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DAS HAUS

 

 

 

 

 

 

 

Öffne die Tür,

Lausch im Dunkel!

Nur Windesgestöhn für und für

Und Gefunkel

Von Tränen im Mondeslicht

Und, wie geträumt, ein Schritt,

Verhallend, ohne Gewicht –

Und Nacht und Tod gehen mit.

 

 

 

Ich habe dir doch gleich gesagt, dass das nicht funktionieren wird.

"Was für ein Bullshit!", schrie Marvin Jentschke aus dem offenen Wagenfenster, als ihm der Spruch seines Partners wieder einfiel. Ein Spruch, den er hasste wie die Pest. Madeleine hatte das auch immer gesagt, wenn ihm etwas missglückt war. Sie hatte es sehr oft gesagt, weil er dauernd etwas  geplant hatte und sie dann immer dran rumnörgelte, wenn es schief ging. Aber nur dem, der nie etwas unternimmt, nie etwas wagt, der scheitert nicht, oder?

"Ich habe dir doch gesagt … bebbebbebbebb", äffte er seine Ex-Freundin nach. Dieses nachträgliche Klugscheißen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, hatte wahrscheinlich schon ganz andere Leute als ihn zum Wahnsinn getrieben.

Während der Motor leise vor sich hinbrummte, überlegte sich Jentschke Beispiele für seine These.

Ich habe dir doch gleich gesagt, dass das so nicht funktionieren wird,

- rief die Frau vom Ulmer Münster, als sie ihren Schneider in der Donau treiben sah.

- sagte der Kanonengießer, als Jules Verne versucht hatte, sich auf den Mond zu schießen.

- höhnte der linke Schächer über den Messias am Nachbarkreuz.

Na ja, jetzt wurde es blöde. Aber dass auch sein Partner im kritischsten Moment ihrer Unternehmung diesen Spruch entsetzt ausgestoßen hatte, war der Gipfel gewesen. "Letztendlich hat es ja doch geklappt, und ich bin der Gewinner, ihr beschissenes Pack!", schrie Marvin Jentschke die Windschutzscheibe an.

 

Das Sträßchen wurde enger und kurviger, und plötzlich versagte das Navi. Nur der Tatsache, dass er sich die Gegend über Google Earth angesehen hatte, war es zu verdanken, dass er die winzige Straßeneinmündung mitten zwischen Sonnenblumenfeldern, Maisäckern und verwilderten Hecken nicht übersah. Er hielt kurz an, verglich den Computerausdruck mit der Wirklichkeit und nickte. Das war die Abzweigung, hier musste das Ferienhaus stehen, das er gemietet hatte.

Er legte den Gang ein und bog vorsichtig in den von ungepflegten Pflaumenbäumen, Ginsterbüschen und von Efeu überwucherten Mauerresten begrenzten Weg ab. Madeleines kleiner Wagen hatte gerade Platz, aber entgegenkommen durfte hier keiner. Doch das war auch unwahrscheinlich. Die Gegend war so weit von jeder Stadt entfernt, dass sich Fremde hierher sicher nicht verirren würden. Die Bauern, denen er begegnet war, saßen auf Traktoren, die hier keinen Platz hätten. Und andere Mieter von Ferienhäusern? Diesen Gedanken schob Jentschke gleich beiseite. Erstens war es außerhalb der Urlaubszeiten und zweitens: Wer sollte freiwillig Geld für eine heruntergekommene Bauernkate bezahlen, hundert Kilometer von der Atlantikküste entfernt, in einer gottverlassenen Einöde? Höchstens ein Spinner.

Dann, nach einer engen Kurve, tauchte plötzlich das Haus auf.

Marvin Jentschke stoppte den Wagen und ging ein paar Schritte an einer übermannshohen Bruchsteinmauer entlang auf das Gittertor zu. Es war ein rostiges Monstrum, dessen beide Flügel oben durch einen ebenso rostigen Überwurfring zusammen gehalten wurden. In Brusthöhe baumelte  eine massive Eisenkette im gleichen Habit der Vergänglichkeit. Ihre Enden waren mit einem offenbar nagelneuen, silbern-goldig blitzenden und glänzenden Vorhängeschloss verbunden. Es wirkte so deplaziert wie ein eiergroßer, geschliffener Diamant an einer angelaufenen Neusilberkette um den faltigen Hals einer 90jährigen Säuferin.

"Wahnsinn!", rief Jentschke und starrte fasziniert durch die Eisenstäbe zu dem alten Haus hinüber.

Dieses Gebäude, der Zufahrtsweg, das Grundstück, die ganze Gegend – hier lag wirklich nicht einmal der sprichwörtliche Hund begraben.

Instinktiv wusste er es, zog aber trotzdem sein Handy aus der Tasche und blickte auf das Display. Naturellement, kein Netz. Befriedigt schaltete er das Gerät aus. Super! Genau das, was er gesucht hatte. Pure Einsamkeit am Rande der Welt. Hier würde ihn niemand stören, niemand finden.

Marvin Jentschke sah sich um und entdeckte den großen Stein, unter dem die Schlüssel lagen, genau wie der Vermieter in seiner Mail geschrieben hatte. Prima. Er sperrte das Schloss auf, hob den Rostring hoch, und wie von Geisterhand schwangen die Torflügel mit leisem Quietschen nach innen. Nachdem er den Wagen so hinter der Mauer geparkt hatte, dass er von außen nicht zu sehen war, verschloss er das Tor wieder und ging um das Haus herum zur nach hinten gelegenen Eingangstür. Von wegen heruntergekommene Bauernkate! Er sperrte auf, brachte das Portal mit einem leichten Tritt dazu, sich zu öffnen und trat ein. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten sah er, dass er in einem großen Raum stand, der eher einem Rittersaal glich, als einer Bauernstube. Ein anerkennendes Zischen entfuhr seinen Zähnen.

Als Marvin Jentschke den Lichtschalter fand, den offenbar irgendein Hobbyelektriker ohne jegliche Ahnung von Normen und Regeln irgendwo platziert hatte, bestätigte sich der erste Eindruck. Ein gewaltiger Tisch mit zehn Stühlen stand vor einem offenen Kamin, in dem man problemlos ein Schwein hätte grillen können. Sauber verfugte Bruchsteinmauern stützten eine massive Balkendecke. Mehrere Gänge gähnten finster, und Jentschke beschloss, erst einmal alle Fensterläden der Zimmer, die nach hinten hinaus lagen, zu öffnen, bevor er sein Gepäck aus dem Wagen holte.

 

Das alte Bauernhaus war riesig und erstaunlich gut hergerichtet, wenn er im Vergleich dazu an die italienischen Unterkünfte dachte, in denen er ein paar Mal mit Madeleine Urlaub gemacht hatte. Toskanischer Charme als Synonym für unfähigen Baupfusch.

Mehrfach ging er durch das Gewirr der Räume, bis er sicher war, sich auch blind zurechtfinden zu können und wählte dann einen der oberen Räume als sein Schlafgemach aus.  Es war klein, und die Dachschräge zwang das schmale Fenster auf Bauchnabelhöhe hinunter, es hatte keinen Tisch und nur einen kleinen Schrank. Aber drei entschiedene Vorteile sprachen für das Zimmer: Das Bett war breit und bequem, das Fenster ging nach hinten, zum Garten hinaus, und es lag nur knapp über dem schrägen Dach der Terrasse. Ein idealer Fluchtweg. Wenn es brennen würde. Zum Beispiel.

Marvin Jentschke stieg die enge Treppe wieder hinunter, durchquerte den 'Rittersaal' und inspizierte das Grundstück. Ein großer Garten lag hinter dem Haus. Neben der überdachten Terrasse wucherten verwilderte Blumen und Gewürzsträucher, eine Fläche mit knirschenden Kieseln schloss sich an, was er mit Genugtuung registrierte. Dahinter lag eine kürzlich gemähte Wiese, auf der Gruppen von alten Eschen dekorativ zum Himmel strebten, und das Ende des Grundstücks bildete ein Stacheldrahtzaun, der größtenteils von wilden, hohen Heckensträuchern durchwuchert war. Knapp davor lag ein mächtiger Findling, von dem aus man notfalls über das Zaun-Hecken-Gewirr springen konnte. Jenseits davon schlossen  sich wild wuchernde Wiesen, Hecken und sumpfige Morastflächen an, auf denen zwei alte, weiße Pferde und ein ebenso alter Esel grasten, Wildnis bis zum Horizont. Nach Westen begrenzte ein länglicher Schuppen die Hoffläche, in dem Jentschke eine Anzahl von vergammelten Fahrrädern vorfand, von denen eines sich sogar als fahrtauglich entpuppte. Er zerrte es aus dem Schuppen und stellte es auf die Terrasse. Es passte ideal zu seinem Plan. Damit zum Einkaufen in das nächste Dorf zu fahren, musste zu schaffen sein. Und hinter dem Schuppen erstreckte sich wieder eine schier endlose Wildnis. Kein Nachbar weit und breit. Perfekt.

 

Inzwischen war es dämmrig geworden und sehr, sehr still. Nur ein paar Vögel stießen gespenstige Laute aus oder schüttelten ihr Gefieder auf, wie Menschen ihre Betten.

Marvin Jentschke ging zum Haus zurück und knipste alle Lampen an, die er finden konnte. Dann betrachtete er das Haus von der Vorderseite und stellte fest, dass von hier kein Lichtstrahl zu sehen war. Von der Strasse aus würde niemand vermuten, dass das Haus bewohnt war. Endlich fühlte er sich sicher. Allein und sicher. Nur eine Sache hatte er noch zu erledigen. Es war ihm zuwider, weil es seine Beweglichkeit enorm einschränken würde, aber er hatte keine Wahl. Madeleines Toyota. Er musste weg und zwar gleich, bevor es stockfinster wurde.

Marvin Jentschke entriegelte noch einmal das Tor, fuhr den Wagen über einen Forstpfad, den er ebenfalls auf der Luftaufnahme entdeckt hatte, zu einem kleinen Weiher in der Nähe, gab Gas und wälzte sich im letzten Moment aus der offenen Tür. Mit einem hässlichen Gurgeln versank das kleine Auto Zentimeter um Zentimeter im modrigen Wasser, spuckte noch einmal einen letzten Schwall Luft aus und war verschwunden. Als das Wasser des Weihers wieder glatt und friedlich auf die Nacht wartete, rieb sich Jentschke die geprellte Schulter und machte sich auf den Weg zurück in sein neues Domizil.

 

Jentschke war hundemüde. Er legte sich voll angezogen auf sein Bett und starrte zur schrägen Decke hoch, deren Putzrisse im Schein der trüben Nachttischlampe wie tiefe Canyons des Vergessens wirkten. Doch er konnte nicht schlafen, konnte nicht vergessen.

Hatte er etwas falsch gemacht, hatte er etwas übersehen? Das Haus hatte er im Internet entdeckt und über einen nicht nachvollziehbaren Mail-Account  schon lange Zeit vorher gemietet. Zwar hatte er sich kurz gewundert, dass alles so problemlos abgelaufen war – ohne Kaution, ohne Identitätslegitimation, ohne andere Sicherheitsleistungen. Eine zwanzigköpfige Rockerbande hätte hier bequem ihren Betriebsurlaub verbringen können, mit allen vorprogrammierten Kollateralschäden. Aber anscheinend war der Besitzer froh, überhaupt einen Mieter gefunden zu haben, was bei der Lage kein Wunder war. Und noch dazu einen, der für drei Monate im Voraus den Betrag praktisch in bar und an der Steuer vorbei  per Western Union überwies.

Marvin Jentschke hatte keinen Schimmer, wer sich um das Grundstück kümmerte, aber alle Betten waren bezogen, die Warmwasserspeicher waren eingeschaltet, der Küchenkühlschrank lief ebenso wie der übergroße Gefrierschrank im Schuppen. Jentschke hatte hier gleich nach der Ankunft seine Biervorräte und Lebensmittel, die er unterwegs in verschiedenen Carrefourt- und Intermarché-Filialen natürlich unter Barzahlung gekauft hatte, eingelagert. Hier, in dieser Abgeschiedenheit würde er abwarten, bis das Gras über der Sache eine beachtliche Höhe erreicht hätte. Über der Sache. Marvin Jentschke lachte bitter auf, als er daran dachte.

 

Alles war perfekt ausbaldowert. Am Tag zuvor hatte er den kleinen Toyota seiner Freundin in der Nebenstrasse geparkt, das Versteck in den Büroräumen war sicher. Tagsüber konnten Charly, sein Partner und er sich unbehelligt im Gebäude bewegen, und in einem günstigen Moment hatten sie sich in die nie benutzte Rumpelkammer gezwängt und auf den Abend gewartet. Die Putzkräfte verließen gegen acht Uhr das Gebäude, und der Sicherheitsfuzzi beendete seine zweite Runde gegen zwölf. Dann, so wussten sie aus sicherer Quelle, würde er sich ein Bierchen aufmachen und in den Fernseher glotzen, statt auf den Überwachungsmonitor. Und der alte Trottel von Seniorchef, geplagt von seniler Bettflucht, würde einsam in seinem Büro sitzen und seinen Anteil zählen, den er aus der Firma, die inzwischen sein Sohn leitete, herauspresste.

Ohne seinen Charme überstrapazieren zu müssen hatte Marvin Jentschke aus der ältlichen Sekretärin herauslockt, dass der 'Senior' Monat für Monat auf seinem Anteil bestand und zwar in bar. Wofür war völlig egal. Haben, haben, haben. Reine, blanke Gier. Und die Bündel, die er im Tresor stapelte, wurden immer erst dann durch eine Securitytruppe auf die Bank geschafft, wenn der Geldspeicher rappelvoll war. Dass er nicht in seinem Geld badete und sich die Goldmünzen auf die Glatze prasseln ließ wie Dagobert Duck, sei ein Wunder, hatte die Sekretärin gemeint. Ja, es würde den Richtigen erwischen. Einen alten, geizigen Geldsack, der aus lauter Habgier einen Raub nicht einmal anzeigen würde, weil er keinen Cent Steuer dafür abführte.

 

Alles war gut verlaufen. Anfangs.

Kurz nach Mitternacht krochen sie aus ihrem Versteck, huschten den Gang entlang und standen vor dem Büro des Alten. Charly hatte immer seine Zweifel gehabt, aber Jentschke hatte der verliebten Sekretärin geglaubt. Zu Recht, wie sich herausstellen sollte. Es war das einzige Zimmer, das nicht durch ein Zahlenschloss gesichert war, weil der Senior sich Zahlen nur noch im Zusammenhang mit Geld merken konnte und andere so regelmäßig vergaß, wie seine Pillen gegen Inkontinenz. Jentschke zog seine Beretta, spannte sie durch eine Repetierbewegung vor und nickte Charly zu. Der drückte vorsichtig die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Marvin Jentschke sprang mit der Waffe im Anschlag hinein und überblickte sofort die Lage. Der Alte saß am Schreibtisch und riss entsetzt die Augen auf.

"Hände hoch", brüllte Jentschke und fuchtelte mit der Knarre herum, "sonst knallt's!" Gleichzeitig registrierte er, dass der Tresor hinter dem Schreibtisch sperrangelweit offenstand, und es kam ihm vor, als würde ein goldener Schimmer herausleuchten, wie an Weihnachten aus dem Stall von Bethlehem.

 

Dieses wunderbare Bild sah Marvin Jentschke wieder ganz deutlich vor sich; es schien sich direkt auf die rissige Decke des Bauernhauses zu projizieren. MannMannMann, was war das für ein schöner Anblick gewesen!

Er schloss die Augen und riss sie gleich wieder auf, als er ein Geräusch vernahm, das sich deutlich vom Knacken des alten Hauses unterschied. Sofort war er hellwach, schlüpfte vom Bett, schnappte sich die Beretta und schlich zur Tür. Nichts. Die Treppe knarrte nicht, und als er durchs Schlüsselloch spähte, war auf dem Flur, in dem er das Licht hatte brennen lassen, nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Dieses alte Haus! Sein Atem beruhigte sich, und nachdem er sich versichert hatte, dass die Zimmertür fest verschlossen war, legte er sich wieder nieder.

 

Von da ab ging alles schief. Wie vom Duft des Geldes betäubt registrierte Marvin Jentschke zu spät, dass der Alte sich gefasst hatte und wie ein Racheengel mit einem Brieföffner in der erhobenen Faust auf ihn zu tappte. Gleichzeitig stieß er wüste Beschimpfungen und Drohungen aus, als wäre ihm die geladene Pistole völlig egal. Gleichzeitig hüpfte Charly blöde herum und schiss sich in die Hosen. Reflexartig drückte Jentschke ab, ohne richtig zu zielen. Aber er traf. Der Alte taumelte zurück, krächzte noch etwas und brach zusammen.

Als das Echo des Schusses verhallt war und sich die beiden Gangster entsetzt anstarrten, hörten sie draußen jemanden rennen.

"Der Wachmann", brüllte Charly, "oh Gott, oh Gott! Ich habe dir doch gleich gesagt, dass das so nicht funktionieren wird!" Mit erhobenen Händen rannte er aus dem Büro und rief: "Nicht schießen, nicht schießen!"

Marvin Jentschke sprang ihm wütend hinterher und, als hätten der verhasste Spruch und die Magie des offenen Tresors alle menschlichen Regungungen aus ihm gesaugt, drückte er noch zweimal ab. Das erste Projektil traf Charly in den Rücken und das zweite den dicken Wachmann, der noch an seiner Waffentasche herumnestelte, mitten in die Brust.

 

Als Jentschke daran dachte brach ihm der Schweiß aus, dann überzogen kalte Schauer seinen feuchten Körper. Aber als er an die beiden mit Geld vollgestopften Rucksäcke dachte, die er im Schuppen versteckt hatte, ging das sofort vorbei. Yes! Alles gut!

 

Wie in Trance hatte er ihren Plan zu Ende geführt, das Geld aus dem Tresor geräumt, bis die Rucksäcke prall gefüllt waren und dabei immer mit seinem Partner geredet, als würde der nicht tot auf dem Flur liegen.

"Komm Charly, hilf mir, wie sind steinreich, hahaha, rein mit dir, du putziges Bündelchen und du auch noch, los Charly, und jetzt nichts wie weg zum Notausgang!"

Erst als Jentschke in der Wohnung seiner Freundin Madeleine stand wurde ihm klar, was für einen Blödsinn er gemacht hatte. Es waren nicht die Schüsse, pfff, egal, nein, es war die Tatsache, dass er hier war. Was, zum Teufel, tat er bei Madeleine? Er hatte doch geplant, sofort ohne sie in seinem Unterschlupf zu verschwinden, er konnte ihre Fresse sowieso nicht mehr sehen. Charly hatte er schon los, aber jetzt glotzte ihn seine Freundin an. MannMannMann, es musste der Stress sein!

Madeleine hatte er zwangsweise einweihen müssen, weil er ihr Auto brauchte. Zu Fuß fliehen wäre ziemlich doof gewesen. Und sie war von Anfang an dagegen gewesen, hatte sich aber gegen ihn nicht durchsetzten können. Klar, die dumme Nuss.

 

Marvin Jentschke wälzte sich auf seinem Lager herum.

"Blöde Kuh", murmelte er, "ich hätte dir sogar ein paar Mäuse geschickt, wegen dem Auto und der alten Zeiten und so. Aber jetzt behalte ich alles. Alles meins!"

Er kicherte in sich hinein.

Doch plötzlich war da wieder ein auffälliges Geräusch. Verflucht! Jetzt hörte er auch das verdächtige Knarren der Treppe, das er sich eingeprägt hatte. Verdammte Scheiße!

Seine Gedanken rasten, während er nach der Beretta griff und vom Bett sprang. Sie waren da!

Er hatte einen Fehler gemacht, aber welchen? Verdammt, verdammt, verdammt! Was hatte er übersehen?

Dann dämmerte es ihm. Madeleine. Klar. Sicher hat sie die Bestätigungs-Mail des Vermieters gesehen und sich die Adresse des Ferienhauses aufgeschrieben. Natürlich hätte sie sofort geschnallt, dass ihr Freund sich ohne sie absetzten wollte. Und dann fielen Marvin Jentschke die ganzen anderen blöden Fehler ein. Die Überwachungskameras – sie hatten nicht mal Masken getragen. Dann der rote Toyota von Madeleine, der neben dem Bürogebäude die ganze Nacht gestanden war. Bestimmt war der jemandem aufgefallen, und die Autonummer hat die Bullen direkt zu Madeleine geführt, zum Teufel!

 

Wieder knarrte die Treppe, es war jetzt eindeutig. Marvin Jentschke wischte sich mit der Linken den Schweiß von der Stirn, öffnete leise das Fenster und zog sich auf das Dach der Terrasse hinaus. Es knarrte fürchterlich, und als Jentschke sich aufrichten wollte um sich umzusehen, kreischte er vor Entsetzen auf. Eine schwarze Gestalt saß auf der Begrenzungsmauer und starrte ihn mit glühenden Augen an. Es waren die Augen des alten Senior-Chefs. Jentschke taumelte herum, verlor das Gleichgewicht, stürzte auf die altersschwachen Dachplatten und krachte durch das vermoderte Gebälk auf die Steinfliesen darunter. Ein glühender Schmerz durchfuhr sein Bein, er war kurz davor, die Besinnung zu verlieren, aber das höhnische Lachen, das vom Dach kam, riss ihn hoch. Das war nicht die Stimme des alten Mannes. Es war die unverkennbar dämliche Lache von Charly. Nein, Blödsinn, das verdammte Haus spielt mir einen Streich, die sind tot, tot! Und der Kerl da drüben, das ist nicht der Wachmann, das ist ein verdammter Busch, Herrgottnochmal. Aber im Haus ist jemand, weg hier, nur weg!

So schnell er konnte humpelte Jentschke auf die Stelle an der hinteren Hecke zu, wo der Findling lag. Nur weg und in der Wildnis verschwinden war sein einziger Gedanke. Dann blieb er erschöpft stehen und starrte mit irrem Blick auf die weiße Gestalt, die unmittelbar vor ihm auftauchte.

Madeleine. Sie hatte die Augen geschlossen und auch ihre Lippen bewegten sich nicht.

Aber sie sprach genau die Worte, die sie in ihrer Wohnung zu ihm gesagt hatte, bevor er ihr mitten ins Gesicht schoss:

"Ich habe dir doch gleich gesagt, dass das so nicht funktionieren wird."

 

Jentschkes Herz drohte zu versagen. Er stolperte zurück und trat plötzlich ins Leere. Und noch im Fallen erinnerte er sich an den alten Brunnenschacht, den er im Garten gesehen hatte. Aber gestern hatte noch eine zentnerschwere Abdeckplatte darüber gelegen.

Sein von Schmerz und Wahnsinn bestimmtes Kreischen und seine immer leiser werdenden Hilfeschreie hörten nur die alten weißen Pferde und der Esel in ihrem Unterstand. Aber es interessierte sie nicht.

 

 

 

 

 

EPILOG

 

Als die Morgensonne ihre ersten, zaghaften Strahlen auf die Brunnenabdeckung schickte, die da lag wie immer, war nur das Zwitschern der Vögel zu hören. Und die Knackgeräusche eines sich abkühlenden Motors. Ein rattengesichtiger Mann stieg aus, sah sich argwöhnisch um und ging zum Tor. Nach kurzer Suche fand er die Schlüssel unter dem Stein und öffnete das Tor.

 

 *****

 

 

Schweig! Und gib acht:

Trauervoll klagt der Wind

In düsterer Nacht.

Schweig und lausch ohne Seufzer und Wort

Dem tappenden Schritt der Vergangenheit,

dem Ruf, der dich vom Leben zieht fort.

Schweig und gib acht! Schweig und gib acht!

 - Der Tod geht um …

 

William Hope Hodgeson

(Das Haus an der Grenze)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Text Bert Rieser; Gedicht von William Hope Hodgeson in: 'Das Haus an der Grenze'
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

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