Cover

Blick aus der Vergangenheit

 

 

 

 

Es war die archäologische Sensation des Jahrhunderts.

Ein Bagger hatte außerhalb der antiken Stadtmauer der Etruskersiedlung Populonia die Grundmauer eines Grabhügels freigelegt, der augenscheinlich noch nie geöffnet worden war.

Er war von einer dicken Schicht aus Eisenschlacke bedeckt gewesen, die die Römer einfach als Abraum über die ganze Nekropole gehäuft hatten. In der Neuzeit war diese Schicht sukzessive abgetragen und wegen des hohen Resteisengehaltes neu verhüttet worden, wobei die Gräberstadt entdeckt worden war. Nur diese Tomba war bisher verborgen geblieben.

 

Professor Trakatellis vom Centro di Archeologia Sperimentale konnte sein Glück kaum fassen und fieberte dem Moment entgegen, an dem die Umfassungsmauer des riesigen Grabhügels vollständig frei gelegt war und seine Arbeiter den gewaltigen Tuffsteinblock vom Eingang entfernen konnten.

Mit angehaltenem Atem leuchtete er in die finstere Grabkammer und verharrte ehrfurchtsvoll, ehe er durch die enge Öffnung kroch. Nach wenigen Sekunden kam er wieder heraus, schleuderte seinen Helm auf die Abraumhalde und stapfte wortlos davon.

Sein Assistent, Dr. Mario Biagi, und die Arbeiter starrten sich fragend an, bis Biagi seine Helmlampe anknipste und selbst durch das Loch kroch.

"Merda!", schimpfte er, als er wieder ans Licht kam und sich stöhnend aufrichtete. "Es ist leer!" Ihre Hoffnung, endlich eine ungeplünderte Begräbnisstätte zu entdecken, hatte sich zerschlagen. Anscheinend hatten die Diebe in alter Zeit das Grab wieder sorgfältig verschlossen, um ihre Tat zu vertuschen.

 

Als sich die erste Enttäuschung wieder gelegt hatte, war das Team um Professor Trakatellis wieder professionell bei der Sache. Ein Gutes hatte der Verschluss gehabt: Er hatte verhindert, dass Luft in die Grabhöhle gedrungen war. So waren die Fresken in all ihrer Farbenpracht noch erhalten, als wären sie erst gestern aufgebracht worden. Es galt nun, sie schnell abzulichten und zu konservieren, bevor sie dem Verfall zum Opfer fielen, wie bei den meisten anderen Gräbern.

Immer wieder betrachteten sie die Darstellungen und waren fasziniert. Sie konnten sie nicht einordnen. Die Bilder passten so überhaupt nicht zu den bekannten etruskischen Darstellungen; sie schienen eher ein Beschwörungsritual aus einer fremden Kultur widerzuspiegeln.

Seltsamerweise enthielt die Gruft auch nur ein einziges aus dem Tuffstein geschnittenes Podest, wie es üblicherweise zur Aufbahrung der Toten verwendet wurde. Aber das Podest war leer.

Beim Hantieren mit der Vermessungskamera rutschte Mario Biagi plötzlich ein Akkupack aus der Halterung und fiel auf das Totenlager. Der seltsam dumpfe Klang ließ die Archäologen aufhorchen. Eilig schützten sie die Fresken mit Spanplatten und Tüchern vor grellem Licht und richteten den Strahl einer Quecksilberdampf-Hochdrucklampe auf den Tuffklotz. Erst jetzt erkannten sie den extrem feinen Spalt, der auf eine eingelassene Abdeckplatte hinwies.

Und dann die verspätete Sensation: Der Block war hohl und enthielt eine Skulptur, die wie ein Verstorbener in einem Sarg gebettet war.

 

Nachdem sie das Artefakt in das Institut gebracht und auf einen Labortisch gestellt hatten, konnten die Forscher die Figur näher untersuchen. Sie waren fasziniert und abgestoßen zugleich. Die Skulptur war etwa einen Meter hoch, aus einem grünen Obsidianblock geschnitten und stellte ein seltsames Monstrum dar. Die Etrusker waren Meister in der Herstellung fantastischer Fabelwesen; Sphinxe, Greife, Drachen schmückten ihre Grabstätten, Häuser und Gebrauchsgegenstände, aber diese Gestalt stellte alles Bekannte in den Schatten. Drachenflügel, Adlerkrallen und Reißzähne waren so realistisch wiedergegeben, dass die Betrachter unwillkürlich schauderten. Aber das Entsetzlichste war der teuflische Gesichtsausdruck des Monsters. Er strahlte eine derart hinterhältige Bosheit aus, dass die beiden Archäologen am liebsten aus dem Labor geflüchtet wären.

Offenbar war die Skulptur vor ihrer Beerdigung vorsätzlich beschädigt worden. Aus dem Corpus waren Splitter herausgebrochen, und eine Flügelspitze fehlte. Das gläserne Zyklopenauge mitten auf der niederen Stirn war anscheinend mit brutalen Hammerschlägen bearbeitet worden. Rissig und zersplittert starrte es aber immer noch hasserfüllt auf die Betrachter.

 

Nach einigen Wochen war das Grab archäologisch und kunsthistorisch aufgearbeitet, aber der offensichtliche Gegensatz zur bekannten etruskischen Kunst konnte noch nicht erklärt werden. Trotzdem beschloss Professor Trakatellis eine Ausstellung vorzubereiten. Zentrum der Schau und Kassenmagnet sollte natürlich die fabelhafte Gottheit, das satanische Unterweltwesen - oder was auch immer sie da entdeckt hatten - sein. Entgegen der sonst üblichen Vorgehensweise entschieden Professor Trakatellis und Dr. Biagi ohne Teamabsprache, die Statue detailgetreu restaurieren zu lassen. Normalerweise hätten sie das beschädigte Stück ausgestellt, wie es in situ gefunden worden war und eine Kopie des Originalzustandes anfertigen lassen. Aber aus irgendeinem Grund entschieden sie sich anders und schickten die Skulptur für die fachmännische Rekonstruktion außer Landes.

 

*

 

Dr. Paul Strasser war lange Zeit Leiter des Restaurationszentrums der bayerischen Schlösserverwaltung gewesen, hatte sich dann selbstständig gemacht und war zu einem international anerkannten Fachmann für detailgetreue Kopien unersetzlicher Kunstwerke geworden, die er in seiner eigenen Firma anfertigen ließ. Sogar die Chinesen, jahrhundertlange Meister im Kopieren, ließen bei ihm arbeiten. Professor Trakatellis hatte mit Strasser zusammen studiert, sie hatten schon oft zusammengearbeitet und waren seit vielen Jahren befreundet. Er sollte die Wiederherstellung der Statue übernehmen; es gab keinen Besseren.

 

Die Restauration ging professionell vonstatten, aber noch fehlte ein entscheidendes Detail: das Zyklopenauge. Dafür hatte Strasser einen Spezialisten, Pierre Hinrich.

Hinrich, ein bekannter Ocularist, der die besten Augenprothesen der ganzen Republik fertigte, hatte sein Institut in der Neuhauser Strasse. Dort stellte er Pretiosen her, die von der Natur nicht zu unterscheiden waren. Ein Künstler ersten Ranges, der auch für viele Prominente weltweit arbeitete, die ein Auge verloren hatten. Seine Augenschalen waren so gut, dass einige seiner Kunden bei Hollywoodproduktionen weiterhin mitwirken konnten, ohne dass jemand ihr Handicap bemerkte.

Hinrich untersuchte tagelang die Reste des Fratzenauges und fertigte Hunderte von Fotos und Zeichnungen an. Schließlich erklärte er sich bereit, das Auge in seinem Labor zu rekonstruieren. Dabei wirkte er aber nicht gerade enthusiastisch, sondern eher bedrückt und wortkarg.

 

Nur wenige Tage später meldete sich Hinrich telefonisch bei Strasser. Seine Stimmung war völlig verändert; er klang ausgelassen, fast euphorisch.

"Doktorchen, es ist vollbracht. Das Auge ist fertig. Es ist ... fantastisch! Ich habe es noch nicht einprobiert, ich wollte auf Sie warten. Aber machen Sie schnell, mich juckt's in den Fingern!"

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf.

Als Strasser nach etwa zwei Stunden zu dem Geschäftshaus kam, in dem der Ocularist sein Studio hatte, stutzte er. Zwei Streifenwagen mit eingeschalteten Blaulichtern versperrten den Zugang zum Gebäude. Eine Menschenansammlung drängte sich neugierig davor, und der Restaurator hatte Mühe, sich zu einem Polizisten durchzuarbeiten.

"Mein Name ist Dr. Strasser", rief er dem Polizisten zu, der ihn mit erhobenen Händen am Näherkommen hindern wollte. "Ich habe einen Termin bei Pierre Hinrich!"

"Dr. Strasser?", antwortete der Beamte und ließ ihn durch. "Kommen Sie bitte mit." Er fasste Strasser am Arm und führte ihn zur Eingangstür. "Wir haben es hier mit einem tobenden Randalierer zu tun, der immer wieder ihren Namen ruft. Der Notarzt ist unterwegs. Vielleicht können Sie ihn etwas beruhigen!"

 

Sie betraten den Empfangsbereich des Ocularisteninstituts. Aus dem rückwärtigen Raum, in dem das Laboratorium untergebracht war, drangen markerschütternde Schreie, abgelöst von rituell klingenden Gesängen, die nicht weniger furchtbar waren.

Als Strasser näher trat, bot sich ihm ein entsetzliches Bild. Die gesamte Laborausstattung mit Gasbrennern, Schmelztiegeln, Modellierinstrumenten und Schleifgeräten lag am Boden, Splitter überall, halbfertige Glasaugen glotzten Strasser vorwurfsvoll an, ein umgekippter Brennofen qualmte noch, und davor - Strassers Herz drohte stillzustehen – lagen die zertrümmerten Fragmente seiner Etruskerskulptur. Und mitten aus dem Fratzenschädel starrte ihn die leere Augenhöhle der Kreatur an. Böse, hasserfüllt und gleichzeitig tot.

Dr. Strasser hob stöhnend den Blick und sah erst jetzt Pierre Hinrich auf einem Sessel sitzen, gehalten von zwei kräftigen Polizisten. Das Geschrei war einer noch furchtbareren Stille gewichen. Hinrich fixierte Strasser mit starrem Blick wie eine Schlange.

"Ah, Doktorchen, endlich", flüsterte er schließlich. Er kicherte irre und zuckte mit den Augen.

"Zu spät, zu spät, hihihi." Er klapperte mit den Zähnen. "Sie verdammter Mistkerl!", brüllte er dann plötzlich und versuchte aufzuspringen. "Sie... Sie haben IHN auf die Erde zurückgeholt! Sie haben es mir verschwiegen! Da, da, verhaftet den da, er ist SEIN Diener! Hihihihi." Nur mit Mühe konnten die Beamten ihn auf seinem Sessel halten. Doch dann beruhigte er sich wieder.

"Ich konnte es nicht aushalten, ich konnte nicht warten, es hat mich gezwungen. Das Auge ...

IA! SCHUDDUYA IA! BARRA! BARRA! IA KANPA! Hahaha! ER ist PAZUZU! Nur ein kleiner Blick, und ER hätte mich umgebracht. Aber ich hatte vorgesorgt, ich hab's geahnt!

Da ... da ..."

Hinrich versuchte auf einen schweren Hammer zu zeigen, der am Boden lag.

"Den hatte ich zur Hand, als ich das Auge einsetzte. Und ich hab' sofort zugeschlagen, als ich seine Kraft gespürt habe. Peng, peng, eine Sekunde länger, und ER wäre frei gewesen. Ha! Die Pest über München! SEINE Herrschaft hätte wieder begonnen. Lasst mich los!"

Wieder begann er zu toben und konnte nur mit Hilfe des dritten Polizisten gebändigt werden.

 

Dr. Strasser hatte es die Sprache verschlagen. Er machte stumm Platz, als das Notarztteam eintraf, er sah verständnislos zu, wie dem Ocularisten unter Aufbietung aller Kräfte ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt wurde, er hörte nur halb, wie der Notarzt zu den Sanitätern "Nach Haar, in die Geschlossene!" sagte und nickte nur, als ihm ein Polizeibeamter eine Karte in die Hand drückte und ihn zur Vernehmung am nächsten Morgen vorlud.

 

Wie in Trance fuhr er nach Hause und zermarterte sich den Kopf, was er seinem italienischen Auftraggeber und Freund sagen sollte. Endlich hatte er sich soweit beruhigt, dass er den Hörer nahm und das Centro di Archeologia Sperimentale anrief. Trotz der späten Stunde meldete sich die Sekretärin, die Strasser seit langer Zeit kannte. Aber so verstört hatte er sie noch nie erlebt.

Ohne sich zu verabschieden legte er wieder auf und starrte vor sich hin.

Vor wenigen Stunden hatte es in der Nähe von Piombino ein Erdbeben gegeben. Es sei nicht viel passiert; nur das neu entdeckte Etruskergrab sei eingestürzt. Professore Trakatellis und Dottore Biagi hätten darin gerade noch letzte Untersuchungen erledigt. Die Rettungsarbeiten seien noch in Gang, aber es bestünde keine Hoffnung mehr...

 

*****

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.04.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /