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Brett vorm Kopf

 

 

 

Susannah Klarsfeld hatte nicht nur ein Brett vorm Kopf, sondern einen ganzen Bretterzaun. Wäre es anders gewesen, so hätte sie rechtzeitig erkannt, dass sie im Begriff war, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen. Nämlich zu heiraten.

Heiraten per se ist nicht immer und nicht in jedem Fall ein Fehler. Aber Mario Ragotti zu ehelichen wäre für jede Frau eine unverzeihliche Dummheit. So hatten zumindest die Freundinnen und Freunde von Frau Susannah gedacht und es ihr gegenüber auch deutlich gemacht. Aber es hatte nichts geholfen. Die Hochzeit war heimlich irgendwo in irgendeinem Standesamt mit unbekannten Trauzeugen vor sich gegangen, und Susannah Klarsfeld hatte sich schon im Vorfeld jede Kritik und jede Einmischung vehement verbeten. Ihr Privatleben hielt sie sowieso schon immer streng geheim, denn als Erbin eines gewaltigen Vermögens litt sie immer unter der Angst, dass es keiner Ernst mit ihr meine, sondern nur mit ihrem Geld. Auch ihre paar wenigen Freunde hielt sie sich auf gewisse Distanz, und es kamen auch schon lange keine neuen mehr dazu. So erfuhren sie erst später, dass Susannah den vermeintlichen Gigolo – denn etwas anderes konnte der zwanzig Jahre Jüngere ja gar nicht sein - tatsächlich geheiratet hatte.

Doch das war ganz allein ihre Sache. Die Freunde wuschen die Hände in Unschuld, sie hatten ja gewarnt. Es war eben einfach Susannahs verstockte Art. Nie ging sie wirklich aus sich heraus, nie sprach sie darüber, wenn es ihr schlecht ging, keinem erzählte sie, dass sie krank war, auch wenn man es ihr ansah, und über allzu persönliche Fragen ging sie lachend hinweg oder blockte sie energisch ab.

Doch Susannah Klarsfeld war nicht so vernagelt, wie es den Anschein erweckte. Mario Ragotti war der Mann ihres Lebens. Die anderen mochten denken, was sie wollten, mochten glauben, er sei ein Hallodri, ein Glücksritter und Erbschleicher; und wenn schon? Sie hatte Geld genug, um ihn bei Laune zu halten.

Okay, ihre Freunde hatten recht gehabt, als sie sagten, sie müsse ihn doch nicht unbedingt heiraten, aber Mario hatte gewisse Eigenschaften, die ihr verdammt wichtig waren. Wichtiger als alles andere in ihrem bisherigen Leben. Und sie hatte es sich wirklich nicht leicht gemacht, hatte schon versucht, seine Liebe auf die Probe zu stellen. Vor der Hochzeit hatte sie ihm noch eine sehr wichtige Frage gestellt, aber er hatte sich nicht einmal Bedenkzeit erbeten. Nein, er hatte sofort dem zugestimmt, was sie als Liebesbeweis von ihm verlangt hatte. Und da waren alle Zweifel restlos beseitigt, ihr Glück schien grenzenlos.

 

Ein Bretterzaun ist so eine Sache. Er hat zwei Seiten. Egal, ob er eine Grenze abriegelt oder vor einer Stirn hängt,er ist nach beiden Seiten undurchlässig. Auch derjenige vor dem Zaun hat ihn vor der Stirn.

 

Das Glück währte nicht lange. Nur drei Wochen nach der Hochzeitsreise erlitt Mario einen Herzanfall. Susannah Klarsfeld rief sofort die Rettungsleitstelle an und tat alles, um ihren Mann am Leben zu erhalten. "Sie hat alles Menschenmögliche versucht, um ihn zu retten, hat vorbildliche Herzmassage durchgeführt bis zur Erschöpfung", sollte der Notarzt später sagen. "Sie war völlig fertig, als wir eintrafen. Aber es war zu spät."

 

Von da ab schottete sich Susannah Klarsfeld völlig ab. Sie ging nicht ans Telefon, sie öffnete nicht die Tür, als ihre besten Freundinnen sie trösten wollten, niemand sah sie mehr, es war, als wäre sie gestorben. Doch das war sie nicht. Mit zwei Personen hielt sie eindringlichen Kontakt: mit ihrem Arzt und mit ihrem Anwalt.

Doch eines Tages konnte sie ihre Zurückgezogenheit nicht länger aufrecht erhalten. Der Grund waren zwei Streifenwagen vor ihrer Villa und zwei Polizeibeamte in Zivil, die Einlass begehrten. Kriminalhauptkommissar Rudolf Reichert und sein Kollege Ganzenmeier. Die lautstark vorgebrachte Drohung, notfalls die Tür aufzubrechen, bewirkte letztendlich, dass die Witwe wütend den Beamten öffnete. Reichert fragte Frau Klarsfeld ruhig aber bestimmt nach einem ungestörten Ort, um den Sachverhalt zu erklären. Ihr sofortiges Bestehen auf ihren Anwalt ignorierten die Beamten erst einmal. Schließlich saß sie Reichert am Küchentisch gegenüber, während Ganzenmeier an der Tür stehen blieb.

"Frau Klarsfeld", begann Reichert die Befragung, "wir haben ihren Ehemann Mario Ragotti exhumieren lassen." Die Frau starrte ihn reglos an, während der Kommissar wartete. Schließlich sagte sie:

"Klarsfeld. Mario Klarsfeld, wenn schon. Er hat meinen Namen angenommen. Aber warum haben Sie das gemacht?"

"Wir haben Anhaltspunkte, Frau Klarsfeld, dass der Tod Ihres Mannes kein Unglück, keine Schicksalsfügung war", antwortete Reichert.

"Was? Mario hatte einen Herzinfarkt, ich war dabei!"

"Richtig", stimmte Reichert zu. "Nach Aussage des Notarztes haben Sie sogar intensiv versucht, Ihren Mann am Leben zu erhalten, mit Herzmassage, bis zur Erschöpfung."

"Ja, ja, Herrgottnochmal! Was wollen Sie dann von mir?"

"Ihr Mann wurde ermordet, Frau Klarsfeld." Susannah Klarsfeld lehnte sich zurück und blickte hilflos zur Decke.

"Wieso ermordet? Wie hätte das passieren sollen? Wie kommen Sie auf so eine abstruse Idee? Hat die Obduktion etwas ergeben?" Jetzt fing sie an zu weinen, Tränen liefen über ihre Wangen. "Er war doch so ein lieber Mensch, wer hätte ihn denn ermorden wollen?"

"Sie, gnädige Frau", sagte Reichert trocken.

Susannah Klarsfeld wurde erst blass, dann breiteten sich hysterische rote Flecken über Gesicht und Dekolleté aus. Sie stammelte:

"Mein Anwalt … werden das büßen … bin mit Justizpräsident gut befreundet … raus, raus … häch…häch …raaauuus!"

"Beruhigen Sie sich, und lassen Sie die Krokodilstränen", unterbrach der Hauptkommissar den filmreifen Ausbruch der Witwe. "Das tut ihrer Leber gar nicht gut, Gnädigste."

Susannah Klarsfeld verschluckte sich beinahe und sagte dann fast tonlos:

"Leber? Was hat meine Leber …?"

Reichert wartete etwas, bevor er antwortete:

"Ihre Leber, Frau Klarsfeld, ist unrettbar geschädigt, das wissen wir von ihrem Hausarzt. Es tut mir wirklich leid. Aber die Leber von Herrn Mario Ragotti, respektive Mario Klarsfeld ist tiptop. War tiptop.

Er war kein Mitgiftjäger, kein Heiratsschwindler, wie gemunkelt wird. Sie wussten das ganz genau, als Sie sich an ihn herangemacht haben. Nicht er an Sie. Er war ein einsamer Mensch, seit seine Frau vor Jahren gestorben ist, und er hat sich sehr gewundert, dass Sie ihn … angebaggert haben. Aber er fühlte sich geschmeichelt, hat sich spontan in Sie verliebt. Er wollte nie Ihr Geld, er wollte Zuneigung, Verständnis, Liebe, ja, Liebe. Aber, mit Verlaub, er hatte genau so ein Brett vorm Hirn, wie Sie, gnädige Frau. Und als Sie als Liebesbeweis einen Erbschein für sein Herz verlangten, fand er das sehr romantisch. Was er aber vor der Hochzeit im Rausch der Verliebtheit unterschrieben hat, war ein Schreiben, in dem er alle Organe im Falle seines Todes an Sie vermachte. Auch die Leber. Mario Ragotti war Antialkoholiker. Und alle seine Blut- und Gewebewerte passten hervorragend zu Ihren Daten. Ihr Hausarzt hat ihn extra für Sie aus seinem Patientenpool herausgesucht."

"Blödsinn. Woher wollen Sie das wissen?"

"Aus den beschlagnahmten Patientenakten. Der Doktor hat bereits gestanden. Geld spielt bei Ihrem Vermögen ja überhaupt keine Rolle."

"Und wie soll ich ihn umgebracht haben, meinen geliebten Mann?" Susannah Klarsfeld schluchzte wieder herzzerreißend. "Und warum hätte ich versuchen sollen, sein Leben zu retten, wenn ich ihn hätte töten wollen?"

"Um sein Blut in Zirkulation zu halten, damit die Leber nicht abstirbt, bis der Notarzt kommt. Sonst wäre alles umsonst gewesen. Aber Sie haben eins nicht bedacht: In Deutschland werden Organe gespendet und nicht vererbt, gnädige Frau. Wie verbohrt müssen Sie sein, um zu glauben, es würde nicht auffallen, wenn Sie mit einem bereits gepackten Koffer unbedingt mit ins Krankenhaus fahren wollen? Und wenn jemand dauernd mit einem sogenannten Erbschein herumwedelt, auf die Leber eines gerade verstorbenen Menschen Anspruch erhebt und mit dem Anwalt droht, wenn die nicht gleich verpflanzt wird – ist das ein Mensch, der noch von dieser Welt ist? Organe werden nur über Eurotransplant vergeben, wussten Sie das nicht?"

Bevor die Witwe antworten konnte trat ein Polizeibeamter in die Küche und flüsterte Reichert etwas ins Ohr. Er nickte und wandte sich wieder an die Milliardärin:

"Sie wollten noch etwas einwenden, Frau Klarsfeld?"

"Und ob! Es mag zwar sein, dass ich Marios Leber wollte, als er tot war. Er hat sie mir ja versprochen. Aber umgebracht habe ich ihn nicht! Sie haben ihn doch exhumiert, da haben Sie bestimmt nichts gefunden, kein Gift, keine Wunden, kein gar nichts!"

"Stimmt, Frau Susannah, das haben Sie clever gemacht. Und deshalb haben Sie sogar auf einer Erdbestattung bestanden, obwohl die Nichte Ihres Gatten ausgesagt hat, dass er eigentlich verbrannt werden wollte. Kein Mordhinweis – das würde Sie völlig entlasten. Aber Sie haben nicht bemerkt, dass meine Kollegen, während wir so schön hier plaudern, Ihre Villa durchsucht haben. Und bevor Sie wieder nach Ihrem Anwalt schreien: Hier ist der richterliche Beschluss. Meine Kollegen haben gerade die Inhalationsmaske gefunden und das passende Narkosegas, das nicht nachweisbar ist. Es führt bei Überdosis zum Herzstillstand, ohne die anderen Organe zu schädigen. Frau Klarsfeld, Sie sind verhaftet."

 

Als die beiden Kriminalbeamten aus der Villa traten, sagte Reichert:

"Ich bin immer wieder über die Dummheit mancher Mörder entsetzt. Da plant die Frau alles akribisch, besticht den Arzt, besorgt alle Transplantationsdaten, umgarnt den passenden Kandidaten, macht sich über nicht nachweisbare Mordmethoden schlau, besorgt das Gas und so weiter. Aber sie übersieht, dass ihr das bei den Transplantationsgesetzen nichts nützt. Und dann hebt sie auch noch das Mordwerkzeug auf. Wie blöd muss man sein? Geld essen Hirn auf? Und warum fährt sie nicht in einen dieser Verbrecherstaaten, kauft sich eine Leber in einer dieser zwielichtigen Kliniken? Ist der Milliardärin das zu teuer? Und sie hätte den Spender nicht selbst umbringen müssen, ja es hätte vielleicht sogar eine Lebendspende ausgereicht, bei der nur ein Teil der Leber transplantiert wird, und der arme Kerl von Spender hätte auch was davon gehabt. Ich versteh das nicht, du etwa, Ganzenmeier?"

"Tut mir leid, Reichert, das ist wohl ein Fall für die Psychiatrie. Manche Menschen haben eben nicht nur ein Brett vorm Kopf, sondern einen ganzen Zaun aus dicken Bohlen. Und wenn ich mir überlege, dass mir solche Leute unerkannt jeden Tag über den Weg laufen können, dann graut mir vor der Welt."

"Mir auch, Ganzenmeier, mir auch."

 

 

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Lektorat: S.F.
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2016

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