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CONSCIENTIA MALA

 

 

Rückblick

Bagdad, Republik Irak. Sonntag, 16.09.2007

 

Ein Konvoi des amerikanischen Außenministeriums rast auf der falschen Straßenseite durch die irakische Hauptstadt. Die Polizei versucht, den allgemeinen Verkehr anzuhalten, damit die von der privaten Sicherheitsfirma Blackwater USA bewachten Fahrzeuge passieren können. Ein Iraker übersieht in dem Chaos die Warnzeichen der Polizisten und fährt nahe des Nisour-Platzes auf den Konvoi zu. Die Blackwater-Söldner eröffnen ohne Warnung das Feuer, erschießen den Fahrer des Zivilwagens und werfen noch eine Handgranate hinterher. Auch die anderen Insassen des Autos sterben sofort. Dann schießen die Blackwater-Mitarbeiter wild in die panische Menschenmenge auf dem Platz. 17 Iraker werden getötet, über 20 schwer verletzt. Männer, Frauen, Kinder. Warum? Niemand hat den Konvoi angegriffen, kein Iraker hat auf die Amerikaner geschossen. Trotzdem werden die Söldner unverzüglich außer Landes gebracht. In Sicherheit.

*

 

 

Moyok, North Carolina, Vereinigte Staaten.

Academi Training Center. Hörsaal A. 25.02.2016

 

Ein Mann ging zum Rednerpult, schaltete das Mikro ein, räusperte sich kurz und begann:

"Ladies and Gentlemen, ich begrüße Sie alle zum letzten begleitenden Vortrag Ihrer Ausbildung. Mein Name ist Chief Contractor Bill Gabler. Sie alle haben es bis hierher geschafft. Sie haben eine fast so lange Ausbildungszeit hinter sich wie die United States Navy SEALs, und auch der Ausbildungsstand ist entsprechend. Die Navy Special Warfare Classification ist ein Kindergartenabschluss gegen Ihre Qualifikation, aber das wissen Sie selbst am besten. Zwanzig Prozent ihres Jahrgangs sind übriggeblieben – herzlichen Glückwunsch. Sie haben Ihre Verträge bereits erhalten, sind also ab sofort offiziell Contractors von Academi. Schon nächste Woche werden Sie unter meinem Kommando Ihren ersten Einsatz durchführen."

Begeistertes Klopfen hallte durch den Saal.

 

"Okay", fuhr Chief-Contractor Bill Gabler fort, "ich verstehe sehr gut Ihre Freude und Ihre Aufregung – mir ging es damals genauso. Aber es gibt noch einen letzten, ganz wesentlichen Punkt, den ich vorher mit Ihnen besprechen muss. Wundern Sie sich nicht, es geht um das … Gewissen.

Um Ihr Gewissen, um unser Gewissen. Was heißt das? Politiker sind nur ihrem Gewissen verantwortlich, so wird gesagt. Sie brauchen nur in eine Zeitung zu sehen um zu erkennen, was für ein fragwürdiger, ja lächerlicher Begriff 'Gewissen' in diesem Zusammenhang ist. Anderes Beispiel: Ein Robbenschlächter hat kein schlechtes Gewissen, weil er mit seiner blutigen Arbeit seine Familie ernährt, ein spanischer König auch nicht, wenn er, obgleich Ehrenpräsident des WWF, in Afrika gnadenlos Elefanten abknallt, weil es ihm Spaß macht. Aber das Mütterchen nebenan hat sehr wohl ein schlechtes Gewissen, weil es sich zum Kaffee zwei Stückchen Kuchen gegönnt hat statt eines, wie sonst immer.

Die Mitarbeiter unserer Vorgängerorganisation, Blackwater USA, die den 'Schwarzen Sonntag von Bagdad' verursachten – haben die ein schlechtes Gewissen? Oder all die anderen Kollegen, die im Auftrag von Blackwater, Xe oder Academi weltweit ihre vertragliche Pflicht erfüllten? Haben die ein schlechtes Gewissen? Ich hoffe nicht, denn es gibt keinen Grund dafür.

Gewissen ist eine Instanz im Bewusstsein, die uns allen über Jahre hinweg als Normen der Gesellschaft implantiert worden ist. Ein Tier hat kein Gewissen. Ein neugeborenes Kind auch nicht. Erst die Erziehung durch Eltern, Gesellschaft und Staat lässt das Gewissen entstehen. Aber welche Eltern, welcher Staat, welche Gesellschaft? Wurden die Azteken vom Gewissen geplagt, wenn sie 20.000 Menschen ihren Göttern opferten? Nein. Es hätte sie geplagt, wenn sie es nicht getan hätten! Fühlten sich unsere Vorfahren beim Ausrotten der Indianer schuldig? Wohl kaum. Hatten die SS-Schergen beim Abschlachten von 'Untermenschen' ein schlechtes Gewissen? Im Gegenteil. Hatte Adolf Eichmann ein schlechtes Gewissen? Höchstens der Wehrmacht gegenüber, der er Versorgungszüge abspenstig machte, um Juden schneller zur Vernichtung transportieren zu können. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich will hier nicht die Taten beurteilen, sondern nur den Gewissensaspekt betrachten.

Immanuel Kant – das war ein deutscher Philosoph, wenn Sie das interessiert – hat das Gewissen als ein a priori geltendes Grundprinzip betrachtet. Das ist natürlich Unfug.

Karl Marx – ja, der Russen-Marx, auch ein Deutscher – hat das genauer gesehen. Er meinte, dass die Materie die einzige Wirklichkeit sei und sich ständig verändere. Deshalb gelte keine sittliche Wahrheit absolut. Und noch so ein fuckin' german philosopher, Friedrich Nietzsche, hat in etwa gesagt: 'Unser Gewissen ist alles, was in der Kindheit von uns ohne Grund regelmäßig gefordert wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten'.

Und das hat fatale Folgen. Ödipus, zum Beispiel, stach sich nach seinen Taten selbst die Augen aus, obwohl er völlig ahnungslos gewesen war. Das war doch idiotisch, oder? Und heute: Haben die Waffenlobbyisten ein Gewissen? Die Öl-Multis? Die Hedge-Fonds-Betreiber? Oder die Kleinanleger, die in sie investieren, um ein paar Dollar zu verdienen, auch wenn an denen Blut klebt? Ach was.

Ich könnte jetzt noch endlos weiter dozieren, aber ich denke, Sie haben verstanden. Gewissen ist Unsinn. Nur einen letzten der großen Denker will ich noch zitieren. Hoppla, schon wieder ein Deutscher: 'Das Gewissen ist eine Erfindung, eine Verstümmelung des menschlichen Wesens. Ich befreie den Menschen von der schmutzigen und erniedrigenden Selbstpein'.

Wer das gesagt hat? Adolf Hitler. Er meinte natürlich 'eine jüdische Erfindung'.

Aber egal, wer wann was gesagt hat – für unseren Job ist ein Gewissen unnötig, belastend, ja sogar gefährlich. Unsere Klienten gehen davon aus, dass wir den übernommenen Job in ihrem Sinne erledigen. Sie bezahlen uns dafür, also ist es ihre Verantwortung. Es gilt, den Auftrag zu erfüllen, - nach bestem Wissen und Gewissen hätte ich jetzt beinahe gesagt, da sehen Sie, wie tief dieser Schwachsinn in uns verwurzelt ist. Ein Gewissen behindert uns nur in unserer Arbeit, macht sie manchmal sogar unmöglich. Und dann …. Ja? Sie wollten etwas fragen, Contractor?"

"Ja, Sir, entschuldigen Sie, Sir. Aber wie steht es mit der Moral? Darf es die auch nicht geben?"

"Gute Frage, Contractor. Aber das führt jetzt etwas zu weit. Nur so viel: Moral ist eine gesellschaftliche, faktische Beurteilung. Es gibt sogar zwei Arten davon: Die Sklavenmoral, die zwischen Gut und Böse unterscheidet und die Herrenmoral, die nur Gut und Schlecht kennt. Auf uns bezogen: Ist das, was ich gerade entscheiden muss, gut oder schlecht für den Auftrag? Das sollte unsere einzige Fragestellung sein. Entscheiden Sie nur nach der Herrenmoral und lassen Sie sich nie von einem sogenannte Gewissen beeinflussen!

Nur noch ein letztes, ganz persönliches Beispiel, das ich Ihnen mit auf den Weg geben darf:

Ich habe eine kranke Tochter, Mary-Ann, die von meiner Ex-Frau gepflegt wird. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen, weil ich hier meinen Job habe. Und ab nächster Woche bin ich mit Ihnen zusammen im Einsatz. Ständig versucht meine Ex, mir ein schlechtes Gewissen zu bereiten, weil ich meine Tochter nicht sofort besuche. Aber das gelingt ihr nicht, weil ich kein sogenanntes Gewissen habe, kein Gewissen brauche. Natürlich würde ich meine Tochter gerne wieder einmal sehen. Aber erst, wenn dafür Zeit ist.

In diesem Sinne, Contractors – wir sehen uns in Afrika! Und vergessen Sie Ihr Gewissen!

 

 

 

 

Flugplatz DRRL Tillabéri, Region Tillabéri,

Republik Niger, Afrika. 02. 03. 2016

 

Die Transall mit dem 4. Platoon der privaten amerikanischen Söldnerarmee Academi an Bord landete um 14.00 Ortszeit auf der unbefestigten Flugbahn und rollte zum Hangar, wo mehrere Landrover Defender und VW T3 synchro auf die Passagiere warteten.

Nachdem die Ladung, die aus Waffen, Munition und anderen militärischen Gütern bestand, in den Geländewagen verstaut war, machte sich der Konvoi unverzüglich auf den Weg nach Niamey, der Hauptstadt von Niger. Der Auftrag lautete: Schutz der Niederlassung des Ölkonzerns SHELXON und Durchsetzung seiner Interessen auf den Ölfeldern bei Quállam gegen die rebellierenden Einwohner.

Kurz vor der Provinzstadt Gothèye geriet die Kolonne in einen Hinterhalt der aufständischen Imajeghen-Tuareg. Eine Granate brachte das Führungsfahrzeug mit Chief Contractor Bill Gabler zum Schleudern, es kippte um, der Fahrer und drei Insassen wurden herauskatapultiert und vom sich überschlagenden Landrover erschlagen. Nur Bill Gabler blieb im Fahrzeugwrack zurück, dessen Ladung glücklicherweise nicht explodierte. Die Angreifer eröffneten dann das Feuer auf die anderen Fahrzeuge, die sofort gewendet hatten und flüchteten. Nur der letzte VW wurde von einer Panzerfaust getroffen und explodierte in einem Feuerball. Die Aufständischen kamen aus der Deckung und begutachteten lachend die Toten, dann schulterten sie ihre Kalaschnikows und marschierten zurück in die hügelige Steppenlandschaft. Nur der letzte von ihnen zögerte, als er eine Bewegung bei dem Landrover-Wrack zu sehen glaubte. Er ging mit angelegtem Sturmgewehr näher und sah Chief Contractor Gabler schwer atmend auf dem Rücken liegen. Er hatte sich aus dem Schrotthaufen gewunden, aber dann die Kraft verloren. Der Imajeghen setzte ihm den Gewehrlauf auf die Stirn und sah ihn nachdenklich an.

"Los, schieß schon", schrie Gabler. "Ihr habt gewonnen, es ist vorbei!" Der Tuareg nahm die Waffe hoch, schüttelte dann den Kopf und sagte in gebrochenem Englisch:

"Conscience. Very bad conscience. Du unbewaffnet, wehrlos. Ich töten – sehr schlecht Gewissen."

Dann drehte er sich um und folgte seinen Kameraden.

 

 

 

Niger, Regionalstadt Gothèye. 02.03.2016

 

Wie er die paar Kilometer bis nach Gothèye geschafft hatte, wusste Bill Gabler nicht mehr genau. Er erinnerte sich schwach an einen Nissan Pickup, der ihn vor einem schäbigen Motel abgesetzt hatte. Schwer verletzt war er nicht, nur ein paar Prellungen, und als der Schock nachließ, konnte er sofort wieder klar denken. Er stand vom Bett auf und tastete seinen Kampfanzug ab. Brieftasche, Geldbörse, Militärhandy, Sonnenbrille – alles da. Auch die Pistole, die er in einem Holster am Rücken trug.

Gabler dachte an den Tuareg, lachte laut auf und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Very bad conscience. So ein Trottel! Wenn er nicht so benommen gewesen wäre und die Waffe hätte erreichen können, er hätte dem Idioten ohne Skrupel in den Rücken geschossen. Aber jetzt war erst einmal wichtig, das Hauptquartier zu erreichen, Bericht zu erstatten und nachzufragen, wo seine restlichen Männer waren. Er schaltete das Handy ein und stellte befriedigt fest, dass er ein Netz hatte. Doch bevor er den Nummernspeicher aufrufen konnte sah er, dass seine Ex-Frau schon wieder eine SMS gesendet hatte. Mann! Die Frau kapiert es einfach nicht!

Er öffnete die Nachricht, wurde kreidebleich und sank auf die Knie. "Oh mein Gott!", stöhnte er verzweifelt, und das ganze Elend der Welt stürzte über ihm zusammen. Alle Panzer und Ketten um seine Seele brachen mit einem Schlag. Tränenüberströmt las er die Nachricht noch einmal, dann nahm er seine Pistole und schoss sich in den Kopf. Conscientia mala. Bad conscience.

Auf dem Display stand:

 

mary-ann heute gestorben.

du musst nicht mehr kommen

 

 

 

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: S. Hofschläger, pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2016

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