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Zeit heilt keine Wunden

 

 

 

 

 

 

 

Algo se muere en el alma

Cuando un amigo se va

 

 

 

Und wieder kamen ihm die weißen Pferde in den Sinn, die sie in Andalusien gesehen hatten. Wie fasziniert war Corinna von ihnen gewesen und wie fasziniert er von Corinna.

Wie viele Jahre war das schon her? Die Jahre des gemeinsamen Glücks, nach dieser zauberhaften Reise, auf der sie sich kennen gelernt hatten, wie viele sind es gewesen?

Richard Binzer atmete keuchend aus, nicht nur, weil der Weg steil anstieg. So oft war er ihn schon gegangen, sieben mal in jedem Jahr, in jedem Jahr, seit …

Er holte tief Luft und ging weiter. Er konnte nicht anders. An jedem Einunddreißigsten des Monats, auch an Silvester, wenn andere jubelnd, betrunken und mit Böllerschüssen das neue Jahr begrüßten, stapfte er hoch zu diesem verschwiegenen See, egal ob tiefer Schnee lag oder brütende Hitze herrschte. Hoch zum See, zu ihrem See, den sie doch so geliebt hatten.

 

Nach der Rückkehr aus Andalusien hatten sie ihn bei einem Ausflug entdeckt und sofort in ihr Herz geschlossen. Nein, einen Sandstrand gab es nicht und auch keine wilden weißen Pferde, aber der mystische Zauber war ebenso tief und betörend, wie in ihren ersten gemeinsamen Tagen. Hier hatten sie ihre Liebe vertieft. Hier hatte er mit seinem Victorinox-Messer, das er immer am Gürtel trug, wie damals andere Leute ihre Handys, ein großes Herz geschnitzt.

C + R hatte er hineingeritzt und darunter: algo se muere en el alma …

 

Zum Schweiß auf seinen Wangen kamen jetzt die Tränen der Trauer und des Zorns. Mantraartig murmelte er immer die gleichen Worte.

"Warum hast du mich verlassen? Ich hatte doch nur dich, und du hattest nur mich, oder? Warum hat es dazu kommen müssen an diesem 31. Oktober?"

Dieses verfluchte Lied! Er glaubte nicht an die Wahrsagerin, an ihre Kartenspiele, an die Prophezeiungen, aber Corinna hatte sie geglaubt, damals in Andalusien. Eine wunderbare Liebe hatte die Zigeunerin ihr vorhergesagt, ein herrliches, erfülltes Leben hatte sie ihr versprochen. Aber sie hatte auch gewarnt, dass es sehr plötzlich zu Ende gehen könne. Die verdammte Zigeunerin!

Trotz ihrer seltsamen Aussprache waren die Vorhersagen sehr deutlich zu verstehen gewesen. Richard hatte gelacht, ihr einen Schein in die Hand gedrückt, und dann hatte er den Arm um Corinna gelegt und war mit ihr zum Strand geschlendert. Dabei spürte er plötzlich tief in sich, wie die Magie der Wahrsagerin zu wirken begann. Er merkte plötzlich, dass Corinna und er  für immer zusammengehörten, er fühlte, dass seine Liebe zu ihr immer tiefer wurde. Und am Abend erzählte Corinna ihm, dass sie genauso fühlte.

Die Liebe war geblieben, ja sogar mit der Zeit noch inniger geworden. Und auch die zweite Prophezeiung hatte sich erfüllt: Ja, sie hatten wirklich ein schönes Leben zusammen gehabt. Sie beide. Sie waren sich selbst genug, hatten keine Freunde, keine Verwandten, und sie brauchten sie auch nicht. Manchmal hatte er sich allerdings dabei ertappt, wie er überlegte, ob sie nicht Ursache und Wirkung verwechselten, ob sie nicht wie Kletten aneinander hingen, weil sie keine anderen Menschen um sich hatten. Aber dann schämte er sich für diese Gedanken, kaufte einen Blumenstrauß für Corinna und freute sich über ihre Freude darüber.

 

Er hatte nichts geahnt. Überhaupt nichts. Das machte ihn am meisten wütend. Warum hatte sie nicht mit ihm gesprochen? Sie hatten doch sonst immer über alles …

Keinen blassen Schimmer hatte er gehabt. Und dann ist er eines Morgens aufgewacht, und das Bett neben ihm war leer. Im ganzen Haus hatte er sie gesucht, im Keller, im Garten, überall. Und dann hatte er den Brief gefunden. Den verfluchten Brief.

 

Wütend kickte Richard Binzer einen Tannenzapfen zur Seite. Der Pfad verlief nun fast eben zwischen den Bäumen hindurch. Es war nicht mehr weit. Ein paar Meter ging es noch leicht bergab, dann tauchte schon das vertraute Glitzern zwischen den dunklen, traurigen Stämmen der Bergeichen auf. Wie um die niederdrückende Stimmung zu vertiefen krächzte eine Krähe höhnisch ihr garstiges Lied. Unheimliches Rascheln drang aus dem düsteren Unterholz. Seit diesem unheilvollen 31. Oktober war der Wald nicht mehr so, wie sie ihn geliebt hatten.

"No me dejes aqui, mi amor, no te vayas todavía", flüsterte er in das Raunen der Wildnis. "Aber sag mir woran, woran meine Liebe glauben wir noch?"

Plötzlich stockte er und riss die Augen auf. Er war fast da, trat auf die kleine Lichtung und roch schon den See, nein er sah ihn, aber so, wie noch nie. Und dann erkannte er, woran es lag. Entsetzt stöhnte er auf. Die Bäume waren nicht mehr da! Ihr Baum mit seinem Herz war nicht mehr da! Nur trostlose Stümpfe waren noch am Ufer übrig, an das leise die Wellen des Sees schlugen.

Richard taumelte zu der Bank, auf der sie immer gesessen hatten und sank wie betäubt nieder. Dann sprang er wieder auf, rannte die paar Schritte zum Ufer und warf den Moosröschenstrauß, den er dabei hatte, zornig in den See. Mühsam wie ein Greis wankte er wieder zur Bank zurück und starrte auf das dunkle Wasser hinaus.

"Du hast es so gewollt!", schrie er wütend. "Du hast mich dazu gezwungen. Zeit heilt alle Wunden, so ein Blödsinn! Die Zigeunerin wusste es. Hättest du nur mit mir geredet, wir hätten einen Weg gefunden. Aber durch dein Schweigen hast mich dazu gezwungen! Warum, warum, warum?"

Erschöpft sank er in sich zusammen und schluchzte leise. Dieser elende Brief!

 

Ob Richard Binzer die Personen, die aus dem Wald traten und auf ihn zugingen gar nicht bemerkte, oder ob sie ihm egal waren, spielte keine Rolle. Erst als die Frau unter ihnen sich neben ihn auf die Bank setzte, während die drei Männer in gewissem Abstand stehen geblieben waren, blickte er auf.

"Sie sind von der Polizei, nicht wahr?", fragte er. Die Kriminalbeamtin nickte und sah auf den See hinaus.

"Kann es sein, dass Sie froh sind, dass es vorbei ist?"

"Hm", antwortete Binzer, "ja, ich glaube schon. Aber … aber wie …?"

"Vor sechs Wochen war doch dieser Sturm", sagte die Kommissarin und blickte ihn jetzt direkt an. "Dabei hat das Seewasser das Ufer der Steilwand so unterspült, dass das Forstamt die Bäume da vorne fällen musste. Vorher haben sie aber einen Taucher runtergeschickt um festzustellen, wie weit die Unterspülung ging. Und der hat…"

"…Corinna gefunden.", ergänzte Richard Binzer den Satz.

"Ja. Das C in dem Herzchen stand für Corinna, stimmt's? Und Sie haben es in die Rinde geschnitzt, nicht wahr?"

Richard Binzer antwortete nicht.

"Was stand eigentlich unter dem Herz? Nach all den Jahren kann man es nicht mehr lesen."

"Algo se muere en el alma – etwas stirbt in der Seele", flüsterte Richard.

"Cuando un amigo se va – wenn ein Freund weggeht", zitierte die Kommissarin die nächste Zeile, "ich kenne das Lied. Wissen Sie", fuhr sie dann fort, "wir haben Stillschweigen bewahrt. Der Revierförster hat uns erzählt, dass seit vielen Jahren regelmäßig ein Mann hierher kommt und Blumen in den See wirft, als wäre hier jemand beerdigt. Die Obduktion hat ergeben, dass die Frau an einem Genickbruch gestorben ist. An ihren Körper waren mit einem Seil mehrere alte, schwere Bügeleisen gebunden."

Sie zog scharf  die Luft ein und starrte in den grauen Himmel, bevor sie weitersprach:

"Vorhin haben Sie gerufen, dass der Spruch von der Zeit, die alle Wunden heile, Blödsinn sei. Es gibt einen anderen Spruch: Der Mörder kehrt immer zum Ort seiner Tat zurück. Wir mussten nur warten. In dem wasserdichten Medaillon, das das Opfer um den Hals trug, ist ein Bild. Ihr Bild. Sie sind ihr Mörder."

"Mörder", sagte der Mann bitter, ließ den Kopf hängen und schwieg lange. Dann richtete er sich auf, wollte in seine Jackentasche greifen und stockte, als er den alarmierten Blick der Kommissarin bemerkte.

"Darf ich?" Ganz vorsichtig nahm er ein vergilbtes Schriftstück aus der Tasche und reichte ihn der Polizistin. "Bitte, lesen Sie."

 

Die Kommissarin ließ langsam das Blatt sinken, schüttelte den Kopf und sah den Mann an, dessen Namen sie immer noch nicht kannte.

"All die Jahre", sagte sie und schüttelte nochmals den Kopf. "Aber es ist jetzt vorbei. Gehen wir? Sie verstehen, dass ich den Brief an mich nehmen muss?"

Richard Binzer stand auf und nickte. Er kannte ihn sowieso auswendig.

 

 

 

 

Mein geliebter Richard!

 

Du hast mir versprochen, dass Du alles für mich tun wirst, für immer und ewig.

Jetzt bitte ich Dich ein letztes Mal um etwas. Ich weiß, dass Du das gar nicht gut heißen wirst, ich weiß, was Du Dir in diesem Falle gewünscht hättest. Aber diese Entscheidung muss ich alleine treffen.

Lieber Richard, ich habe eine Krankheit, die unweigerlich und schnell zu einem grausamen Tod führt. Bis jetzt konnte ich es Dir verheimlichen, aber es geht nicht mehr. Ich liebe Dich so und weiß, wie sehr Du mich liebst. Deshalb will ich Dich nicht mit einem schrecklichen Siechtum belasten. Ich habe beschlossen, meinem Leben ein Ende zu setzen, und Du weißt sicher, wo. Der zweite Ast an unserm Baum ist hoch genug, dass ich sofort in der anderen Welt sein werde, wo ich auf Dich warte. Bitte hole mich herunter, bevor jemand anders mich findet und ich dann aufgeschnitten werde, wie man es in so einem Fall macht.

Und dann, meine größte Bitte:

Lass mich meine letzte Ruhe in unserem See finden! Du weißt, dass mir dieser Ort viel bedeutet hat, aber Du ahnst vielleicht nicht, wie viel. Ich habe die Gewichte Stück für Stück hoch getragen und im Gebüsch hinter der Bank versteckt.

Bitte Richard, tu es für mich. Du hast es versprochen.

Ich bin Dir unendlich dankbar für alles.

 

Ich liebe Dich, aber jetzt muss ich los.

Ich warte drüben auf Dich.

 

Für ewig Deine Corinna

 

 

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 Zitate aus dem Songtext "Weiße Pferde"

 von Georg Danzer

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Bert Rieser, Textzitate aus dem Songtext "Weiße Pferde" von Georg Danzer
Bildmaterialien: Bert Rieser (Cover) und http://www11.pic-upload.de/31.07.14/875ffrm3rzc1.jpg (Schlussbild)
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2014

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