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Untergang des Abendlandes

 

 

 

 

NEULICH  habe ich mich am Stammtisch betrunken. So richtig. Mach' ich normalerweise nicht, weil ich sonst zuhause Ärger bekomme. Wegen nächtlicher Geräuschbelästigung. Aber an diesem Abend konnte ich nicht anders. Zwei Gründe waren es, die es zwingend erforderlich machten, mir die Kante zu geben:

Erstens aus Gründen des Selbstschutzes: Ich hatte Angst um meinen Verstand.

Natürlich weiß ich, dass bei jedem Vollrausch tausende von Gehirnzellen absterben, aber ich dachte mir, das sei immer noch besser, als wenn das ganze Gehirn durchbrennt.

Und zweitens zur Gewaltprävention: Ich gehöre nicht zu der Art von Trinkern, die laut und gewalttätig werden. Im Gegenteil. Bei mir verhindert der Alkohol, dass ich jemanden durchschüttle oder gar nonverbal abwatsche, was ich bei gegebenen Umständen im nüchternen Zustand vielleicht gerne tun würde, obwohl ich eher ein pazifistisch veranlagter Mensch bin.

Also, die Sache war die:

 

Wie immer am Stammtisch ging es erst einmal um die Bestellungen, die unsere Bedienung Christine gewohnt zügig bearbeiten wollte und um persönlichen Small Talk, der etwas gesitteter als gewöhnlich ablief. Denn dieses Mal war Beate dabei, und wir sind ja schließlich Gentlemen.

Beate ist eine der Frauen, die ab und zu bei uns vorbei schauen, ein Gläschen Wein trinken und das Vorurteil abmildern, dass Stammtischschwestern nicht existieren. Tun sie doch. Wenn auch nur in homöopathischen Mengen.

Womit ich schon bei der Charakterisierung bin. Beate ist eine Homöopathin. Genauer gesagt eine Homöopathieanwenderin, -propagandistin, -gläubige. Wobei sie leider Naturheilkundler, Heilpraktiker, Kräuterfrauen, Handaufleger, Gesundbeter, Neue Germanische Mediziner, Familienaufsteller, tibetische Klangschalentherapeuten und Rutengänger alle in einen Topf wirft und als Homöopathen bezeichnet, was jetzt aber mit der Sache nur am Rande zu tun hat.

Christine brachte die erste Runde, wir stießen an, und dann kam schon der Kommentar zum Thema, um das wohl kein Stammtisch im Einzugsbereich irgendeiner Brauerei herumkommt:

"Prost, zum Wohlsein, schwoab mas obi, bevor's uns der Taliban verbietet!" Hatte ja kommen müssen.

Und prompt waren wir beim Thema, das von allen Leuten, von allen Zeitungen und von allen Fernsehsendern landauf, landab, Tag und Nacht verhackstückt wird, dass es eine quälende Schande ist. Terrorexperten (ist das ein anerkannter Beruf?) werden zuhauf vor jede Kamera, in jede Talkshow und in jeden ZDF-Sonderbrennpunkt gezerrt und sondern unheilschwangeres Nichtwissen ab. Vor-Ort-Berichterstatter (gibt's dafür keinen neudeutschen Anglizismus?) stehen sich die Beine in die Bäuche und bestätigen mit sorgenvollen Mienen im Minutentakt, dass es nichts Neues gibt, und die Verbrecherbande IS (= Idiotenstaat; besser wäre SS = Satanischer Staat) haut sich auf die Schenkel und freut sich über die ubiquitäre und universelle Propaganda. Ach wie recht Lenin doch hatte, als er sagte … Aber ich schweife ab und rege mich schon wieder auf.

Ich wusste natürlich, dass es keinen Sinn macht, über die Ursachen von Hunger, Flucht und Vertreibung zu reden, über Kolonialismus, Brutalkapitalismus, über Korruption und Waffengeschäfte, über Militarismus und Wahhabiten-Faschismus, oder über die alles überwuchernde Macht, die für das Elend der Welt verantwortlich ist: die gottvermaledeite Gier einer im Verhältnis zur Weltbevölkerung verschwindend kleinen Clique von ein paar Menschen. Menschen? Ich wusste, ich kann am Stammtisch keinen Vortrag über Geschichte, Machtverhältnisse oder Wirtschaftsliberalismus (was für eine putzige Verniedlichung) halten, oder über Krauss-Maffei, oder die menschenverachtende Wallstreet. Dietmar ist da sehr empfindlich mit seinen paar Blue-Chips. Nein, ich wollte dazu einfach meine Klappe halten, mein Bier trinken und, wenn's dann schon nicht anders ging, das Gespräch auf Fußball lenken, das hilft immer. Aber bei den momentanen Affären gerade nicht, wie ich mir noch rechtzeitig in Erinnerung rief. Also nichts sagen, denn schließlich sind sie ja alle meine Stammtischbrüder. Und heute zufällig auch meine Stammtischschwester in Form von Beate.

Diese Beate war aber der Ansporn meiner erhöhten Bestellungsrate bei Christine.

"Es werden ja immer mehr, so geht das nicht weiter, die ganzen Terroristen und Montenegroalbanesen kommen zu uns und sind auf unser Taschengeld aus!" Ich konnte bis dahin noch irgendwie folgen, wenn auch mit Bauchgrimmen, das ich mit einer neuen Halben beruhigte. Aber Beate ließ nicht locker. Vor wenigen Wochen noch völlig normal, hatte sie zwischenzeitlich ein Erlebnis, das sie völlig traumatisiert haben muss. Sie erzählte, dass sie nachts beim Nachhauseweg von der Ajurvedagymnastik mit ihrem A-3-Hausfrauenpanzer an einer roten Ampel halten musste. Plötzlich sei sie von fünf jungen Negern umringt gewesen, die zu ihr ins Auto und auf den Beifahrersitz geschaut hätten. Furchtbar sei das gewesen, beängstigend, jaja. Und klar, natürlich habe sie alle Türen sofort verriegelt.

"Warum?" Beate schaute Claus irritiert an.

"Wie warum?"

"Na ja", prustete Claus, "um von fünf jungen Schwarzen umringt zu werden, dafür fahren viele Frauen extra nach Afrika oder nach Kuba, pfffhhh!" Claus ist manchmal ein richtiger Depp. Und seine Erklärung brachte auch keine Klarheit, warum die Schwarzen auf den Beifahrersitz geschaut hatten und nicht in die erschreckten Augen einer etwas in die Jahre gekommenen Münchnerin. Während Beate um Fassung rang, versuchte Peter einen anderen Ansatz:

"Vielleicht waren die aus dem Kongo oder so, wo Linksverkehr herrscht und waren entsetzt, dass da keiner am Steuer sitzt?"

Roland, der Verbalerotiker, hatte natürlich eine völlig andere These:

"Schon unsere geliebte Fürstin Gloria von Thurn und Taxis hat erkannt, dass der Schwarze halt gern schnackselt!" Sofort sprang ihm Reimund bei, der in Sachen Gürtellinie auch immer gerne tief darunter unterwegs ist:

"Ganz recht, Roli, aber ned nur der Neger schnackselt gern, sondern auch die andern, die Sibirer oder Syrer oder so, ihr wisst es eh!" Ich stürzte mein viertes Bier hinunter.

"Die ham scho zehn Kinder, und bevor sie ins Schlauchboot steigen, schwängern's erst no amoi ihre Weiber, damit's bei uns no mehra Kindergeld kriegen!"

Die Bilder von völlig zerbombten Städten im Kopf, von verängstigten, in alle Ewigkeit traumatisierten Kindern, von vernichteten Existenzen, skrupellosen Schlepperbanden und von unzähligen Särgen, die die Ertrunkenen aufnahmen, die gefunden worden waren, war ich trotz des vierten Bieres schon nahe daran, mich zu vergessen, als mir Beate den finalen Tiefschlag verpasste.

"Ja, genau, die Frauen!", eiferte sie, voll informiert, wie immer. "Letzte Woche hab ich den Vorsitzenden vom Tauchclub Fette Robbe getroffen, und der hat mir gesagt, dass sie jetzt ein anderes Hallenbad fürs Training suchen, weil's im Stäblibad einen Moslemfrauentag eingeführt haben. Und da stehen die dann in ihren Kaftans und Burkas und Kopftüchern im Wasser und verrichten dort ihre Notdurft!" (Originalwortlaut von mir entschärft)

Dietmar versuchte den üblen Blödsinn dahingehend zu neutralisieren, indem er darauf hinwies, dass doch die Moslems schon tollste Bäder hatten und Körperhygiene betrieben, als bei uns die Adeligen noch in die Korridore und Dachböden ihrer Schlösser schissen, vom armen Volk ganz zu schweigen, und dass heute die Araberfrauen die Dessousläden und Parfümerien am Marienplatz leer kaufen würden. Und ob es vielleicht nicht sein könne, dass der Tauchclubfuzzi ein faschistisches, rassistisches Arschloch sei?"

Fast wäre diese Aussage zu spät gekommen, denn ich hatte meine Hand schon sehr, sehr weit erhoben. Zum Glück interpretierte das Christine, die gerade hinter mir vorbei ging, als Aufforderung zum Kassieren, was mich vor der Rolle des Frauenschlägers rettete.

 

Als ich zuhause war, bekam ich keinen Kommentar von meiner Frau. Warum auch – ich war plötzlich stocknüchtern geworden. Zwei Minuten am PC ergaben, dass es im Stäblibad noch nie einen Moslemfrauenbadetag gegeben hatte, auch nirgendwo sonst. Zwei Minuten.

Aber wer, wie Beate, zuhause Steckdosen hat, die den Atomstrom abhalten, wer glaubt, mit Pendeln Parkinson heilen zu können, wer jeden gottverdammten Mist glaubt, ohne sich selbst ein Urteil zu bilden oder wenigstens sein Hirn einzuschalten, der glaubt auch rechtsradikalen Idioten alles. Traurig.

Ich weiß nicht, ob ich wieder zum Stammtisch gehe. Ob ich mir die Blödheit der Welt antun will. Aber dann haben die Naiven, die Unwissenden, die Nachplapperer, die Deppen gewonnen. Will ich das? Nein!

Sicherheitshalber schenke ich mir jetzt ein Glas Kilbeggan Whiskey ein und verzichte auf ein paar redundante Hirnzellen. Sonst werde ich wieder aggressiv.

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.12.2015

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