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Der Domina-Effekt

 

"Wenn ein Schmetterling in Hongkong mit den Flügeln schlägt, dann gibt's in Hawaii eine Sturmflut, ich weiß, Genosse ", sagte Wladimir Wladimovitsch Putin, der Präsident der Russischen Föderation, leise und fixierte hinter halb geschlossenen Lidern den in steifer Habtachtstellung vor seinem Schreibtisch stehenden Vorsitzenden des Moskauer Militärinstituts, Professor Igorowitsch Strellnikow. Dann sprang er hoch und brüllte mit zum Kreischen tendierender Stimme:

"Halten Sie mich für einen Idioten? Ich habe Ihnen eine Aufgabe gestellt, und Sie kommen mir mit so einer Plattheit! Ökologenschwachsinn, Mathematikerscheiße, Klimageschwurbel! Soll ich mir ein Paar Flügel umschnallen und im Kreml damit herumflattern, bis New York in einer Flutwelle absäuft, oder was?"

"Nein, nein, Herr Präsident", stotterte der käsebleich gewordene Professor für multilaterale Konfliktstrategien am MMI. "Sie haben mich vielleicht falsch verstanden, ich meinte nicht den Schmetterlingseffekt und auch nicht den Domino-Effekt, sondern …"

"Was?"

"Äh, entschuldigen Sie bitte, wahrscheinlich habe ich mich nicht genügend um Audibilität bemüht, schlechter Mensch, der ich bin. Aber ich meinte, wie gesagt, nicht den Domino-Effekt, auch wenn es so geklungen hat, was daran gelegen haben mag, dass meine Stimme aus Ehrfurcht und Sorge…"

"Schwafeln Sie nicht herum, sondern?", schnitt ihm der Präsident den Satz ab.

"Sondern um den Domina-Effekt. Domin-a-Effekt."

 

Jetzt war es der Präsident, der blass wurde. Er sank zurück in den Sessel, der einst dem letzten Zaren gehört hatte und pumpte Luft, wie ein Maikäfer kurz vorm Abheben. Dann wurde er wieder puterrot, während der Konfliktprofessor instinktiv den Kopf einzog.

"Was erlauben Sie sich, mich mit solchen Schweinereien zu belästigen? Dominas! Das sind doch diese halbseidenen Weiber in Lack und Lederstiefeln und mit Hundeketten und Peitschen, zu denen sich nachts Mamasöhnchen schleichen, die sich nach den dicken Brüsten ihrer Mutter sehnen. Oder diese widerlichen Schwuchteln! Und die freuen sich dann, wenn sie verprügelt werden und winseln nach mehr. Wir sollten das Gulag-System wieder einführen, oder die Perverslinge gleich totschlagen! Dann haben sie, was sie wollen, oder?" Der Präsident schien gleich überzuschnappen und fächelte sich mit einem Aktendeckel Kühlung zu.

 

"Ich sehe, Sie kennen sich aus, Genosse Putin", murmelte der Professor unhörbar und fuhr gleich lauter fort: "Genau so ist das, Herr Präsident, und verzeihen Sie mir bitte den überaus gewagten Vergleich. Aber wir haben den Begriff 'Domina-Effekt' als Bild, als Metapher gewählt. So wie 'Schrödingers Katze' nichts mit Tierhaltung zu tun hat, sondern mit einem physikalisches Gedankenexperiment, so hat der Domina-Effekt nichts mit Huren zu tun."

 

Wladimir Wladimowitsch beruhigte sich etwas, aber der Ausdruck seines Gesichtes glich dem eines Schakals kurz vorm Zubeißen.

"Sehen Sie", fuhr der Wissenschaftler fort, "Sie haben uns den Auftrag gegeben, mein Präsident, eine Strategie zu entwickeln, um Mütterchen Russland wieder zu der Macht zu verhelfen, die ihm gebührt. Wir wissen ja, wer die Sterbestunde der ruhmreichen Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik eingeläutet hat: Gorbatschow mit seiner Verräterbande und ihrer verdammten Perestroika! Und wie ist es dazu gekommen? Durch immer mehr Freiheiten für die Republiken. Man hat die Zügel schleifen lassen, die Peitsche an die Wand gehängt und den Ruf nach Unabhängigkeit nicht sofort im Keime erstickt. Dabei waren es immer nur wenige dieser Subjekte, die laut geplärrt und randaliert haben. Aber man hat diese Minderheit eben plärren und randalieren lassen!"

 

Der Professor nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass Wladimir Wladimowitsch Putin zustimmend nickte und dozierte weiter:

"Man hat also diese Clique von Konterrevolutionären und Anbetern des US-Imperialismus weitermachen lassen, sogar diese scheinheiligen Betbrüder in der Ostzone. Deutsche Demokratische Republik!" Er unterdrückte einen Lachanfall und fuhr fort: "Und jetzt? Wenn man sich heutzutage umhört in unseren früheren Vasallenstaaten, was sagen die Mehrheiten? Sind sie glücklicher? Nein, im Gegenteil! Sie sagen, dass früher alles besser, alles geregelter war, dass man hart, aber gerecht regiert wurde und dass man nicht selbst über alles nachdenken musste. Mütterchen Russland hat alle an den dicken Busen gedrückt und lieb gehabt – verzeihen Sie bitte das schräge Bild, mein Präsident. Und wenn sie ungezogen waren, dann sind sie gezüchtigt worden, wie es zu einer guten Erziehung gehört. Und alle waren glücklich und zufrieden.

Was der antiautoritäre Erziehungswahnsinn bringt, sieht man im Westen: Aufmüpfige, faule, freche Blagen liegen mit löchrigen Hosen auf dem Sofa rum, lassen sich das Resthirn mit Ohrstöpseln rausblasen und interessieren sich nur für sich selbst. Aliens im Haus der Eltern, die nichts dagegen machen. Und das, übertragen auf die Politik, ist mit der ruhmreichen UdSSR geschehen:

An allen Ecken und Enden sind diese verzogenen Fratzen an die Macht gekommen und terrorisieren mit ihren sogenannten Regierungen jetzt den Großteil der Bevölkerung, der mit dem alten System mehr als zufrieden war."

Igorowitsch Strellnikow machte eine Pause und sah den Präsidenten an, der unschlüssig mit dem Kopf wackelte.

 

"Worauf wollen Sie hinaus?", fragte Putin schließlich, deutlich milder gestimmt. Er bot Strellnikow sogar mit einer vagen Handbewegung einen Stuhl an, auf dem dieser zögernd Platz nahm.

 

"Nun, mein Präsident, verzeihen Sie mir, dass wir den Begriff Domina-Effekt kreiert haben, aber ich werde umgehend dafür sorg…"

"Geschenkt. Weiter!"

"Also, wir im MMI haben herausgefunden, dass dieser … dieser …"

"Domina-Effekt, verdammt!"

"Äh ja, dass also dieser Domina-Effekt unser früheres Staatsgebilde zusammen gehalten hat. Egal welche Schikane, welche Gemeinheit, welche Grausamkeiten sich das damalige Politbüro für die Bevölkerung ausgedacht hatte, es waren immer sofort genügend Vollstrecker da, die bereit waren, sie anzunehmen und umzusetzen. Ja sie schrien sogar ständig nach mehr, nach härteren Maßnahmen, genau so, wie es die Kunden der Dominas tun. Und wenn sie es bekommen haben war es kurz gut, und dann wollten sie wieder Schläge. Keine Erleichterungen, nein, mehr Schmerzen. Also, was wir tun müssen ist, diesen Zustand wieder herzustellen. Schritt für Schritt, langsam, aber beständig. Jede Sucht baut sich nach und nach auf. Wir, also Mütterchen Russland, besinnt sich und nimmt wieder die – entschuldigen Sie bitte – Domina-Rolle ein. Peitsche, Knebel, Hundeleine."

 

"Und Sie glauben, dass das funktioniert, Professor Strellnikow?"

"Nun ja, mein Präsident, wir haben viel Zeit verloren. Aber wir sollten nach und nach damit beginnen. Erst einmal mit einem Testlauf."

"Und wo?"

"Wir vom MMI sind der Meinung, dass wir ein geeignetes Testobjekt gefunden haben. Und danach können wir uns die anderen abtrünnigen Gebiete vornehmen.

 

Mein Präsident, wir schlagen vor, wir probieren es erst einmal mit - der Krim."

 

 

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2014

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