegen litt jetzt unter ihrem Stillstand. War es Tag oder Nacht? Wie lange schon? Wie lange noch? Estrella tastete ihre Rippen ab und glaubte, sie deutlicher zu spüren. Egal. Es war vorbei. Denn das Schlimmste war das Tropfen. Es zerhackte die Zeit wie eine alte Pendeluhr, aber unregelmäßig. Genau das trieb Estrella in den Wahnsinn.

 

Zehn Millionen waren für Maximilian Karlhauser kein Problem. Er bekam es sofort, inklusive Mikrosender.

Hauptkommissar Rudolf Reichert leitete die Übergabeaktion in Zusammenarbeit mit einer Spezialabteilung des SEK. Alles ging glatt. Der Entführer konnte von der Überwachung nichts mitbekommen haben. Wie erhofft fuhr er sofort nachdem er das von Karlhauser abgelegte Geld abgeholt hatte erst einmal kreuz und quer durch die Stadt, wechselte ganz klassisch abrupt die Spuren, bog in Hinterhöfe ein und wartete dort lauernd, um gleich darauf wieder seine Haken zu schlagen. In einer Parkbucht ließ er dann seinen Wagen stehen, rannte mit dem Koffer durch den angrenzenden Park und bestieg auf der anderen Seite einen unscheinbaren Toyota. Reichert bewunderte seine SEK-Kollegen. So eine Überwachung hatte er noch nie erlebt. Absolute Profis. Der Entführer konnte nichts davon mitbekommen haben. Und als er schließlich in den Hof einer stillgelegten Ziegelei einbog, ein Seitentor aufschloss und ohne das Geld im Gebäude verschwand, war alles klar. Es dauerte nur wenige Minuten, und er tauchte wieder auf. Ohne das Tor wieder zu verschließen stieg er ins Auto. Er hatte die Geißel befreit, das war jetzt eindeutig. Bevor er den Motor starten konnte, erfolgte der Zugriff.

 

Wie kann es sein, dass die Zeit manchmal unglaublich drängt, dann sich wieder so anfühlt, als wäre sie stehen geblieben? Estrella hatte einmal etwas über die Chinesische Wasserfolter gelesen, bei der ständig kaltes Wasser auf den Kopf des Opfers tropft. In Estrellas Kerker tropfte das Wasser nicht auf ihren Kopf, und es tropfte nicht gleichmäßig. Aber genau das war es, was sie letztendlich zermürbte. Das Warten auf das nächste Plopp. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte tot sein, jetzt und sofort. Ihr Gehirn drohte zu zerplatzen und auszufließen wie die Gedärme der Nacktschnecken, die sie im Garten immer mit der Schere durchgeschnitten hatte. Nie wieder würde sie das tun, denn sie würde dafür keine Gelegenheit mehr haben.

Estrella stand auf, fixierte schwankend die Ziegelwand, senkte den Kopf und rannte los wie ein Stier auf der Plaza de Toros von Pamplona. Kurz vor dem Aufprall stoppte sie und fing sich mit den Armen ab. Ja. So konnte es funktionieren. Sie ging zurück zu der angeschimmelten Matratze und schmierte mit dem Finger eine Botschaft in den dreckigen Boden:

Maximilian mein Liebster ich kann nicht mehr es tut mir leid

Dann richtete sie sich auf und starrte erneut auf die Ziegelwand.

 

Hauptkommissar Reichert betrachtete durch die verspiegelte Scheibe den Entführer, der mit den Fingern auf dem Verhörtisch Klavier spielte und grinsend umherblickte. Dieser Mistkerl. Er hatte gewonnen, ja, so sah es aus. Reichert kochte vor Zorn. Alle hatte er sie vorgeführt wie Vollidioten. Nicht der Klassiker - Verhaftung bei der Geldübergabe. Solange die Geißel nicht frei war, wäre das auch keine gute Idee gewesen. Aber bei der Ziegelei waren sie sich sicher. Was hätte der Erpresser sonst dort zu suchen gehabt? Das Geld lag im Auto, er ließ die Tür offen – es musste das Verlies der Geisel sein. War es aber nicht. Weder die SpuSi noch die Suchhunde fanden eine Spur von ihr. Reichert schlug wütend an die Scheibe, worauf sich der Erpresser umwandte und ihm lächelnd zuwinkte. Dieser Dreckskerl, dachte Reichert, hat alles geplant! Er hatte mehrere Optionen gehabt. Erstens, die Polizei war, wie er verlangt hatte, überhaupt nicht eingeschaltet. Zweitens, sie verfolgten ihn nicht. Drittens, er hatte sie abgehängt. In all diesen Fällen wäre er mit seinem Geld einfach verschwunden. Vierte Möglichkeit – er wird verhaftet wenn klar ist, wo die Geisel ist. Und das hatte er einkalkuliert. Er war sicher, dass sie nicht noch einmal wagen würden, ihn zu verfolgen. Und er wusste, dass sie ihn freilassen mussten. Mit dem Geld.

 

Reichert blickte auf die Uhr. Noch acht Stunden, dann würde Estrella Karlhauser ersticken. Eiskalt hatte der Entführer erklärt, dass dann die Batterie des Lüfters leer sein würde, der das Erdloch, in dem sie lag, mit Luft versorgte. Reichert knetete seine schweißnassen Hände, als hätte er den Hals des Verbrechers dazwischen. Der Kerl war clever, nicht so blöde, wie die meisten seiner Zunft. Auch war er ein völlig unbeschriebenes Blatt, keine Anklagen, keine Verbindungen zur Unterwelt, keine Hintermänner. Einfach der nette Nachbar um die Ecke. Aber das interessierte jetzt nicht, auch nicht die Gründe für seine Tat. Die Zeit lief davon. Reichert würde ihn am liebsten einer Rettungsfolter unterziehen, aber er wusste, wie allein die Drohung damit im Daschner-Fall ausgegangen war. Verzweifelt schlug er wieder gegen das Fenster.

 

Estrella Karlhauser schüttelte den Kopf, schlug die Hände vors Gesicht, und endlich liefen wieder Tränen durch die Finger. Ihr Atem ging stoßweise, und wie ein Tier im Käfig schlich sie wieder an ihrer Gefängniswand entlang. Warum vorgreifen?, dachte sie. Verhungern ist nicht so schlimm. Wieder schüttelte sie den Kopf. Wer sagt denn das? Wer hat schon jemand, der verhungert ist, gefragt?

Trotzdem. Plopp. Plopp. Wütend sprang sie hoch und versuchte gegen den Riss in der Decke zu schlagen. "Drecksau! Verfluchtes Arschlochplopp!" Sie sank schluchzend zusammen, und das nervtötende Geräusch füllte Plopp für Plopp ihren Schädel bis zum Überlaufen. Sie drehte sich um und fixierte wieder die harte, grausame Wand.

 

Noch siebeneinhalb Stunden. Mit glühenden Eisen würde er ihn gern foltern. Beim Kollegen Daschner war es sogar um ein Kind gegangen, und hier 'nur' um eine Millionärsgattin! Reichert wusste, dass seine Phantasien Quatsch waren. Er hatte noch nie so gedacht, wie der Mob auf der Strasse. Wie gerne hätte er es jetzt mit einem Zuhälter zu tun, mit einem Drogendealer oder einem Schläger mit brutaler Verbrechervisage. Alles besser, als dieser Beamtentyp. Den konnte er überhaupt nicht einschätzen, ein Typ, der es nicht wagen würde, nach einem Lackschaden beim Ausparken das Weite zu suchen. Einer, der nachts ungern aus dem Haus ging. Aber … Verflucht! Reichert fasste sich an den Kopf und rannte aus dem Überwachungszimmer.

 

Noch sieben Stunden. Reichert betrat den Verhörraum und setzte sich betont gelassen dem Entführer gegenüber.

"Ich habe es mir gründlich überlegt", sagte er und blickte gelangweilt zur Decke. "Ihr Anwalt hat Recht."

"Hä?"

"Nun ja, ich denke, Sie sind ein Trittbrettfahrer. Ja, wie Sie zu Recht behaupten, könnte jeder den Geldkoffer in Ihr Auto gelegt haben. Dass Sie ihn nicht abgeben haben und die Polizei foppen wollten, okay, nicht schön, aber eher verschärfte Form der Fundunterschlagung und Vortäuschung einer Straftat. Jedenfalls rechtfertigt das keine Untersuchungshaft. Fluchtgefahr besteht nicht, also, ich werde jetzt zum Richter gehen und die Aufhebung der Haftanordnung beantragen. In spätestens einer Stunde sind Sie vorerst frei. Allerdings ohne das Geld."

"Was soll das heißen? Sind Sie verrückt? Die Frau …"

"Ach, das mit der Luftzufuhr. Das ist doch ein alter Hut. Das haben Sie irgendwann einmal in der Zeitung gelesen und plappern das jetzt einfach nach. Ich muss mich dann wieder auf die Suche nach der Frau und ihrem echten Entführer machen. Zum Glück haben wir jetzt Helfer. Etwas ungewöhnliche Helfer vielleicht, aber egal. Hauptsache, die haben Erfolg, wovon ich allerdings überzeugt bin."

"Was für Helfer denn?"

"Ich habe mir gerade ihre Akten geholt, ich kann Sie Ihnen gern zeigen."

Reichert öffnete den Aktendeckel und legte seinem Gegenüber Fotos vor. Eines nach dem anderen, und mit jedem wurde der blasser.

"Nette Zeitgenossen, nicht wahr? Das sind Teile der Valley-Gang, der gnadenlosen Rockerbande, Sie wissen schon. Oder der Ghaheb-Clan. Schreckt auch vor nichts zurück. Oder hier, diese brutalen Visagen gehören zur Russenmafia. Für ein paar Euro machen die alles. Aber der Ehemann von Frau Karlhauser hat eine ungeheuere Summe versprochen, wenn die Burschen sie finden. Und noch ein doppelt so hohes Kopfgeld für den Entführer. Lebend muss nicht sein, meint er. Aber das habe ich nur unter der Hand erfahren, was soll ich machen? Also. In einer Stunde sind Sie auf freiem Fuß."

Er stand auf, packte seine Bilder zusammen, während sein Gegenüber hörbar nach Luft rang.

"Ach so, bevor ich es vergesse", sagte Reichert unter der Tür, "ich muss zu denen noch durchsickern lassen, dass Sie das Geld nicht haben. Dass Sie auch die Frau nicht haben. Aber das hat Zeit bis morgen, jetzt muss ich mich erst um Ihre Entlassung kümmern."

 

Tick, tick, tick, noch eine Stunde, machte es im Kopf des Entführers.

 

Plopp, plopp, plopp machte es im Kopf von Estrella.

Sie betrachtete ein letztes Mal die Wand, gegen die sie laufen wollte. Laufen musste. Die einzige Möglichkeit, das Geräusch aus dem Kopf zu bekommen. Ein gebrochener Schädel wäre besser als ein wahnsinniger, völlig umnachteter Geist. Schon bei beginnender Demenz hätte sie sich das Leben nehmen wollen. Jetzt war sie absolut frei. Und jetzt hörte auch das Tropfen auf, sie zu quälen. Alles war ruhig, alles war klar.

 

Und dann war da plötzlich ein anderes Geräusch. Ein Klacken, ein Scharren, ein Quietschen an der Tür. Sie drehte langsam den Kopf …

 

 

*****

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Stefan Sikos, pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /