+ Rainer Henn. + Verkehrsunfall.
Ka-Idri konnte den Blick nicht von den Bergen abwenden. Sie lebten. Und sie bewegten sich. Davon war Ka-Idri überzeugt. Manchmal waren sie weit entfernt und in grauenhaften Dunst gehüllt, dann wieder kamen sie erschreckend nahe an das Dorf über dem Wasser. Das waren die Tage, an denen der heiße Wind blies, als wäre er der ätzende Atem der Berge. Bis an das gegenüberliegende Seeufer kamen sie heran, und man konnte jede schaurige Falte ihrer runzligen, grauen Haut erkennen.
Ka-Idri schüttelte sich, als sie daran dachte. Heute waren die Berge wieder weit weg, verhüllt in wabernde Nebelschwaden. Heute konnte sie ohne Angst ihre Tochter mit auf den Steg nehmen. Die Kleine spürte die Entspannung ihrer Mutter und schlief in ihrem Arm sofort ein.
Jeder im Dorf fürchtete das Gebirge, aber Ka-Idri hasste es regelrecht. Geister hausten dort, und Dämonen lebten in seinen uralten, steinigen Falten. Manch einer, der sich auf der Jagd in die Täler und Schluchten gewagt hatte, kam nie zurück. Die Berge gar zu besteigen war ein völlig wahnwitziger Gedanke, auf den kein vernünftiger Mensch kommen würde.
Nur einer aus dem Dorf hatte es immer wieder getan. Und deswegen hasste Ka-Idri die Berge so sehr. Denn derjenige, der sich jedes Jahr, wenn die frischen Zweige aus den Bäumen trieben und noch einmal, kurz bevor die Blätter sich bunt färbten, auf den Weg machte, war Haiccarr. Ihr Gefährte, ihr Mann, der Vater ihrer Tochter. All ihr Bitten half nicht, er wusste um die Gefahren, aber er nahm sie in Kauf. Ka-Idri wandte endlich ihren Blick vom nebelverhangenen Gebirge ab und streichelte das goldlockige Haar der Kleinen. Sie schlief ruhig und sicher.
Ja, der Schamane des Stammes hatte immer gesagt, dass sie auf den Pfählen über dem Wasser sicher seien, dass die bösen Geister Angst vor dem Wasser hätten und dass die Berge auch im heißesten Wind den See nicht überwinden könnten. Ka-Idri vertraute dem alten Schamanen. Er hatte bisher immer recht gehabt. Sie musste ihm ja auch vertrauen, denn er hatte Haiccarr die heiligen Zeichen in die Haut geritzt, die ihn bisher vor den Dämonen der Berge beschützt hatten.
+ Dieter Warnecke. + Herzinfarkt.
Seit der Zeit, als Haiccarr sich zum ersten Mal aufgemacht hatte, um über die Berge zu gehen, ging es der Familie immer besser. Er hatte sein Tragegestell voll mit Tauschwaren bepackt und war mit seltsamen, wertvollen, wunderbaren Dingen zurückgekehrt. Werkzeuge aus dem braunen, harten Metall, feine Webstoffe, herrliche Schmuckstücke und andere begehrte Dinge mehr.
Dafür konnten sie sich ein großes Haus auf dicken Stämmen über dem Wasser bauen, mehr Tiere halten und auch etwas für das Dorf abgeben, um keinen Neid aufkommen zu lassen. Und er tauschte Teile seiner Gewinne bei Händlern der Nordmänner gegen die durchsichtigen, magisch glänzenden Gebilde von den Ufern des fernen Meeres ein, gegen die scharfen Klingen aus den schwarzen Steinen, die andere Stämme kunstfertig aus den Felsen schlugen, und gegen das weiche, gelbe Metall, das einige aus seinem Dorf aus den Bächen wuschen. Diese Dinge waren hinter den gefürchteten Bergen hoch begehrt. Und so nahm er zweimal im Jahr die gefährliche Reise auf sich. Haiccarr, Händler-über-dem-Wasser, so wurde er genannt. Er erzählte nichts von den Bergen, sprach aber mit Begeisterung davon, was hinter ihnen lag. Anfangs glaubte ihm keiner. Niemand konnte verstehen, dass es etwas hinter den üblen Felswänden gab, Menschen sogar. Menschen wie sie alle und doch anders. Und als Haiccarr erzählte, dass die Fremden zu ihm freundlich seien, zugewandt, interessiert, hatten sie gelacht und abgewinkt. Fremde waren meistens böse, schlecht, gefährlich.
+ Rainer Hölzl. + Krebs.
Ka-Idri seufzte, berührte ihre filigranen Ohrringe und zog den feinen Stoff des Kleides, das sie jetzt statt der kratzigen Felle trug, fester um die Schultern. Es war schön, im Dorf anerkannt zu sein, es war herrlich, in einem großen Haus zu wohnen, das auf dicken Pfählen fest verankert über dem Wasser des Sees stand, geschützt vor den Dämonen. Und sie hatte jetzt Zeit für ihre Tochter, musste nicht mehr so oft über den Steg hinüber auf die Insel oder gar noch von dort mit dem Einbaum aufs Festland, um zu säen, zu ernten, Früchte zu sammeln oder Heu für das Vieh zu machen, wie die anderen Frauen im Dorf. Aber deshalb wuchs der Neid der Leute trotz der Freigiebigkeit, mit der Haiccarr seinen Handelsgewinn für das Dorf einsetzte. Die Missgunst hatte einigen Männern schließlich sogar die Angst vor den Bergen genommen. Sie forderten von Haiccarr, sie mit hinüber in das fremde Land zu nehmen, ihnen den Weg zu zeigen, damit sie auch Handel treiben und reich werden könnten.
Schließlich hatte Haiccarr eingewilligt, bei der nächsten Reise Whaom den Krieger mitzunehmen, den Rädelsführer der Neider. So schlecht wäre das vielleicht nicht, hatte er sich überlegt, wenn mehr seiner Leute zu Händlern würden. Möglicherweise könnten sie gemeinsam einen richtigen Handelsweg aufbauen mit Schutzhütten unterwegs, mit Brücken über die gefährlichsten Schluchten. Und vielleicht würde dadurch ihr Dorf zu einem richtigen Handelsplatz werden. Reich und mächtig.
Whaom war zwar ein rauer, unfreundlicher Geselle, aber er war auch ein erfahrener Krieger und Jäger, der ihm in einem Notfall beistehen könnte. Außerdem war er stark und konnte viel Ware auf seinen Schultern schleppen.
Und so waren sie losgezogen, als der Sonnengott den Weißen Tod wieder vom Land verjagt hatte. Der Schamane hatte den Guten Mächten geopfert, hatte die Dämonen verflucht und das ganze Dorf hatte ihnen Glück gewünscht. Nur Ka-Idri war in der Hütte geblieben, damit Haiccarr ihre Tränen nicht sah.
+ Friedrich Tiefenbrunner. + Tod bei Routineoperation.
Haiccarr war zäh. Und er war wütend. Diese Wut trieb ihn voran, auch wenn ihm die dünne Luft zu schaffen machte. Dass er so weit gekommen war lag auch daran, dass seine Last nur halb so groß war, wie bei seiner letzten Reise. Denn seine Verhandlungen mit den Leuten jenseits der Berge waren nicht gut verlaufen. Da sie zu zweit das Doppelte über das Gebirge geschleppt hatten, hofften sie, dass der Erlös auch entsprechend hoch sein würde. Aber die Händler hatten nur die Köpfe geschüttelt und ihnen die kalten Schultern gezeigt, obwohl sie Haiccarr gegenüber ihr Bedauern durchblicken ließen. Was war die Ursache des schlechten Handels gewesen? Haiccarr wusste es und brüllte einen wütenden Schrei in die tiefen Schluchten unter ihm. Schaurig schallte die Antwort der Dämonen zurück.
Warum nur habe ich mich auf Whaom eingelassen?, fragte sich Haiccarr immer wieder. Whaom war Krieger und Jäger. Ein jähzorniger Krieger und ein großmäuliger Jäger. Ein aufbrausender, missgünstiger Mensch, der nur seinen Vorteil suchte. Ohne die Sitten und Gepflogenheiten der fremden Händler zu kennen, ohne deren Sprache zu verstehen hatte er mit seinen Forderungen losgepoltert, wollte ihre Tauschwaren an sich reißen und hatte damit das Geschäft praktisch schon im Keime erstickt. Nur weil die Leute jenseits der Berge Haiccarr schon lange kannten, erhielt er wenigstens die Hälfte des erhofften Wertes für die Waren, und nur die anwesenden Wachen des Handelsplatzes hielten den jähzornigen Whaom davon ab, sich auf die Händler zu stürzen.
Wütend, wütend, wütend war Haiccarr. Und das bekam Whaom auch zu hören, als sie den geringen Erlös auf ihre Tragegestelle verteilten. Mit solchen Kerlen einen Handelsweg einrichten? Welcher Teufel hatte ihm diesen Plan in den Kopf gesetzt?
Whaom verstand das überhaupt nicht und wurde immer aggressiver, als er hinter Haiccarr die Berge hoch trottete. Es gärte lange in seinem Schädel, bis es schließlich aus ihm heraus platzte. Haiccarr trage die Schuld an der geringen Ausbeute. Seine Ware sei schlecht gewesen, er hätte zu nachgiebig verhandelt. Und dann forderte er als Ausgleich von Haiccarr dessen Anteil am Erlös. Als dieser auf diese Unverschämtheit nicht einmal antwortete, packte Whaom ihn am Hals und stach mit seinem Messer aus Feuerstein auf ihn ein. Mühsam nur konnte Haiccarr den Angriff mit dem linken Arm abwehren, was ihm heftig blutende Wunden einbrachte, aber gleichzeitig zog er seine Axt aus dem Gürtel. Er hatte sie bei seiner ersten Handelsreise eingetauscht, und sie hatte ihm wegen ihrer scharfen, harten Klinge schon gute Dienste geleistet. Ein Schlag gegen den Schädel des Angreifers wäre tödlich gewesen, doch im letzten Moment drehte Haiccarr das Beil, und nur die Rückseite mit den Befestigungsriemen der Klinge traf die Stirn seines Gegners. Der sackte zusammen wie ein gefällter Baum. Haiccarr sah, dass er noch atmete, dass er lebte, spuckte verächtlich aus und setzte seinen Weg fort. Whaom würde zurück zum Handelsplatz der Fremden finden, wenn er sich von diesem Schlag erholt hatte. Dass er ihn verfolgen würde, glaubte Haiccarr nicht. Zwar hatte sich Whaom jede Einzelheit der Route eingeprägt, sich jede Besonderheit erklären lassen, aber so dumm, sich auf dieses Wagnis einzulassen, wäre er wohl nicht. Obwohl … Und wenn schon! Haiccarr war viel erfahrener, hatte seine Beine an die Berge angepasst, er wäre auf jeden Fall schneller und würde zusammen mit den Dorfältesten dem stinkenden Otter schon einen gebührenden Empfang bereiten. Während er seinen Schritt gefunden hatte und gleichmäßig voran stapfte fragte er sich, warum er den Verräter nicht erschlagen hatte. Er hätte alle Macht und alles Recht dazu gehabt. Der Grund für seine Nachsicht war Ka-Idri. Brennend fiel ihm seine Frau ein, und ein seltsames Gefühl umklammerte sein Herz. Ka-Idri, seine Liebe. Sie hatte ihn immer vor den Dämonen gewarnt. Vielleicht waren sie es, die Whaoms Kopf befallen hatten. Ka-Idri hatte auch Haiccarrs Sicht der Welt verändert. Gut – schlecht. So war es immer gewesen, aber sie hatte versucht ihm zu zeigen, dass es auch etwas dazwischen gab. Er hatte nie darauf geantwortet, aber sein Herz hatte es irgendwann verstanden. Tag – Nacht. So war seine Welt gewesen. Aber ja, es gab auch den Morgen, es gab auch den Abend, es gab Hell und Dunkel, Licht und Schatten. Wieder schluckte er, als er an Ka-Idri dachte. Gewohnheitsmäßig griff er nach dem Amulett, das ihm Ka-Idri gemacht hatte. Aus dem weichen Metall mit der Farbe der Butterblumen und dem Zauberstein vom fernen, fernen Meer. Er erstarrte. Sein Hals war leer. Und jetzt fiel es ihm wieder ein. Whaom hatte bei seinem Angriff das Lederband zerrissen, an dem das Amulett hing. Wieder packte Haiccarr die kalte Wut. Er drehte um, zog seine Axt und wollte zurück, um es zu suchen und Whaom doch noch zu erschlagen. Aber dann begriff er, dass es zu spät und zu gefährlich war. Er verfluchte den Feind und setzte seinen Weg fort.
+ Tom Loy. + Nicht diagnostizierbare Blutveränderung.
Wie viele Untergänge des Tagesgestirns war es her, dass Haiccarr und Whaom das Dorf verlassen hatten? In Gedanken wanderte Ka-Idri mit ihnen. Über den Steg zur kleinen Insel und dann ein paar Ruderschläge im Einbaum zum Festland hinüber. Zwei Aufgänge des bleichen Nachtgestirns, dann waren sie um den See herum und noch einen Tagesmarsch bis zum Fuße des verhassten Gebirges. So hatte Haiccarr es ihr erklärt. Mehr nicht. Und schon das wollte sie kaum glauben. Sie meinte doch, dass die Berge wanderten, dass sie mal nahe, mal fern waren. Wie konnte der Weg immer gleich lang sein? Ein Geheimnis, das er ihr nie erklärte, ebenso wenig, wie es weiter ging. Egal. Sie wartete auf ihn und betrachtete die Anzahl der Holunderstäbchen, von denen sie eines für jeden Anbruch des Morgens in eine Holzspalte des Hauses steckte. Lange konnte es nicht mehr dauern, so die Götter es wollten. Ka-Idri nahm ihre Tochter hoch und trug sie zu ihrem Lager im Haus über dem Wasser.
Haiccarr, Händler-über-dem-Wasser, dachte sie noch. Was für ein Ehrennahme!
+ Konrad Spindler. + Kurze, schwere Krankheit.
Als das Tagesgestirn seinen Höchststand überschritten hatte war Haiccarr so weit gekommen, dass er Rast machen konnte. Er legte das Tragegestell ab und sah sich prüfend um. Nichts. Etwas entfernt von seinen Habseligkeiten ließ er sich im Schatten eines Felsens nieder, steckte sich ein Stück des gedörrten Ziegenfleisches in den Mund und kaute genussvoll. Einige Beeren und ein Brocken des harten, köstlichen Kornfladens spülte er mit ein paar Schlucken Wasser hinunter, bevor er wieder aufstand, um weiter zu wandern.
Einen harten Schlag auf die Schulter – mehr spürte er nicht, aber wusste sofort, was es war. Erst als er nach hinten griff und versuchte, den Pfeil aus seinem Fleisch zu ziehen, setzte der entsetzliche Schmerz ein. Der Schaft brach ab, Haiccarr taumelte herum und wollte nach seiner Axt greifen. Aus glasigen Augen sah er seinen Feind in der Mulde etwas weiter unten, der gerade einen weiteren Pfeil auf den Bogen legte. Das Leben strömte als roter Strahl aus der Ader unter Haiccarrs Schulter. Er brach zusammen und gab es auf, die Axt unter sich herauszuziehen. Er wusste, dass es vorbei war. Mit letzter Kraft verfluchte er seinen Meuchelmörder und alle, die mit ihm zu tun hatten, dann schrie er nur noch ein letztes Wort. "Ka-Idri!"
+ Kurz Fritz. + Lawinenunglück.
Lautes Geschrei ertönte vom Steg, Jubel und aufgeregtes Geschnatter. Er war zurück, ihr Held! Und er hatte seine ganze Trage voll mit wunderbaren Dingen aus der fremden Welt. Der Jubel verstummte erst, als Ka-Idri aus ihrem Haus kam. Erst dann begannen sie, nach Haiccarr, dem Händler vom Haus über dem Wasser zu fragen.
"Die Dämonen haben ihn geholt, die Götter mögen ihm gnädig sein." Whaom ging auf Ka-Idri zu und sagte: "Ich konnte nichts machen, glaub' mir." Ka-Idri brauchte gar nicht in seine falschen Augen zu sehen um zu wissen, dass er log. Sie wusste, was passiert war, seit sie an jenem Tag, kurz nachdem die Sonne ihren Höchststand überschritten hatte, die Stimme ihres Mannes hörte. "Ka-Idri!", hatte er gerufen. Klar und deutlich hatte sie es gehört, aber der Klang seiner Stimme war vom Tod gezeichnet. Und seitdem war ihr Herz erkaltet.
"Ich will nur eines wissen, Whaom. Was ist passiert?"
"Ein Steinschlag, ein gewaltiger Berg ist auf ihn und all sein Hab und Gut gefallen und hat alles unter sich begraben. Fast hätte er auch mich getroffen. Die Götter waren mir gnädig."
"Die Götter waren dir gnädig?" Sie drehte sich um und ging zum Haus zurück. Kurz sah sie noch einmal zu Whaom zurück, der gerade in gespielter Verzweiflung die Arme erhob. Dabei rutschte sein Umhang zur Seite und Ka-Idris Blick fiel auf seinen Hals und auf das Amulett. Ihr Amulett. Haiccarrs Amulett. Sie hätte den Beweis nicht gebraucht. Während sie über die Schwelle in ihr Haus stieg, wo ihre Tochter schlief, hörte sie noch, wie der alte Schamane sagte:
"Wenigstens liegt er unter dem Boden, auch wenn es kein richtiges Grab ist. Wenigstens kann nie jemand seinen Leichnam schänden. So wird seine Ruhe nicht gestört, in der Anderen Welt, drüben, bei den Göttern."
Alle murmelten Zustimmung, und dann begannen sie mit den Vorbereitungen für die Feier zur Rückkehr von Whaom. Er war jetzt der Händler, er würde die Handelsbeziehungen ausbauen können, er würde Reichtum bringen, denn er kannte den Weg.
"Keiner kann seine Totenruhe stören", so hatte der Schamane gesagt. Ka-Idri wusste es besser.
+ Helmut Simon. + Absturz in den Bergen.
Als es lange schon dunkel und das Fest vorbei war und alle auf ihren Lagern schliefen, gefüllt vom Essen und dem Saft der gegorenen Früchte und Kräuter, schlich Ka-Idri zum Opferplatz auf der Insel und brachte die Gaben für die Guten Mächte. Sie bat sie, jeden zu bestrafen, der die Ruhe ihres Mannes stören sollte. Jetzt gab es nur noch zwei Dinge zu tun.
Mit einem Kräutertrank hatte sie ihre kleine Tochter betäubt, damit sie von allem nichts mitbekam. Sie trug sie auf die Insel und legte sie zusammen mit einem gut mit Vorräten und anderen Dingen gefüllten Tragegestell in einen Einbaum.
Dann schlich sie sich zur elenden Hütte von Whaom. Der hatte es nicht einmal über die Schwelle geschafft und lag schnarchend auf der modrigen Plattform davor. Ka-Idri nahm das Obsidianmesser, das Haiccarr teuer von den Nordmännern eingetauscht hatte. Es war schärfer als jedes Messer aus Feuerstein, schärfer als jedes Werkzeug aus dem Metall der Fremden. Damit schnitt sie vorsichtig das Lederband an Whaoms Hals durch und nahm das Amulett an sich. Dann ritzte sie leicht den Hals des Mörders. Der erwachte und glotzte sie im Licht der Gestirne blöde an.
"Die Götter waren dir gnädig, ich bin es nicht!", sagte sie, und bevor Whaom reagieren konnte, durchtrennte sie mit einer einzigen Bewegung seinen Hals. Nur ein leises letztes Röcheln war zu hören, als Ka-Idri langsam zum Einbaum ging.
"Ich habe dein Rufen gehört, Haiccarr", flüsterte sie zu den Sternen hoch. "Wir kommen!"
Nachwort
Die Dämonen scheinen noch heute die Leichenfledderer zu bestrafen.
Innerhalb kürzester Zeit nach der Auffindung des Toten, dem der lächerliche Name 'Ötzi' verpasst wurde, starben viele Beteiligte unter zum Teil mysteriösen Umständen.
In chronologischer Reihenfolge:
- Rainer Henn. Gerichtsmediziner. Wuchtete sehr brutal die Leiche in den Sack
- Kurt Fritz. Bergführer. Hatte das Gesicht des Toten aus dem Eis gezerrt.
- Rainer Hölzl. Er filmte die dilettantische Bergung der Leiche
- Helmut Simon. Der Entdecker der Mumie
- Dieter Warnecke. Er hatte die Suche des in den Bergen vermissten Simon geleitet
- Friedrich Tiefenbrunner. Er entwickelte eine Methode, die Verwesung zu stoppen
- Konrad Spindler. Der Archäologe untersuchte die Leiche mehrfach
- Tom Loy. Molekularbiologe. Er hatte sich schon früh am Toten zu schaffen gemacht
Der Fluch des Toten aus dem Eis – alles Unsinn? Jedes Jahr begaffen tausende Schaulustige in Bozen den Ermordeten. Sie sollten sich vorsehen!
Die Frage, wer sich das Recht herausnehmen darf, ab wann aus einer Grabschändung und Störung der Totenruhe eine Touristenattraktion gemacht werden kann, bleibt allerdings unbeantwortet.
Und was wurde aus Ka-Idri und ihrer Tochter? Anscheinend haben sie Haiccarr nicht gefunden, sonst hätten sie ihn beerdigt nach Sitte und Brauch. Auch wurde das Amulett nicht entdeckt. Was aus ihnen geworden ist, wissen nur die Dämonen der Berge.
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Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser (1); Albert Anker: Der Pfahlbauer (1)
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2016
Alle Rechte vorbehalten