"Ciao, Rudolf, scusi per favore, dass ich dich so früh belästige."
Kriminalhauptkommissar Rudolf Reichert war schlagartig hellwach, obwohl er von seinem frisch gebrühten Kaffee noch keinen Schluck getrunken hatte. Wenn die Forensikerin Dr. Miranda Bellini sich für einen Anruf entschuldigte und ihn nicht trocken Reichert, sondern beim Vornamen nannte, war etwas Wichtiges, etwas Seltsames im Busch.
"Kein Problem, Doc, was gibt's?"
"Kannst du mal schnell in die Patho rüberkommen? Ich muss dich um Rat fragen."
Reichert sah auf die Uhr, hakte in Gedanken sein geplantes Weißwurstfrühstück im 'Augustiner' ab und sagte zu.
Zwanzig Minuten später stand er im Institut für Rechtsmedizin der LMU München vor einem Sektionstisch, auf dem ein nackter, hagerer, etwa vierzigjähriger Mann lag. Seine langen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare waren straff nach hinten gebunden, und das Ende des Zopfes ragte splissig unter der Schulter hervor. Der Brustkorb war mit der für forensische Untersuchungen üblichen Schnittführung geöffnet und wieder mit groben Stichen vernäht worden. Ein Anblick, an den sich der Kommissar wohl nie gewöhnen würde. Den Umständen entsprechend sah trotzdem alles normal aus.
Reichert sah Doktor Bellini fragend an, sagte aber nichts. Die Pathologin holte Luft und seufzte.
"Tja, Rudolf Reichert, du siehst mich ratlos, was du wohl sonst nicht von mir kennst." Reichert schwieg weiter.
"Also, pass auf. Das hier ist Gernot Kreutzpaintner. Doktor Kreuzpaintner, genauer gesagt. Hat Philosophie mit irgendeiner Asienrichtung studiert und seit einiger Zeit ein obskures Institut in Schwabing betrieben. So ein Esoterikzeugs, meditatives Trommeln für Männer oder Yin und Yang für frustrierte Hausfrauen, was weiß ich. Jedenfalls ist gestern morgens seine polnische Putzfrau gekommen und hat ihn in seinem Seminarraum auf dem Teppich sitzend vorgefunden. Mit krankhaft verschränkten Beinen - man nennt das wohl Lotussitz - und geschlossenen Augen.
Sie hat dann angefangen, Staub zu wischen, aber irgendwann kam ihr die Sache doch komisch vor. Sie hat ihn angesprochen, und als er nicht reagiert hat, stupste sie ihn leicht an. Da ist er einfach umgekippt. Tot. Hey, Schock! Die Arme ist jetzt in Haar zur Therapie. Aber sie hat es noch geschafft, den Notarzt zu rufen. Kannst du mit folgen?"
Reichert schreckte hoch und sagte:
"Ja klar und dann?"
"Na ja, der Kollege tippte auf Herzinfarkt, hat ihn dann doch ins Schwabinger Krankenhaus mitgenommen, und danach hat er mich angerufen."
"Warum denn dich?"
"Ach, Sergio kennt mich halt."
"Sergio? Aha. Und weiter?"
"Madonna mia, er hat seine Leiche zu uns geschickt, und jetzt habe ich sie am Hals." Reichert sah sie fragend an und wartete. "Pass auf, Kommissario!" Die Forensikerin trat an den Tisch und drehte beide Handflächen des Toten nach oben. "Siehst du die Brandspuren? Es sieht fast so aus, als wäre hier ein starker Stromstoß eingetreten, ein Miniblitz oder so. Ich habe mir dann die Arme angesehen, und fand eindeutige Spuren entlang der Blutgefäße und Nervenbahnen. Und das Herz: grausam. Chaos. Verkleisterte Klappen, Sinus- und Aschoff-Tawara-Knoten gegrillt, die Purkinje-Fasern nicht mehr erkennbar. Tja, alles sieht so aus, als wäre Starkstrom direkt durchs Herz geflossen. Er war sofort tot, ohne Frage."
"Okay", sagte Reichert, "das habe ich verstanden. War da irgendwo in der Nähe eine Stromleitung, an die er hingefasst haben könnte?"
"Nein, eben nicht. Er saß auf seinem Teppich in Meditationsstellung, und es gibt auch keinen Anhaltspunkt auf einen Blitzschlag oder eine statische Entladung, nur …"
"Nur?"
"Normalerweise tritt ein elektrischer Impuls durch einen Arm ein, wenn du etwa an eine nicht isolierte Stromleitung fasst, durchquert das Herz und tritt dort wieder aus, wo der Körper Erdkontakt hat. Aber Kreutzpaintner hatte beide Hände um einen Stein gefaltet, der auf seinen gekreuzten Beinen lag. Der Stein liegt dort drüben, schau ihn dir an."
Sie gingen zu einem Labortisch, auf dem ein dunkelroter, etwa faustgroßer, glattgeschliffener Brocken lag, der wie Sandstein aussah. "Siehst du die Spuren links und rechts? Sie passen genau zu den Brandmalen in Kreuzpaintners Handflächen."
*
Sheriff Geoffrey Simson hatte es satt. Er saß in seinem Büro in der Police Station von Alice Springs und schwitzte wie ein Affe. 42 Grad im Schatten waren einfach zu viel bei einer ausgefallenen Klimaanlage. Seine Kollegen hatten es leichter. Sie waren 'auf Streife'. Haha. Simson wusste, dass sie sich ganz, ganz gemächlich vom voll klimatisierten Josey's Cafe aus durch die voll klimatisierten Geschäfte an der Tod Mall zum voll klimatisierten Shopping Centre durcharbeiteten, dort gründlich die Warenangebote der Shops studierten, dann langsam weiter von Laden zu Laden bis zum Fuße des Anzac Hill hoch und ganz langsam auf der anderen Straßenseite zurück durch ebenso voll klimatisierte Geschäfte mit netten Verkäuferinnen. Und ihren Frauen würden sie abends etwas erzählen von another hard day in the office… Shit.
Und er saß hier, schwitzte und wurde genervt von dem ständigen Geplärre aus dem Zellentrakt. Ja, er hatte es satt.
Stöhnend erhob sich Sheriff Simson und schlurfte durch die Sicherheitstür. Na ja, Zellentrakt. Er bestand aus drei durch Gittertüren versperrten Zimmerchen, in denen gewöhnlich Betrunkene ihre Victoria-Bitter-Räusche ausschliefen. Zurzeit wohnte hier nur ein Kunde, ein Weißer. Und der war nicht betrunken. Er war wütend. Stinkwütend. Rüttelte an der Käfigtür und schrie wüste Beschimpfungen. Geoffrey zog einen Stuhl heran, setzte sich und starrte den Delinquenten durch die Stäbe an.
"Lass mich raus, Drecksbulle!", schrie dieser. "Hol' meinen Anwalt, oder mach wenigstens die scheiß Klimaanlage an. Ich hab' nichts getan!"
"Nummer eins geht nicht", antwortete Simson gedehnt. "Zwei geht auch nicht und drei ist kaputt. Und was Punkt vier deiner Aussage betrifft: Du hast eines der gesperrten heiligen Gebiete der Ureinwohner am Uluru betreten, Kunjia Piti, und das ist strengstens verboten, easy peasy, mate."
"Yea-eah? Verboten, verboten!", äffte der Käfiginsasse. "Give a shit! Die dirty mongrel-Abos lassen es sich teuer bezahlen, dass die Touristen auf ihrem heiligen Berg rumkraxeln, und jemand wie ich, der sich zufällig in eins ihrer fuckin' Heiligtümer verirrt, wird in einem Brutofen gefoltert!"
*
Weißwurstfrühstück hin oder her. Hauptkommissar Reichert nahm die Ermittlungen auf, legte eine Akte an und informierte den Staatsanwalt. Der wackelte mit dem Kopf, sah genervt auf die Uhr und sagte:
"Machen Sie mal, Herr Reichert, machen Sie mal, bringen Sie mir was." Dann entschwebte er aus dem Präsidium in Richtung Kaufinger Straße.
"Der futtert jetzt wahrscheinlich meine Weißwürste", schimpfte Reichert und schickte seinen Partner Ganzenmeier los, um das Umfeld des Toten zu checken. Er selbst setzte sich an den Computer und recherchierte im Netz.
Dr. Gernot Kreutzpaintner. Schnell wurde er fündig. Er fand die Homepage des 'Institut für geistige Kraftarbeit', Energie aus dem All, Mutter Erde, Kraftortwanderungen, Gaiabeschwörungen, Steintherapien, den ganzen Supermarkt der Asien-Esoterika, einschließlich aller pseudomedizinischer Wunderheilmethoden.
Reicherts Phantasie kreiste dagegen immer mehr um ein kaltes Weißbier.
Doch dann fiel ihm auf, dass sich sehr viele der auf der Homepage angebotenen Heilsphantasien mit sogenannten Kraftsteinen beschäftigten. Hintergrund war die Vorstellung, dass sich Steine ähnlich wie levitiertes Wasser mit Informationen ihrer Umgebung vollsogen und sozusagen an gewissen Orten der Kraft Chi oder Orgon oder ähnliche positive Schwingungen speicherten und sie woanders - an gut zahlende Kundschaft selbstredend – wieder abgeben würden.
Reichert stöhnte und sah sein Weißbier, die dazu passenden Würste samt rescher Brezen sich auf seinem Schreibtisch materialisieren. Er beschloss, für heute Schluss zu machen, um nicht ins Hungerkoma zu verfallen.
Am nächsten Tag beschäftigte er sich erst mit einem anderen Fall, der ihm wichtiger erschien und arbeitete bis zum Nachmittag durch, als Ganzenmeier im Büro erschien.
Ohne sich groß mit Vorreden aufzuhalten, berichtete er sogleich von seinen Ermittlungen.
"Also, ich hab mir dieses seltsame Institut angesehen. Der Typ scheint gut verdient zu haben, wie mir seine Sekretärin verriet. Sie war übrigens sehr gefasst wenn man bedenkt, dass ihr Chef gerade verstorben ist. Aber sie meinte, dass der Doktor Breutkaintner …"
"Kreutzpaintner."
"Meinetwegen, also dass der nicht so ein kalter Betrüger war, sondern voll an seine Sache geglaubt hat. Er hat sogar nach Feierabend angeblich seine Therapien und Meditationen selbst durchgeführt. Sie war nicht davon zu überzeugen, aber er hat sie auch nicht gedrängt. Ein Überzeugungstäter sozusagen.
Aber zurück zum Fall. In seinem letzten Kurs waren elf Leute, und ich hab die gestern noch besucht. Seltsamerweise waren die alle zuhause." Ganzenmeier schwieg nachdenklich, bis Reichert ungeduldig wurde.
"Und?", fragte er genervt, wohl wissend, dass Ganzenmeier seine eigene Befragungsmethode kopierte.
"Tja, was soll ich sagen? Die sind alle irgendwie gestört. Aggressiv, weinerlich, apathisch oder ängstlich-genervt haben sie reagiert, als ich auf den Esoterikzirkel zu sprechen kam. Haben abgestritten, dass sie überhaupt dabei waren, wollten von nichts wissen, und weißt du was, sie alle haben das so rübergebracht, dass ich ihnen fast geglaubt hätte. Aber nicht mit mir!
Ich bin davon überzeugt, dass sie dabei waren, als ihr Guru das Zeitliche gesegnet hat, vielleicht waren sie die Täter. Und deshalb habe ich gestern Nachmittag noch bei der Staatsanwaltschaft Hausdurchsuchungen beantragt und sie auch sofort genehmigt bekommen."
"Was hast du? Hausdurchsuchungen, ohne mich zu fragen? Was zum Teufel …"
"Erstens warst du schon weg und außerdem bin ich seit zwei Wochen ebenfalls HK, falls du das vergessen haben solltest."
"Schon gut, schon gut, entschuldige. Aber der Esoterikkram nervt mich. Ich bin nur verdammt erstaunt, wie du das in der kurzen Zeit geschafft hast."
"Nun ja, ich hatte einen guten Lehrmeister." Versöhnt-verschämt winkte Reichert ab.
"Ja, wir sind auch heute Vormittag noch mit den Hausdurchsuchungen fertig geworden, und stell dir vor, in allen Wohnungen fanden wir je einen Stein von genau der Sorte, wie beim Kreutzpaintner."
"Interessant. Und die Steine hast du bestimmt schon …"
"… ins geologische Institut zur Analyse gebracht, richtig geraten."
*
Sheriff Geoffrey Simson wischte sich mit einem großen, feuchten Taschentuch die Stirn ab.
"Zufällig verirrt, yeah? Da lachen ja die Hühner, mate! Hast du die Verbotsschilder nicht gesehen? Bist du blind? Analphabet? Du bist hier aufgewachsen, als verarsch mich nicht! Sag mir, was du da wolltest, come on, spill the beans, und wir sehen weiter. Ansonsten kannst du dir hier weiter den Wolf schwitzen!"
"Und wenn ich es sage?", fragte der Gefangene lauernd. "Lässt du mich dann laufen? Herrgott, Geoff, wir kennen uns doch schon so lange!"
"Ja, das stimmt wohl. Hab' dich schon oft genug eingebuchtet. Sag' endlich, was los ist, ich setz' ein Protokoll auf, du unterschreibst, das kommt in die Akte und dann sehen wir, was der Staatsanwalt damit macht. Wenn die Aborigines keinen Druck machen … Ich kann mir bei der Hitze auch einen besseren Platz vorstellen, als hier, mit kaputter Aircondition."
"Na gut, Geoff, das ist wirklich Folter hier. Du hast gewonnen. Sei froh, dass ich die Menschenrechtskonvention nicht anrufe."
"Die kann man nicht anrufen, mate, und jetzt red' endlich!"
"Okay, also …
*
"Du hast schon das Ergebnis der geologischen Untersuchung? Ich glaub's nicht. Schmierst du die oder hast du was mit der Referentin?"
"Hä?"
"Ja, Mann, so schnell haben die noch nie gearbeitet, die glauben doch, weil Steine Milliarden von Jahren alt sind, können die Untersuchungen genauso lange dauern. Also, was hast du?" Ganzenmeier kramte seinen Notizblock hervor, befeuchtete Daumen und Zeigefinger mit Spucke und blätterte umständlich, bis er die Eintragung fand.
"Also, es handelt sich um eine besondere Art von Sandstein, um sogenannte Arkose. Diese Steinart kommt in Colorado vor und im Bereich von Schwarzwald oder den Vogesen."
"Na, dann werden die Spinner wohl einen esoterischen Wanderausflug mit Steinchensammeln und Kirschtortenessen gemacht haben."
"Falsch. Denn diese Steine haben alle einen höheren Eisenoxidgehalt, weshalb sie so rot sind. Rost. Es handelt sich um sogenannte Mutitjulu-Arkose, und die kommt nur in Australien vor, genau gesagt nur an den Olgas und am Ayers Rock, oder im Uluru-Kata-Tjuta Nationalpark, wie es heutzutage korrekterweise heißt."
"Australien. Ich glaub's nicht. Ob wir dahin wohl eine Dienstreise beantragen können?"
"Beantragen schon", grinste Ganzenmeier.
"Aber wie kommen die Steine hierher? Was sagen deine Zeugen?"
"Nun, die sagen gar nichts. Ich hab ja schon gesagt, dass die alle mies drauf sind, richtig krank. Nur einer hat was geschwafelt, dass sie die Steine bei ihrer letzten Sitzung von ihrem Guru bekommen haben, und es sind ja auf allen Steinen seine Fingerabdrücke drauf, wie dir Doktor Bellini schon gesagt haben wird."
"Hat sie nicht", knurrte Reichert, "aber egal. Wir können also davon ausgehen, dass alle, die einen Stein haben, bei der Sitzung dabei waren, bei der Kreutzpaintner gestorben ist. Und danach sind sie mit ihren heiligen Kraftsteinen nachhause gegangen, ohne sich weiter um den Oberguru zu kümmern."
"So sieht's aus, Rudolf. Aber, wie gesagt, die sind alle nicht zurechnungsfähig. Ich habe deshalb schon – wieder ohne dich zu fragen – beantragt, dass die medizinisch-psychologisch untersucht werden. Das war doch in deinem Sinne, oder?"
"Schon gut", winkte Reichert ab. Aber auch wenn die was mit Kreutzpaintners Tod zu tun hatten – was war ihr Motiv, und vor allem: Wie haben sie es angestellt? Doc Bellini ist ratlos." Ganzenmeier räusperte sich, starrte zur Decke hoch und sagte dann:
" Männer, die auf Ziegen starren."
"Was?"
"Ich hab mal ein Buch gelesen von einem gewissen Jon Ronson, das heißt so im Original. 'The men who stare at goats'. Ich glaube, da gibt's auch einen Film. Dabei geht es um absurde Experimente der US-Armee. Die haben versucht, Feinde durch bloße Gedankenkraft zu töten. Und als Testobjekte haben sie Ziegen benutzt. Vielleicht haben unsere Esoterikfuzzis das auch so gemacht."
"Ziegen? So ein hirnverbrannter Quatsch!"
"Wer weiß? Ein Stein, der Menschen umbringt, ist auch Quatsch."
*
Chief Guromarra Yagan vom Stamme der Anunga saß traurig am Ufer des Tümpels an der Westwand des Uluru und starrte ins Wasser. Was hatte das alles für einen Sinn? Die Leute wollten es nicht verstehen. Jeden Tag erlebte er es im Cultural Centre.
Sie sahen sich die alten Filme an, hörten Vorträge über die Tjukurpa, die Stammesregeln, bestaunten die Ausstellungsstücke und beschwerten sich danach, dass sie nicht fotografieren durften. Sie begriffen einfach nicht, dass sie damit die Würde der Ahnen verletzten. Ein sofortiger Post auf Facebook war ihnen unendlich wichtiger, als die Gefühle eines anderen Volkes. Und draußen, am Uluru, würden sie heimlich ein Mitbringsel einstecken, einen Stein, ein verdorrtes Aststückchen oder ein Tütchen mit Sand füllen und auf die Ahnen seines Volkes pfeifen. Die Traumzeit würden sie als verworrene, lustige oder grauslige Märchen verstehen, wenn sie sich überhaupt dafür interessierten und schnell wieder vergessen. Und schon bald würden ihre Trophäen auf dem Müll landen. Sentimentaler Abfall.
Nur die Sensibleren, die Nachdenklicheren unter ihnen würden erahnen, dass der Uluru ihnen zürnte, dass er für die verschiedenen Widrigkeiten verantwortlich war, die ihnen widerfuhren. Und dann, wenn sie auch noch klug waren, würden sie ängstlich und verschämt ihre Beutestücke zurückschicken ans Cultural Centre mit der Bitte, sie dem Berg zurück zu geben, dem Heiligen Berg, der doch alles repräsentierte, was die Traumzeit und das Herz des Volkes ausmachte.
Und er, Chief Guromarra Lyagan, würde die geraubten Fundstücke zum Heiligen Berg zurückbringen, die Rituale durchführen und die Ahnen und Geister zu beruhigen versuchen. Und meistens hatte er Erfolg damit, der Fluch fiel ab von den Sündern. Nur von denen nicht, die ihn wirklich verdient hatten.
Guromarra Lyagan schüttelte sich, spritzte etwas vom heiligen Wasser des Tümpels ins Gesicht und kletterte zurück auf den für Touristen freigegebenen Base Walk, auf dem er zurück zum Cultural Centre wanderte.
*
"Okay also, Sheriff. Ich hab' Steine klauen wollen."
"Steine? You're fuckin' kidding, aren't ya?"
"Nein, Geoff, kein Scherz. Ich hab' das schon mal gemacht. Da gibt's so einen Spinner in Old Germany, der zahlt für heilige Steine richtig Kohle. Big bucks. Aber es müssen wirklich heilige Steine sein, kein Straßenschotter oder so. Er sagt, er erkennt das sofort. "
"Willst du mich verarschen? Ein crazy German drückt big bickies für Steine ab?"
"Glaub mir, ich schwör's! Ich hab' schon einige verschickt, jeweils einzeln in Päckchen, damit der Zoll nichts spannt, und prompt ist die Kohle rübergewachsen. Jetzt wollte er noch mehr, aber als ich welche holen wollte, hat mich dein rotten abo-bastard erwischt."
"Ich fass es nicht. Will gar nicht wissen, was unsere anderen schwarzen Freunde dazu sagen werden. Ach, shit. Komm, bleib bei deiner Verirrungsstory. Das hier ist wirklich Folter. Ich lass dich raus, aber wehe, du erzählst irgendwas rum, mate."
*
Die Besprechung am frühen Morgen hatte nur ein Thema – der Fall Dr. Gernot Kreutzpaintner.
"Haben wir überhaupt einen Fall?", fragte Staatsanwalt Herbert Kaiss provokant. "Gibt es wenigstens einen Anfangsverdacht gegen irgendjemand? Ein Mensch ist gestorben, nicht schön, soll aber vorkommen. Haben wir ein Motiv, haben wir Spuren, die auf ein Verbrechen hin…"
"Na sanft entschlafen ist er ja wohl nicht!"
"… die auf ein Verbrechen hinweisen, Frau Doktor Bellini? Vielleicht war sein Herz geschwächt, vielleicht hat Ihr verehrter Kollege von Schwabinger Krankenhaus seinen Defibrillator falsch eingestellt, als er eine Reanimation versuchte? Vielleicht ist in der Notfallaufnahme etwas schief gelaufen? Wollen wir jetzt die Untersuchungen auf das Städtische Klinikum ausweiten? Na da wird Freude aufkommen! Also: Haben wir etwas Belastbares, Herr Kollege Reichert? Sie schweigen. Also: Der Fall wird abgeschlossen. Punkt. Guten Tag die Herren, Frau Doktor, habe die Ehre." Er stand auf und rauschte von dannen.
Reichert blickte in die Runde, hob entschuldigend beide Hände und sagte:
"Sorry, aber irgendwie hat er ja Recht. Was meinst du, Doc?"
"Cosi cosi, Reichert. Es ist auch für mich das erste Mal, dass ich keine Erklärung finde. Es ist euer Fall, ich bin raus und verabschiede mich, ciao, ciao."
"Okay, schließen wir die Akte. Noch Fragen?"
"Äh, ja, Entschuldigung", meldete sich schüchtern Anja Kohlgruber zu Wort. Sie war Polizeianwärterin und machte gerade ein Praktikum in Reicherts Abteilung. "Etwas sollten wir vielleicht tun."
"Was meinen Sie?"
"Ich habe recherchiert und gelesen, dass es Unglück bringt, wenn man Steine vom Uluru, dem Heiligen Ahnensitz, mitnimmt. Und viele Leute schicken ihre Mitbringsel deshalb zurück. Vielleicht könnten wir das auch, äh, ich meine zwecks Pietät oder so … wenn die Asservatenkammer …"
"Frau Kohlgruber, Frau Kohlgruber", antwortete Hauptkommissar Reichert, "na Sie haben vielleicht Vorstellungen!" Er machte eine Pause und fuhr dann fort: "Ich finde das richtig klasse, tolle Idee! Es gibt keinen Fall mehr und folglich auch keine Asservaten. Wenn Sie das machen wollen – meinen Segen haben Sie. Und meine Hochachtung!"
EPILOG
Vier Wochen später suchte Anja Kohlgruber alle elf ehemaligen Mitglieder des Kreutzpaintner-Seminars auf. Keiner von ihnen hatte irgendwelche Erinnerungen an den Tag seines Todes. Keiner vermisste etwas, und keiner von ihnen wirkte noch ängstlich, verwirrt, aggressiv, verstört oder psychisch labil, wie noch kurz zuvor. Ihre Angehörigen waren überglücklich. Und sie selbst waren mit sich und der Welt im Reinen.Nur Dr. Gernot Kreutzpaintner verließ sein Grab nicht mehr.
Soviel man weiß.
*****
"Die Zeit wird knapp. Unsere Generation repräsentiert vielleicht die letzte Chance, Mutter Erde zu retten, die letzte Chance, die Gesetze und Bräuche der Ureinwohner zu lernen, Wissen und Erfahrung teilen und eine Welt zu schaffen, in der wir alle in Harmonie leben können."
Yothu Yindi, australische Band
Texte: Beret Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2015
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