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Zurück auf Los

 

 

Es ist kalt im Zimmer. Dr. Afreen Anderson zieht die Decke fester um ihre Schultern, drückt sich tiefer in die Couch und starrt aus dem Fenster. Zu kalt für diese Jahreszeit, will sie denken, doch dann lacht sie bitter auf. Sie weiß es besser. Es ist nicht die Temperatur, die sie frösteln lässt, es ist das Alter. Es ist ihr Leben, das zu Ende geht. Sie blickt zum Telefon auf dem Schreibtisch und dann zur Notruftaste des Altenheims, aber sie weiß, dass sie keines dieser Geräte benutzen wird. Wen soll sie auch anrufen? Sie hat niemanden. Heiraten hatte sie nie wollen, es einfach nicht können, obwohl genug Männer ihr den Hof gemacht hatten. Der Grund dafür war ihr erst später klar geworden. Ihre Eltern? Bei dem Gedanken muss sie lächeln. Welche 98-Jährige hat noch Eltern? Aber Afreen Anderson denkt fast täglich an sie.

 

Vor beinahe einem Jahrhundert hatten sie das kleine Mädchen zu sich genommen und ihm damit das Leben gerettet. Und sie hatten Afreen aufgezogen, so fürsorglich, wie man ein Kind nur aufziehen kann. Ihnen hatte sie nicht nur ihr Leben zu verdanken, sondern alles andere auch. Unbeschwerte Kindheit, gute Schulen und ein Studium in dem Fach, das sie seit ihrer Kindheit am meisten interessierte: Biologie.

Als Kind hatte sie zu Weihnachten eine schwedische Ausgabe von Brehms Tierleben bekommen, und von da an war ihr Interesse an der Natur und ihren Kreaturen geweckt. Ihre Lieblingsorte wurden der Tierpark in der nahe gelegenen Stadt und die freie Natur, die direkt hinter ihrem Haus begann. Im Sommer sammelte sie Kaulquappen und verfolgte fasziniert, wie sie zuhause in Einmachgläsern zu Fröschen heranwuchsen, wenn sie nicht von ihren weiter entwickelten Artgenossen vorher gefressen wurden. Und im Winter beobachtete sie die Wölfe, die oft nahe am Waldrand ein Rentier rissen, um sich satt fressen zu können. Dabei hatte sie nie den Gedanken gehegt, dass die Natur grausam sei.

Die Natur ist so, wie sie ist. Grausam sind nur die Menschen.

Diese Erkenntnis festigte sich mit jedem Tag, den sie älter wurde. Vor allem, als die Eltern auf ihr ständiges Nachfragen hin behutsam zu erklären begannen, woher sie kam, warum sie eine andere Hautfarbe hatte und warum ihre Mitschüler sie manchmal hänselten. Indien, ein weites, fremdes Land, das sie nur aus dem Erdkundeunterricht kannte, ja, das war aufregend. Aber dass in ihrem Heimatland Mädchen oft weniger wert sein sollten als Dreck, das konnte sie erst nicht glauben. Und schon gar nicht, dass ihr leiblicher Vater sie nach der Geburt hatte töten wollen, nur weil sie kein Junge war. Doch ihre Adoptiveltern waren immer aufrichtig und gut zu ihr gewesen, so dass es wohl stimmen musste.

 

Heymar Anderson war schwedischer Attaché bei der britischen Kolonialverwaltung gewesen und hatte mit seiner Frau in der Nähe vom gerade neu gegründeten New Delhi gelebt, als eine Polizeistreife das kleine Bündel vorbei brachte. Die Beamten waren zufällig in der Nähe der Hütte und, aufmerksam geworden durch die furchtbaren Schreie der Mutter, hatten sie gerade noch verhindern können, dass der Ehemann und Vater seine Tochter mit dem Köpfchen an einen Felsen schlug. Helga und Heymar Anderson nahmen das winzige, erst wenige Tage alte Mädchen auf und schafften es, dass es überlebte. Als der erste Weltkrieg ausbrach, gingen sie nach Schweden zurück, nahmen die kleine Afreen mit und adoptierten sie nun offiziell.

 

Es scheint noch kälter zu werden und Afreen Andersons Gedanken schweifen immer schneller durch ihr langes Leben.

 

Ihre Eltern hatten durch ihr diplomatisches Geschick, durch ihr Einfühlungsvermögen und vor allem durch ihre Liebe erreicht, dass Afreen bei dem Gedanken an ihre leiblichen Eltern nicht nur Wut und Trauer verspürte, sondern auch ein gewisses Verstehen für die schreckliche Notsituation, bei der es vielleicht um das tägliche Überleben gegangen war.

Dann kam wieder der Winter und das Grauen über die Welt, und das, was das Mädchen von dem Gemetzel des zweiten Weltkrieges mitbekam, war eigentlich zu viel für ihre kleine Seele. Wie konnte Gott das zulassen? Es gibt keinen Gott, da war sie sich schließlich sicher, als sie in ihrer Verzweiflung die Bibel gelesen hatte. Ein wüster, eifersüchtiger, rachsüchtiger, gnadenloser Gott – das konnte nur das Abbild des Menschen sein. Und der Mensch schuf Gott nach seinem Bild und Gleichnis. Daraufhin begann sie endlich mit dem, was sie bis dahin immer vermieden hatte. Sie las alles, was sie über ihre Heimat in den Bibliotheken finden konnte.

 

Afreen Anderson hustet heftig, als sie daran denkt. Heimat. Was für ein Unsinn. Ihre Heimat ist Schweden, nicht Indien. Und was hat sie gefunden? Eine Religion mit Hunderten von Geistern, einen Gott, der dem aus Lehm und Gangeswasser erzeugten Sohn den Kopf abschlägt und ihm einen Elefantenschädel aufpflanzt, eine undurchschaubare Welt, beherrscht von Schöpfern, Erhaltern und Zerstörern. Nebengötter, Reittiere und Dämonen bevölkern ein seltsames Universum – ein Panoptikum des Wahnsinns, wie sie als inzwischen promovierte Biologin erkennen musste. Und immer wieder stieß sie auf Gewalt und Elend, verursacht durch Religionen oder durch Gier, auch in ihrem Geburtsland. Wie konnten die Götter das zulassen?

Sie wollte nicht mehr glauben. Ihr wurde klar, dass alles Menschenwerk war. Aber es musste einen Grund haben, warum Menschen so grausam sein konnten. Ein Mörder-Gen. Ein überproportioniertes Ego-Gen. Ein Gen, das die Menschen dazu bringt, sich zusammenzurotten und ohne nachzudenken, angestachelt durch primitivste Parolen, andere Menschen mörderisch zu bekämpfen. Und immer endet es mit Zerstörung, Auflösung, Tod. Das stand aber im Widerspruch zur Evolutionslehre des Sozial-Darwinismus, meinte sie. Folgerichtig verlegte sie ihre Studien auf die Evolutionsbiologie und ging ihrer These nach, dass es sich doch evolutionsbiologisch irgendwann einmal in den Genen festsetzen müsste, dass Friedfertigkeit, Nachsichtigkeit, Aggressionslosigkeit für ein Überleben der Art besser wäre, als alles andere.

 

Jetzt muss Afreen Anderson so heftig lachen, dass sie ihr Gebiss ausspuckt. Egal, egal. Alles so sinnlos, wie meine Suche nach dem Friedfertigkeits-Gen. Es ist eine Schimäre.

 

Und dann, im fortgeschrittenen Alter las sie über das, was auch ihr Schicksal gewesen war. Wovon sie geglaubt hatte, dass es in einer Zeit der indischen und pakistanischen Atombombe, der indischen Satelliten, der IT-Firmen und High-Tech-Spezialisten nicht mehr denkbar sei. Sie las über die immer mehr ansteigende Anzahl der Tötungen von weiblichen Säuglingen, der Brautverbrennungen, und sie las, dass Indien der gefährlichste Ort der Welt für Mädchen ist. Sie erfuhr, dass trotz aller halbherzigen Gesetze jährlich 50.000 Mädchen abgetrieben und 25.000 nach der Geburt getötet werden, mit steigender Tendenz. Aus Not, aus Verblendung, aus purer Geldgier, bis hinauf in die höchsten Kreise. Sie erkannte, dass es nicht mehr um das Überleben geht, wie vielleicht vor hundert Jahren und musste feststellen, dass die einzige Sorge der Wirtschaft ist, in zwanzig Jahren nicht mehr genug Frauen für die jungen Männer zu haben, anstatt das perverse Kastensystem abzuschaffen. Das war der Moment, wo Afreen Anderson von jedem Glauben an die Menschheit, an die Gerechtigkeit und an irgendwelche Religionen abgefallen war.

 

Sie fühlt, wie schwach sie inzwischen geworden ist, und sie ist dankbar dafür. Sie ist ihren Eltern dankbar, dass sie ein so behütetes Leben gehabt hatte, aber jetzt ist es genug. Sie will weg, sie will in das NIRWANA. Das ist der einzige Begriff einer Religion, den sie noch gelten lässt. Das Nichts.

"Brahma, Vishnu und Shiva, es gibt euch zwar nicht, aber lasst mich endlich ins Nirvana!", ruft Afreen Anderson mit zitternder Stimme, lacht noch einmal laut auf, schließt die Augen und dämmert hinüber.

 

-)(-

 

Grelles Licht weckt sie. Sie hat höllische Schmerzen. Was… was…? Sie sieht eine seltsame Frau, die sie missbilligend anstarrt. Und die etwas Sonderbares sagt. Was ist das? Was sagt sie, was ist das für eine Sprache, ich erinnere mich, es ist… es ist Hindi. Ich verstehe…"Es ist nur ein Mädchen", wiederholt die Frau mit der Kopflampe und spuckt verächtlich aus. Afreen Anderson sieht sich panisch um, erkennt blutige Frauenschenkel, begreift, wo sie ist. Neiiiin! Es darf nicht sein! Es gibt keine REINKARNATION!

Das kleine Wesen pumpt Luft in die Lunge, will sterben, schreit sein Entsetzen hinaus in die Welt, doch noch bevor der Schrei verhallt, löscht das Gehirn alle Erinnerungen, sie verschwinden im Nirwana, und zurück bleibt ein wimmernder, ahnungsloser, hilfloser Säugling.

 

Shiva, der Gott der Zerstörung, lächelt und tanzt. Auf ein Neues.

 

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet den unzähligen Opfern des grausamen Kastenwesens und der Gier

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