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Bernsteintränen

 

 

 

 

-1-

 

Mathilde Koschewski war wütend. So wütend, dass sie ihrer kleinen Schwester Agnes am liebsten ein paar Ohrfeigen verpasst hätte. Dabei liebte sie die kleine Göre über alles. Aber jetzt war überhaupt nicht der Zeitpunkt, um Zicken zu machen. Mathilde war zwar erst zehn Jahre alt, aber sie wusste Bescheid. Sie wusste, was Krieg war. Sie hatte den Erwachsenen oft und lange genug zugehört, hatte dem Geschrei aus dem Volksempfänger gelauscht, dem Geplärre von Führer, Volk und Blut und Boden und vom Endsieg. Und jetzt war er in ihr kleines Dorf gekommen, der Krieg.

Vom Vater, der zu den Soldaten gemusst hatte, mitten in der Erntezeit, hatten die Kinder schon lange nichts mehr gehört. Und die Mutter war seit drei Tagen weg. Sie hatte gespürt, dass die Front immer näher kam und deshalb die alte Resi, den einzigen Gaul, der noch im Stall stand, vor den Karren gespannt. Dann rief sie die Kinder in die Stube und sagte ihnen, dass sie Oma und Opa holen wolle, die ein paar Dörfer weiter im Osten lebten.

"Wenn's sein muss, binde ich sie auf dem Karren fest", sagte sie noch und lachte, weil sie die Sturheit ihrer Eltern kannte. So mir nichts dir nichts würden sie nie ihr Häuschen verlassen. Sie hatten den letzten Krieg überlebt und würden auch diesen überstehen, so war ihre Meinung.

"Aber nicht mit mir!", sagte die Mama noch, fasste Mathilde an den Schultern und blickte ihr fest in die Augen. "Bis ich mit Oma und Opa zurück bin, bist du die Herrin auf dem Hof, meine Große. Du musst auf deine kleine Schwester aufpassen – versprichst du mir das?"

Mathilde nickte ernsthaft. "Und du musst auch auf Svetlana hören. Sie kümmert sich um euch und bleibt bei euch, bis ich zurück bin."

Svetlana war die Magd, die letzte Angestellte, die noch auf dem Hof lebte, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.  Sie stand neben der Tür und sagte:

"Ja, ja, Frau Koschewski, ich passe schon auf."

"Aber", fuhr die Mutter fort, "wenn etwas passiert, wenn unsere Soldaten kommen und den Ort evakuieren, also wenn sie sagen, dass ihr weg müsst, dann geht ihr alle drei mit ihnen, auch wenn ich noch nicht da bin, habt ihr das verstanden?" Svetlana und Mathilda nickten, nur Agnes blickte ihre Mutter mit offenem Mund verständnislos an.

"Warum müssen wir weg? Warum gehst du weg, Mama?"

"Ich bin bald wieder da mit Oma und Opa. Freust du dich?"

"Au ja, dann kann mir Opa eine Flöte schnitzen, und Oma liest mir wieder Geschichten vor!"

"Ganz genau, mein Schatz. Aber falls irgendetwas dazwischen kommen sollte", jetzt wandte die Mutter sich wieder an Mathilda und Svetlana, "dann nehmt ihr die Koffer in der Kammer, die ich für euch gepackt habe und geht mit den Flüchtlingen nach Westen. Ich komme sofort nach. Ich habe erfahren, dass in Gotenhafen ein Dampfer wartet, der uns in Sicherheit bringt."

Sie küsste ihre Kinder, drückte der Magd die Hand, stieg auf den Karren und fuhr vom Hof.

 

-2-

 

Der Ausflug des Seniorenheims nach Dresden war eigentlich ein Reinfall. Nach der langen Anreise war ein Teil der betagten Reiseteilnehmer schon sehr müde. Auch der Kaffee war keine Lösung – viele durften ihn nicht trinken, andere wollten nicht, aus Sorge, dass sie dann ständig zur Toilette müssten. Und nach dem Mittagessen vermissten einige ihr Mittagsschläfchen. Das holten sie dann bei der Stadtrundfahrt im roten Doppeldeckerbus nach – manche sehr geräuschvoll.

Mathilde Koschewski genoss den Ausflug allerdings sehr. Sie hatte die Zeitungsbilder, die die grauenhaften Ergebnisse der Bombennacht zum 14. Februar 1945 dokumentierten, noch im Kopf, und war völlig aus dem Häuschen, als sie sah, wie schön, wie lebendig, wie beeindruckend die Stadt sich fast siebzig Jahre später darstellte.

Nach der Rundfahrt ließen sich die meisten Heimbewohner von ihren Betreuern in ein Cafe führen, nur Mathilde Koschewski machte sich mit ein paar rüstigen Senioren auf eigene Faust auf, um die Altstadt etwas zu erkunden.

 

-3-

 

"Ich hab' ihn verloren, ich hab' ihn verloren", äffte Mathilde ihre kleine Schwester nach und bereute es gleich wieder. "Du hast deine blöde Kette bestimmt wieder irgendwo verlegt!"

"Das ist keine blöde Kette!", schrie Agnes und trampelte mit den Füssen auf der Ladefläche des Henschel-Lastwagens, der mit laufendem Motor die letzten Einwohner des Dorfes aufnahm. "Papa hat sie mir zum Geburtstag geschenkt, ich kann nicht auf dieses doofe Dampfschiff ohne meine Kette, das geht nicht!"

Und jetzt liefen Tränenströme über die Wangen der kleinen Schwester. Das hatte sie schon immer gut gekonnt – lautlos aber heftig zu weinen. Nicht aus Berechnung, nicht auf Befehl, nein, 'sie hatte nur nah am Wasser gebaut', wie Oma immer sagte. "Tränchen, wie aus Bernsteinchen gemacht", sagte sie auch immer. Mathilde nervte das. Es sah nicht aus wie Bernsteine, sondern eher wie der Wasserfall aus der Dachrinne am Stall. Aber sie wusste, dass ihre kleine Schwester wirklich sehr, sehr traurig war, wenn das passierte.

"Ist ja gut, Schwesterchen, ich schau schnell mal nach.  Das Haus verliert nichts." Das sagte  Oma auch immer.

Es war ein großes Hin- und Her, Lärm, Geschrei, zwei weitere Lastwagen waren eingetroffen, Soldaten schauten in jedes Haus, ob sich jemand versteckt hatte, und in diesem Wirrwarr gelang es Mathilde, unbeobachtet von der Ladefläche zu hüpfen und zu ihrem Hof hinüber zu huschen. Svetlana würde schon auf Agnes achten. Aber wo war die Magd eigentlich abgeblieben? In dem Durcheinander hatte sie Mathilda ganz aus den Augen verloren – egal.  

Sie sah sich in der Stube um, in der Küche, riss alle Schranktüren auf – nichts. Also nach oben ins Kinderzimmer unterm Dach. Als sie die Tür öffnete, musste sie schlucken. Ihre Kindheit lag vor ihr, ihr ganzes bisheriges Leben. Würden sie je wieder hierher kommen können? Die Betten waren noch ungemacht; wenn Mama zurückkam, würde sie schimpfen. Sie zog die Laken glatt, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte, schüttelte die Decken auf und breitete die gehäkelten Tagesdecken über ihr und Agnes' Bett. Geschüttelt vor Zukunftsangst sank sie schließlich in den weichen Plüschsessel, in den sie sich immer zum Lesen gekuschelt hatte und wollte gar nicht glauben, dass sie von hier weg musste. Aber Mama hatte es so gesagt. 'Wenn der Krieg kommt, ist alles zu spät'.

Zu spät!

Mathilde schrak aus ihren Gedanken hoch und blickte sich fieberhaft im Zimmer um. Wo was die verflixte Halskette nur? Sie hatte goldene Glieder, und ein poliertes Stück Treibholz in Halbmondform, auf dem ein geschliffener Bernstein wie ein Kind in der Wiege lag, bildete den Anhänger. Das wunderschöne Schmuckstück, das ein Künstler in der Kreisstadt gefertigt hatte, war eigentlich viel zu schade für ihr schusseliges Schwesterchen, aber sie liebte es nun mal so. Vor allem, weil es von Papa war. Trotzdem – ein Ding ist ein Ding, und Zeit ist Zeit. Wo hatte Agnes sie nur verräumt? Oder hatte sie die Kette wirklich verloren – irgendwo auf den Feldern oder im Wald?

Mathilde durchsuchte alle Schubladen, blickte unter die Betten und tastete sogar die Oberseiten der Kästen ab, obwohl ihre kleine Schwester da nie hinkommen würde. Plötzlich stutzte sie. Das darf doch nicht war sein!alskette nur?

 

Bello, der rosafarbene Hund, den irgend eine ferne Tante mal mitgebracht hatte und den beide Kinder nicht leiden konnten, weil Hunde nicht rosafarben sind, saß unschuldig im Regal direkt vor ihr und hatte die Kette um den Hals geschlungen wie eine Hundeleine. Mathilde schnipste ihm an die Schnauze, nahm ihm das Schmuckstück ab, rief noch:

"Mach's gut, altes Scheusal" und rannte die Treppe hinunter.

 

-4-

 

 

Hofkirche, Königszug, Brühlsche Terrasse, der Blick vom Turm der wieder aufgebauten Frauenkirche – es war herrlich.  Aber mit jeder Sehenswürdigkeit wurde die Gruppe der Senioren kleiner, bis Mathilde nur noch alleine war. So allein, wie all die Jahre, die sie irgendwo auf der Welt verbracht hatte. Sie blickte auf die Uhr. Noch eine Stunde, bis der Reisebus wieder zurück ins Heim fuhr. Für den Zwinger sollte es noch reichen, auch wenn sich ihre Beine inzwischen wie aus Holz geschnitzt anfühlten.

 

-5-

 

Mathilde stürzte aus der Eingangstür, die gestreckte Faust mit der Kette nach oben gereckt. Das Haus verliert nichts, wollte sie noch rufen, doch ihr blieben die Worte im Hals stecken. Lastwagen, Soldaten, Agnes, Svetlana – nichts mehr da. Alles weg. Nur glitzernder Staub lag noch in der Luft. Und fernes Grollen, das, wie Mathilda wusste, von Panzerhaubitzen kam. Ob von deutschen oder von feindlichen Panzern abgeschossen, das wusste sie nicht. Aber sie wusste: Der Krieg ist da.

Ihre Beine gaben nach, und sie sank auf der Haustreppe zusammen. Sie hatte es verbockt. Hatte zu lange nach der blöden Kette gesucht. Sie starrte sie an, und ein Gedanke schwirrte ihr durch den Kopf: Gibt es Dinge, an denen sich das Unglück festmacht? Ich sollte das verfluchte Ding einfach wegwerfen.

Aber sie tat es nicht. Das konnte sie ihrer kleinen Schwester nicht antun. Damit die Kette nicht wieder verloren ging, legte sie sie um ihren Hals, stand zitternd auf und ging ins Haus zurück.

Sie wartete den ganzen Tag und die ganze Nacht in ihrem Plüschsessel verkrochen und noch einen Tag und noch eine Nacht, doch Mama und Oma und Opa kamen nicht. Nur der Geschützdonner kam näher und näher. Sie musste eine Entscheidung treffen, die sie sofort hätte treffen sollen. Aber das Entsetzen über das Verschwinden ihrer Schwester hatte sie gelähmt. Hastig packte sie ein paar Sachen in einen Sack und lief auf die Strasse, auf der keine Seele zu sehen war. Nur ein räudiger Köter blickte misstrauisch zu ihr herüber und trollte sich dann.

Mathilde seufzte und machte sich auf den Weg. Nach Westen, wie Mama gesagt hatte. Dorthin, wo die Sonne untergeht. Das Meer, das Dampfschiff. Sie hatte beides noch nie gesehen, aber davon gelesen. Karl Mai und so. Von wegen nur was für Jungs! Es würde ein phantastisches Abenteuer werden! Auf dem dampfenden Schiff würde sie Agnes wieder finden, Mama bestimmt  auch und Oma und Opa, Svetlana und vielleicht auch Papa. Warum nicht? Also los!

 

-6-

 

Die Sonne stand schon tief und warf ein seltsames Licht in die Gemäuer, die August der Starke erbauen ließ. Genutzt worden waren sie nur zum Vergnügen, wie Mathilde kopfschüttelnd gelesen hatte. Nur als Lustgarten. Wahnsinn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man so viel Freude am Feiern finden konnte. Feiern? Was? Wozu? Ihr selbst war nie wirklich zum Feiern zumute. Sie hatte den Verlust nie überwunden, den Verlust ihrer Familie, ihrer Heimat und vor allem den Verlust ihrer kleinen Schwester, die Mama in ihre Obhut gegeben hatte. Sie hatte sterben müssen, alleine. Und ich habe überlebt, wegen dieser Kette, dachte sie zum hundertmillionsten Mal. Agnes hat mir dadurch das Leben gerettet.

Instinktiv fasste sie an die Kette an ihrem Hals. Sie hatte sie all die Jahre nicht abgelegt. Die Kette war nicht verloren gegangen, dafür alles andere, was ihr wichtig gewesen war.

Mathilda blinzelte in die untergehende Sonne und drehte sich dann irritiert zur Seite, weil sie sich beobachtet fühlte.

 

-7-

 

Den ganzen Tag lang war das Mädchen gewandert – überall verlassene Gehöfte, menschenleere Dörfer, Felder voller Unkraut, keine Seele weit und breit. Und das Grollen und Donnern verfolgte sie. Vor Verzweiflung wäre sie am liebsten im Strassengraben sitzen geblieben und gestorben. Dann wäre sie jetzt im Himmel. Aber dann dachte sie an Mama und wusste, dass sie sie sehr geschimpft hätte. Man gibt nicht auf, hätte sie gesagt, man beisst die Zähne zusammen und durch! Kommen wieder bessere Tage!

Und dann geschah etwas, was Mathilde später als großen Glücksfall beschreiben würde. Sie hörte ein brummendes Geräusch, und als sie sich umdrehte, sah sie einen VW-Kübelwagen, der mit einer Staubwolke im Schlepptau auf sie zu raste. Erschrocken sprang sie von der Schotterpiste und hustete, als der Wagen sie passierte. Doch dann hielt das Gefährt an, es gab ein schepperndes Geräusch, und der Wagen fuhr zurück. Ein junger Offizier sprang heraus, packte Mathilda am Arm und schrie:

"Was, zum Teufel, machst denn du noch hier? Los jetzt, in den Wagen, wir haben keine Zeit mehr, der scheiß Krieg ist verloren!"

Der Fahrer würgte wieder den Vorwärtsgang hinein, und in wilder Fahrt holperten sie weiter westwärts.

 

-8-

 

Mathilda Koschewski sah sich um. Sie spürte die Blicke genau. Es waren nur noch wenige Besucher im Zwinger, und die alten Mauern wurden mit sinkender Sonne grauer und grauer und wirkten gleichzeitig bedrohlicher. Sie fasste wieder unbewusst an ihre Kette und packte ihre Handtasche fester unter den Arm. Obwohl sie noch sehr rüstig war, hätte sie gegen einen räuberischen Angriff keinerlei Chance gehabt. Warum nur war sie nicht mit den anderen zum Treffpunkt zurück gegangen?

 

-9-

 

Schleudernd, mit quietschenden Reifen und mit dem sprichwörtlich letzten Tropfen Benzin hielt der Kübelwagen hinter einem zum Start bereiten LKW-Konvoi. Der Leutnant sprang heraus und hob Mathilda über die Einstiegsluke.

"Komm, Mädel, wir haben keine Zeit. Schnell vor zu dem Lastwagen, damit wir noch mitkommen."

"Aber … aber, Herr Soldat", rief Mathilda, was ein unterdrücktes Lachen des Fahrers hervorrief, "wo ist denn das Dampfschiff? Ich muss auf das Dampfschiff! Bitte!"

"Ach Mädchen", antwortete der Leutnant, "das letzte Schiff, das von dieser Gegend wegging, lief gestern von Gotenhafen aus, hundert Kilometer nördlich von hier."

"Oh nein, das darf nicht sein, ich muss zu diesem Schiff, ich hab mich vertan, weil, weil …"

Der Leutnant lachte trocken auf.

"Kleine, sei froh und danke deinem Herrgott oder der Vorsehung, wenn du willst, dass du das Schiff verpasst hast. Wir haben heute früh den letzten Funkspruch mitbekommen. Die Wilhelm Gustloff ist  vom Iwan erwischt worden. Ein U-Boot hat sie versenkt. Ist untergegangen mit Mann und Maus. Aber los jetzt. Dieser Konvoi ist der letzte, der noch nach Westen geht!"

 

 

 

 

-10-

 

Verängstigt suchte Mathilde Koschewski die Mauervorsprünge ab und wollte schnell zum Eingang zurück laufen. Doch dann trat eine Gestalt aus dem Schatten hervor und ging ein paar Schritte auf sie zu. Der letzte Sonnenstrahl traf ihr Gesicht, und Mathilda sah, dass es eine ältere, großgewachsene Frau war. Sie blickte ihr in die Augen, und Mathilda musste nicht hören, was sie sagte, um sie zu erkennen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. So weinen wie ein Wasserfall von der Dachrinne am Stall konnte nur eine. Und dann verstand sie auch, was die Frau geflüstert hatte:

"Jetzt hast du sie mir doch noch gebracht, meine Kette."

Und ihre Tränen tropften wie Bernsteinchen auf das Pflaster.

 

 

 

 

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Cover unter Verwendung eines Bildes von Dieter Schütz / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Den Überlebenden der Wilhelm Gustloff

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