Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen beträgt dreiundsiebzig Jahre. Fünf Sekunden sind 0,000000217 Prozent davon. Vernachlässigbar wenig, könnte man meinen. Und doch ist diese lächerliche Zeitspanne manchmal erschreckend entscheidend. Oder sind es nur Zufälle?
STEPHANIA. 07. März, 10:12:05 Uhr
Wütend knallt Stephania Brouwen den Deckel ihres Laptops zu.
"So ein verdammter Shit!", schimpft sie. Jetzt ist ihre Chance, den Work-and-Travel Job zu bekommen, im Nirwana des Internet verschwunden. "Hätt' ich mich doch bloß nicht auf das verdammte taiwanesische Versteigerungsportal eingelassen, ich blöde Kuh! Godverdomme, nur fünf Sekunden zu spät …" Sie schubst den Rechner weg, als könne der etwas dafür und stapft zornig in die Gemeinschaftsküche des Youth-Hostel, um sich einen Tee zu machen. Einen Beruhigungstee.
AISHAH. 07. März, 23:49:00 Uhr
Es muss schnell gehen. Aishah Hashim hat nur fünf Sekunden, in denen sie handeln muss. Und die hat sie auch nur, wenn alles so abläuft wie immer. Aber sie ist guter Dinge. Bisher liegt das Team voll im Zeitplan. Keine Abweichung von der Routine. Dreck und Müll wie immer. Also weiterarbeiten. Es wird klappen. "Allahu akbar", flüstert sie und bückt sich nach einer zerfledderten Zeitung.
NAJIB. 07. März, 23:59:12 Uhr
Najib Shankar parkt den Service-Truck an der Versorgungshalle und sieht auf die Uhr. Perfekt. Er hat die Catering-Container ausgeliefert und nebenbei sein Päckchen zugestellt. Jetzt wartet er auf seinen Kollegen.
Pünktlich kommt der Tankwagen ins Depot und hält neben der Zapfstation. Der Fahrer stellt den Motor ab und klettert aus dem Fahrerhaus. Er geht direkt in die Halle, knallt sein Klemmbrett auf die Bürotheke und begrüßt Najib:
"Hi, Bruder, geh'n wir nachher einen trinken? Oder erlaubt Allah das heute nicht?"
"Heute schon, es ist doch schon Nacht, da schläft Allah, mein Bruder!", antwortet Najib Shankar und lacht. Und über die Schulter seines Kollegen hinweg versucht er heimlich die Eintragung auf dem Lieferschein auf dem Klemmbrett zu entziffern. 55.600 Kilogramm. Perfekt. "Ich will nur noch kurz telefonieren, dann treffen wir uns in der Kantine, okay?"
"Geht klar, ich muss eh noch meine Lieferscheine abgeben, bis gleich."
Najib Shankar geht aus der Halle, zieht sein Handy aus der Brusttasche seines Arbeitskombis und tippt eine SMS. Es ist nur eine Zahl: 55.600.
Währenddessen nimmt sein Kollege das Clipboard, klemmt einen neuen Lieferschein obenauf, trägt die Daten seines letzten Auftrags ein und unterschreibt. Das dauert nur fünf Sekunden. Dann geht er in die Abteilung hoch und übergibt die Lieferscheine dem diensthabenden Teamleiter. In der Rubrik Liefermenge auf dem obersten Schein steht: 49.100 Kilogramm.
AISHAH. 08.März, 00.00.05 Uhr
Sie hat es geschafft. In den fünf Sekunden, in der ihr Vorarbeiter im Quergang vor den Sitzen D,F,G auf die andere Seite der Maschine wechselt, schiebt sie das Päckchen aus ihrem Putztrolley in die Schwimmwestentasche von Platz 1C und arbeitet weiter. In 20 Minuten wird die Maschine startklar sein. Ihr Platz im Paradies ist sicher, hat der Imam gesagt. Allahu akbar.
JEFFREY. 08. März, 00:09:30 Uhr
Jeffrey Bullock, alias Ali Ben Abash liest die beiden SMS auf seinem Prepaid-Handy. Die erste lautet wie die 97. Sure des Korans: Al-Kadr. Nacht des Schicksals. Und die zweite zeigt nur eine Zahl: 55.600.
Zufrieden nickt Jeffrey und spielt in Gedanken noch einmal alles durch. Er wird nur fünf Sekunden Zeit haben, aber das muss reichen. Schließlich ist er Profi. Sein Rücken kribbelt, als er an seinen Lohn denkt. Dann nimmt er die SIM-Karte aus dem Handy, knickt sie durch und wirft sie in einen Mülleimer.
STEPHANIA. 08.März, 01:05:00 Uhr
Stephania Brouwen schreckt aus einen wüsten Traum hoch. Sie steht auf und setzt sich vor den Rechner, ohne ihn hochzufahren. Ihr Beruhigungstee war wohl etwas stark gewesen. Oder war es der Gin, mit dem sie ihn verdünnt hatte? Sie ärgert sich noch immer, weil sie nicht rechtzeitig zugeschlagen hatte. Aber einen regulären Flug nach Peking hätte sie sich nie und nimmer leisten können. Und der Preis war gestern immer weiter gesunken. Nur fünf Sekunden hatte sie nicht auf den Bildschirm geglotzt, schwuppdiwupp, ausgebucht. Klar, First-Class-Plätze gab es noch, aber von dem Geld könnte sie ein Jahr lang leben. Diesen Work 'n' Travel-Job im bekanntesten chinesischen Zoo zu bekommen wäre ihr Traum gewesen. Kanada, Neuseeland – kein Problem. Aus Australien kam sie gerade. China wäre so ein toller Kontrast gewesen, aber dafür hätte sie heute in Peking sein müssen. Aus und vorbei. Manchmal hat man einfach Pech. Ob sie gleich etwas Neues suchen sollte? Sie gähntausgiebig und schlurft zurück zu ihrer Koje. Der neue Tag ist ja gerade mal eine Stunde alt.
JEFFREY. 08.März, 01:15:00 Uhr
Jeffrey Bullock sitzt seit dem Start kerzengerade auf dem lange vorgebuchten Platz 1C in der Business Class. Er hat eine Decke über die Beine gezogen, beobachtet ununterbrochen die Tür, die ins Cockpit führt und streichelt den Lauf der Glock 37, die auf seinen Knien liegt. Eine Glaubensschwester hat die Waffe in der Schwimmwestentasche unter dem Sitz versteckt, wie besprochen. Glaubensschwester? Jeffrey grinst. Allahu akbar? Scheiß drauf, ihr Idioten! Er wird etwas nervöser. Wann geht einer dieser Kerle endlich pissen oder holt sich was zum trinken? fragt er sich immer öfter und blickt zum x-ten Mal auf seine Armbanduhr.
ZAHARIE. 08.März, 01:19:05 Uhr
Die Boeing 777-200 ER hat ihre Reiseflughöhe erreicht. Flugkapitän Zaharie Ahmad Shad setzt einen Funkspruch an Kuala Lumpur Flugüberwachung ab:
"Selalat malam, good night. Malaysian 370." Dann schnallt er sich ab, übergibt die Steuerung an den Copiloten und steht auf.
JEFFREY. 08.März, 01:19:10 Uhr
Endlich! Die Cockpittür geht auf. Jeffrey wirft die Decke von den Beinen, hebt die Glock 37 und drückt ab, bevor der Pilot die 40.000-Dollar-Tür schließen kann. Jeffrey Bullock rennt nach vorn, springt über den zusammensinkenden Körper hinweg ins Cockpit und erschießt kaltblütig den Copiloten, der nicht einmal richtig mitbekommt, was passiert. Dann, noch bevor das erste Geschrei der Passagiere anfängt, schiebt er den leblosen Körper des Kapitäns aus der Türöffnung und verschließt die aufbruchsichere Schleuse. Nachdem er sich vergewissert hat, dass der Copilot wirklich tot ist, setzt er sich auf den freien Platz und schaltet sofort den Autopiloten, den Transponder und das ACARS-System ab. Damit ist die Maschine nicht mehr zu orten oder zu erreichen. Dann dreht er die Boeing um 270 Grad und fliegt einige Steig- und Sinkmanöver, um eventuelle Militärradarstationen zu verwirren. Mehrfach wechselt er seine Richtung. Er hat ja viel mehr Sprit als erwartet.
Schließlich programmiert er das Flight Management System neu und lehnt sich entspannt zurück. Nie wieder würde er schrottreife Tupolevs für windige Waffenschieber fliegen müssen. Die 100.000 Dollar Anzahlung und der Rest von 400.000 Dollar, die er am Zielflugplatz erhalten würde, sollten bis zu seinem Lebensende reichen.
Auf der seit dem Ende des kalten Krieges verlassenen Flugbahn auf der unbewohnten Insel Middle Brother würde er landen, seine 'Passagiere' den Auftraggebern überlassen und mit der bereitstehenden Cessna verschwinden. Was mit den Menschen passieren würde, interessiert ihn nicht. Es ist ihm egal. Er lacht. So was von scheißegal!
FLUGÜBERWACHUNG KUALA LUMPUR. 08. März, 06:32:01 Uhr
Nachdem von verschiedenen Fluglotsenstellen in Vietnam und Kambodscha Nachfragen kamen, angeblich diverse Vorgesetze aus dem Bett geholt worden waren und scheinbar unglaublich spät realisiert wurde, dass etwas mit Flug MH 370 nicht stimmte, wird endlich, mehr als fünf Stunden nach dem Verschwinden der Maschine von den Radarschirmen, der Notfall ausgerufen.
Seit 12 Minuten hätte die Boeing auf dem Flughafen Peking stehen müssen.
JEFFREY. 08.März, 08:12:07 Uhr
Dass etwas mit Flug MH 370 nicht stimmt, realisiert auch Jeffrey Bullock, nur etwas später, nämlich als sein Backbordtriebwerk eine Störung meldet und dann ausfällt. Eine Boeing ist keine Tupolev, hat viel mehr Anzeigen, Prüfmenüs und Steuerungsfeatures, dennoch dauert es nur fünf Sekunden, bis Jeffrey die Ursache erkennt. Er hat schlicht vergessen, die Tankanzeigen zu checken. Der Sprit ist alle. Weitere fünf Sekunden dauert es, bis es in sein Gehirn sickert, wo der eigentliche Fehler lag: Die Tankmeldung seines Kontaktmannes in Kuala Lumpur muss falsch gewesen sein.
Jeffrey Bullock ist ein emotionsarmer, kühl denkender Mensch. Er erkennt sofort, dass er aus seiner momentanen Position über dem Indischen Ozean keine Landemöglichkeit erreichen kann und eine Notwasserung nur zu einem erbärmlichen Ertrinkungstod führen würde. Folgerichtig steckt er den Lauf seiner Glock 37 in den Mund und drückt ab.
Nur fünf Sekunden später setzt das Steuerbordtriebwerk aus.
LI BOA. 08.März, 09:31:00 Uhr
Li Boa Dai nimmt den Hörer ab, lauscht kurz und legt wieder auf. Seine Befürchtung hat sich bestätigt. Flug MH 370 hatte die Flugbahn geändert, wie es geplant war. Aber die Maschine war nicht an ihrem Bestimmungsort angekommen. Sofort zieht er seine Schlüsse. Als Chef von Sun Yee On, der gefährlichsten Triade weltweit, ist er Oberhaupt aller Chiu-Chaus, wie die organisierten Verbrecherbanden im alten China genannt worden waren.
100.000 Dollar Investitionskosten muss er abschreiben, was nicht weiter schlimm ist. Aber das Konsortium der Malaysia Airlines und die Regierung werden nicht zahlen, wenn die Geißeln verschwunden sind. Noch vor drei Stunden war Zustimmung signalisiert worden und erst dann die Notfallroutine in Gang gesetzt worden. Li zischt einen Fluch durch die Zähne. Alle Vorarbeit war vergebens gewesen. Aber die offiziellen und inoffiziellen Stellen würden Stillschweigen bewahren, denn die Gewinne würden einbrechen, politische Wellen hochschlagen, wenn die Wahrheit ans Tageslicht käme. Für die Öffentlichkeit wäre der Fall schnell klar: Islamistische Terroristen. Schließlich deutete die Flugbahn Richtung arabische Halbinsel. Irgendein Schwachkopf einer Terrorgruppe wird schon freiwillig die Verantwortung übernehmen und sich damit brüsten. Im Namen Allahs, des Allmächtigen.
Nur in diesen einen Punkt irrt Li Boa Dai.
Doch er hat einen Plan B in der Tasche. Er wird seine Forderung bekommen oder gleich die ganze Firma. Jeder sollte wissen, dass das Oberhaupt von Sun Ye On immer sein Wort hält. Auch sein Pilot hätte die 400.000 Dollar erhalten, wie vereinbart.
Li Boa Dai nimmt ein Blatt Reispapier von seinem Schreibplatz, taucht die Feder in Tinte, schreibt eine Notiz und klingelt seinem Sekretär.
Die Botschaft lautet:
Reiseflughöhe Boeing 777: bis 12.000 Meter. Kampfhöhe BUK-M1 Abwehrrakete: bis zu 24.000 Meter. Reaktionszeit nur fünf Sekunden.
Diese Drohung ist klar und unmissverständlich. Sollten seine 'Geschäftspartner' nicht zahlen, würde nicht heute, nicht morgen, aber ganz sicher irgendwann am Rande eines Krisengebietes, das von seinen Waffenschiebern beliefert wird, eine Flugabwehrrakete starten und seine Drohung wahr machen. Er hofft, dass das seinen 'Geschäftspartnern' klar sein wird.
Sorgfältig faltet er das Schreiben, versiegelte es und reicht es seinem Sekretär.
EPILOG
239 Menschen waren an Bord von Flug Malaysia Airlines MH 370 und vier Monate später 298 auf MH 17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur. Weder die eine noch die andere Katastrophe ist aufgeklärt. Aberwitzige Theorien wurden veröffentlicht. Diese ist so glaubwürdig wie jede andere.
Malaysia Airlines behauptete, vor der Pleite zu stehen, entließ 6000 Mitarbeiter und gehört seit Herbst 2014 dem Staatsfond Khazanah Nasional. Hauptaktionär ist eine chinesische Holding, der Kaufpreis wird geheim gehalten. Vorsitzender der Gesellschaft ist ein gewisser Li Boa Dai aus Peking.
Er hatte sein Wort gehalten – vier Monaten nachdem er seine Drohung auf Reispapier gemalt hatte.
Es gibt sozusagen Überlebende, die davon aber bis heute nichts wissen. Zum Beispiel eine gewisse Abiturientin namens Stephania Brouwen. Sie hatte ihr Pech mit der verpassten Chance eines Schnäppchenfluges nach Peking nicht lange beklagt, sondern sich einen Job in Kuala Lumpur gesucht. Doch je länger sie arbeitete, desto unzufriedener wurde sie in dieser Metropole. Keine Freunde, zu hektisch, zu schnell, zu laut. Als sie zum wiederholten Male ihrer großen Schwester Geertruida ihr Leid via Skype klagte, versprach diese, sie bald in Kuala Lumpur zu besuchen.
Nur fünf Sekunden bevor Geertruida am 17. Juli an den Schalter im Flughafen Schiphol treten wollte, um einen Last Minute Flug nach Kuala Lumpur zu buchen, erhielt sie eine SMS von ihrer Schwester:
Hi geert, hab w&t job in tansania, fliege schon morgen los, serengetipark ich komm!! Is doch toll schwesterherz?!!:) kuss steph!
Unwahrscheinliche Zufälle?
Fünf Sekunden sind 0,000000217 Prozent eines Menschenlebens. Anders gesagt, gibt es in 73 Jahren 460.425.600 Zeitspannen, die nur fünf Sekunden dauern. In jeder dieser Zeitspannen kann etwas geschehen. Ein glücklicher Zufall oder ein unglücklicher. In der Regel erfahren wir eher von den letzteren.
Aber vielleicht halten sie sich global gesehen immer die Waage? Wer weiß ...
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Nachwort 02. August 2015, 13:36:05
In dieser Story wird erzählt, dass die Boeing MH 370 entführt wurde und auf Middle Brother landen sollte. Diese unbewohnte Insel ist Teil der Gruppe Three Brothers (auch Trois Frères) im Indischen Ozean. Die Hauptmeeresströmung hier verläuft entgegen dem Uhrzeigersinn. Wrackteile eines in dieser Gegend abgestürzten Flugzeuges würden nach12 bis 18 Monaten im Gebiet von La Reunion angespült.
Genau das ist am 02.08.2015 passiert. Zwei Wochen nachdem diese Geschichte erstmals bei BookRix veröffentlich wurde.
Zufall?
Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2015
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