Und Er fragte ihn: "Wie heißt du?"
Und er sprach: "Legion heiße ich; denn wir sind viele."
Markus 5.9
Der Alarmruf kam gegen 16.oo Uhr von der Zentrale:
"Isar 1 an alle Einsatzwagen Nähe Großhesseloher Brücke. Notfalleinsatz. Unbekannte Person auf den Gleisanlagen, Verdacht auf suizidale Absicht. Feuerwehrnotarzt und BRK Kriseninterventionsteam bereits ausgerückt; Notabsperrung Gleiskörper Ost und West erforderlich, Bahnpolizei verständigt. Wer hört?"
Zwei Streifenwagen in Grünwald und einer auf der Großhesseloher Seite der Isar bestätigten den Einsatz, schalteten die Blaulichter ein und rasten los.
Aber noch ein Fahrzeug empfing den Alarm. Es war der Wagen von Hauptkommissar Rudolf Reichert in der Nähe von Kloster Schäftlarn. An Bord: Reichert selbst und die Forensikerin Doktor Miranda Bellini. Die beiden waren auf dem Rückweg von einem Seminar im Kloster mit dem Titel: 'Notfallpräferenz und Rescue-Relation im Administrativkontext der Kriminaldauerdienst (KDD)Routine unter Berücksichtung des Ländervergleichs'. Referent: Kriminaldirektor Eckhard Bühler, Bielefeld. Grotten-stink-ätzend-langweilig. Reichert und Bellini waren froh, dass die Quälerei ein Ende hatte und freuten sich auf den freien Abend.
Dann kam die Durchsage.
"Reichert, mach das Ding aus!", sagte Doktor Bellini genervt. "Fei-er-a-bend! Gehen wir noch auf ein Glas Wein?" Sie blickte auffordernd den Kommissar an, der immer langsamer fuhr.
"Doc, die Großhesseloher Brücke, die Selbstmörderbrücke, die ist gleich da vorn!"
"Na und? Das ist Sache der Bereitschaft! Hey, du bist die Kripo, und mich interessiert ein Selbstmörder nur, wenn er auf meinem Tisch landet. Und jetzt schalt bitte das bla-bla aus!"
Reichert hatte inzwischen seinen Wagen angehalten.
"Doc, bitte… Ich war als junger Bereitschaftspolizist mal dabei, als sich ein Mädchen dort in die Tiefe gestürzt hat. Lass uns kurz hinfahren, ja?" Doktor Bellini verdrehte theatralisch die Augen und nickte dann.
Okay, amico mio, wenn du willst…"
Als sie die Großhesseloher Brücke erreichten, sahen sie schon die Blaulichter von Feuerwehr, Rotem Kreuz und Polizei. Sie stiegen aus, gingen zum Streifenwagen und zeigten dem Beamten ihre Ausweise.
"Ach, der Kollege Reichert von der Kripo. Was wollt ihr denn hier? Wir haben das schon im Griff!"
"Klar, Kollege Siebert, wir sind rein privat hier, das ist euer Ding. Wir sind nur neugierig." Siebert und Reichert kannten sich flüchtig von einem gemeinsamen Fall, und so antwortete Siebert bereitwillig:
"Junger Mann, ca. zwanzig, ist über die Bahngeleise hochgeklettert. Der Fußgängerübergang ist ja seit Jahren voll vergittert. Aber wenn einer unbedingt will …"
"Und?", fragte Reichert, "ist schon jemand in seiner Nähe?"
"Klar, Kollege, die Kuh ist vom Eis. Der Psychiater vom Kriseninterventionsteam des Roten Kreuzes redet gerade mit dem Selbstmordkandidaten. Wollen Sie mithören?"
"Mithören?", fragte Miranda Bellini. "Wollen Sie andeuten, dass das Gespräch abgehört wird?"
"Äh, ja, sagen wir so, wir machen nur interne Aufzeichnungen, aber das muss bitte unter uns bleiben!"
"Porco dio, ich glaub's nicht! Wenn das an die Öffentlichkeit kommt, redet kein Selbstmörder mehr mit jemand. Das ist unverantwortlich!"
Der Streifenbeamte begann zu schwitzen.
"Ich … ich kann da nichts für …" Reichert klopfte ihm auf die Schulter.
"Klar, Kollege Siebert, von uns erfährt keiner was."
"Ja, gut, das ist ja auch nur die Sache von dem Professor Niederbühl. Der will, dass das aufgenommen wird, weil er das für Vorträge braucht oder für ein Buch, was weiß ich."
"Niederbühl?" Doktor Bellini wurde hellhörig. "Professor Meyer-Niederbühl? Ist der jetzt beim BRK? Und überhaupt – was macht das Kriseninterventionsteam bei einem Suizidversuch? Die sind doch dafür da, Angehörigen oder Einsatzbeamten nach Katastrophen beizustehen, bei PTBS oder so etwas."
"Keine Ahnung, aber der Professor ist in letzter Zeit bei solchen Einsätzen immer vor Ort wie ein Vampir. Aber setzt euch doch in den Wagen, Kollegen."
"Danke, Siebert, und machen Sie bitte lauter."
Der Streifenpolizist drehte den Regler des Rechners hoch, während Reichert mit Sieberts Fernglas den Bahndamm entlang spähte.
"Sieht gut aus, Doc. Der Professor redet mit dem Jungen. Was hast du überhaupt gegen ihn? Ich spüre, dass du ihn nicht leiden kannst, stimmt's?"
"Ach, ich dachte, der ist endlich in Rente. Hat einen Haufen dummer Bücher geschrieben 'Krankheit als Chance', 'Die Kunst des Sterbens', 'Danke für den Krebs', 'Mit Gott zur ewigen Gesundheit' und solches Zeugs. Der Kerl ist Psychiater und Mormone oder sowas, das gefällt mir gar nicht!"
"Dass dir als Italienerin das nicht …"
"Sei still, Reichert, ich will hören, was da gesprochen wird!"
Ein Schluchzen drang aus dem Laptoplautsprecher.
"Sie … Sie sind der Erste, der mir zuhört, der mir glaubt! Der Teufel, die Dämonen! Schrecklich! Sehen Sie, sie sind da … und da … überall!"
Reichert sah durch das Fernglas, wie der junge Mann direkt in seine Richtung zeigte.
"Ja klar!", klang die sonore Stimme des Professors satt und selbstzufrieden über den Äther. "Es gibt Dämonen, ohne Zweifel. Dämonen sind Teufels Gefolge! Aber beruhige dich, wir können ihnen entkommen, wir können sie austreiben, mit Gottes Hilfe."
Reichert spürte, wie sich Miranda Bellini in seinen Arm verkrallte.
"Nein, dieser Scharlatan, der will einen Exorzismus", flüsterte sie, "um dann wieder so ein Machwerk darüber schreiben zu können!"
"Austreiben?", fragte der junge Mann fast unhörbar in das versteckte Mikrofon. "Aber die sind überall! Sie quälen und verfolgen mich seit Monaten, werden immer mehr! Sie werden mich holen!"
"Du musst wissen, mein Sohn, Gott liebt dich so, wie du bist. Du hast Komplexe zuhauf, und du hast Schuld auf dich geladen. Deshalb können die Geister dich erreichen. Sie erwischen nur die Schwachen. Aber Gott kann dich stark machen. Er hat dich vom Geländer geführt, er hat dich stark gegen die Einflüsterungen gemacht."
"Jesus, der Kerl ist verrückt, wir müssen ihn stoppen!
Wir ..."
"Moment, Kollegen, jetzt ist Schluss mit Amtshilfe," unterbrach Polizeimeister Siebert. "Das ist unser Job, euch geht das nichts an. Vielleicht sollte …"
"Okay, okay", sagte Reichert, "schon klar, aber lassen Sie bitte die Aufzeichnung weiterlaufen."
"Sowieso!"
Wieder kam die Stimme des Psychiaters über den Funk:
"Du, mein Sohn, wolltest dich töten, weil die Dämonen hinter dir her sind. Aber keiner wird dir glauben. Sie werden dich in eine Anstalt stecken, dich mit Zyprexa, Trevilor und Prozac vollstopfen, bis dein Gehirn flüssig wird."
"Oh Gott, nein!", schrie Miranda Bellini.
"Sie werden sagen, dass das gut für dich ist, weil es keine Dämonen gibt, sie werden sagen, du wärst völlig verrückt, manisch depressiv, schizoid. Aber ich, wir werden dir helfen. Dich umzubringen ist keine Lösung, denn dann wird Gott dich verdammen. Er ist gnädig und gerecht, aber er duldet nicht, dass jemand das Leben wegwirft, das er ihm geschenkt hat. Du wirst keine Ruhe finden, wirst selbst zu einem Wiedergänger oder Dämonen werden.
"Aber niemand hat mich gefragt, ob ich das Geschenk haben wollte. Und warum schickt Gott mir jetzt Geister und Teufel und quält mich?"
"Er prüft dich, mein Sohn."
Doktor Bellini war kurz vor der Schnappatmung, Reichert stöhnte, und auch Polizeimeister Siebert schüttelte den Kopf.
"Eine Prüfung, eine Prüfung", ereiferte sich der junge Mann. "Wozu? Gott weiß doch, was passieren wird, zum Teufel!"
"Versündige dich nicht und male den Teufel nicht an die Wand! Gott ist unergründlich, mein Sohn. Aber jetzt wollen wir fahren, und mit den Dämonen werden wir schon fertig."
Es entstand eine Pause, und Reichert beobachtete durchs Fernglas, dass der Lebensmüde sich panisch um die eigene Achse drehte.
"Überall, sie sind überall!", kreischte er.
"Wir besiegen sie, du hast dein ganzes Leben noch vor dir!"
Miranda Bellini biss sich auf die Knöchel und knurrte etwas Unverständliches.
Der Professor redete salbungsvoll weiter und packte den Arm des Verwirrten.
"Sag mal, mein Sohn, kennst du Dante?" Der Junge starrte den Psychiater an.
"Dante? Ja klar, Dante's Inferno, das Computerspiel. Aber, verdammt, das ist kein Spiel!"
"Ach ihr dummen jungen Leute, ich meine Dante Alighieri, den Dichter und Philosophen.
Der soll gesagt haben: 'Vergiss nicht den heutigen Tag – er ist der Anfang der Ewigkeit'
Das ist doch tröstlich, nicht wahr?"
"Tröstlich? Es geht in alle Ewigkeit so weiter, ja? Danke, danke für die Entscheidungshilfe!"
Jetzt rastete Doktor Bellini aus. Sie warf die Tür des Streifenwagens auf und rannte los. Aber es war zu spät. Der junge Mann hatte sich losgerissen, rannte über die Geleise zum Geländer, kletterte hinüber und – sprang.
Als Reichert Miranda Bellini erreichte kniete sie auf dem Schotter und weinte Tränen der Verzweiflung und der Wut. Der Kommissar half ihr sachte hoch und führte sie zum Wagen zurück.
Inzwischen hatte die Wut die Oberhand gewonnen, was an der Flut an italienischen Flüchen klar zu erkennen war. Dann wischte sie die Tränen ab und sagte zu Reichert:
"Wir müssen was tun, wir müssen dem Pfuscher das Handwerk legen."
"Und ob, Doc!" Er zog die Tür des Streifenwagens auf, in dem der Uniformierte gerade mit der Zentrale sprach.
"Das war jetzt euer Fall", sagte Reichert, stöpselte den Laptop, auf dem die Gespräche aufgezeichnet waren, ab und klappte ihn zu. "Das ist jetzt ein Beweismittel, Kollege Siebert. Das werden Sie verstehen." Siebert nickte nur und hob zustimmend einen Daumen.
EPILOG
Hauptkommissar Reichert hatte gerade seine Protokolle und den Datenausdruck des Laptops an die Interne Ermittlung und die Staatsanwaltschaft geschickt, als sein Telefon läutete. Es war Doktor Bellini.
"Reichert", sagte sie, wieder ganz die professionelle Forensikerin, "ich bin jetzt fertig mit der Obduktion des Selbstmörders. Vermutlich hat er wirklich Dämonen und Teufel gesehen, ganz sicher sogar. Ich fand deutliche Spuren von Designerdrogen im Blut, aber das ist nicht alles. Er hatte ein Glioblastom, eine Art von Gehirntumor. Das hat manchmal auch diese Auswirkungen."
"Aber eine Operation oder Chemo oder so hätte ihn doch heilen können, wenn nicht dieser…"
"Leider nein, Reichert. Von wegen Dante und Ewigkeit. In diesem jungen Alter ist die Überlebenschance absolut null."
Beide schwiegen lange in das Rauschen der Leitung hinein, dann sagte Miranda, dass sie noch einen Test machen wolle, um die Drogen genauer analysieren zu können und legte auf.
Nach etwa einer Stunde rief sie wieder an, aber ihre Professionalität hatte deutliche Risse bekommen.
"Rudolf", sagte sie und Reichert wurde sofort hellhörig. Wenn Miranda Bellini Rudolf zu ihm sagte, lag etwas Dickes in der Luft. "Rudolf, ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll."
"Was denn?"
"Ich habe meinen Assistenten in den Kühlkeller geschickt, um noch mal eine Gewebeprobe von dem Selbstmörder zu holen. Und als er dann ewig nicht zurückkam, bin ich selber runter um ihn zu suchen. Und habe ihn gefunden. Er saß völlig verstört in einer Ecke und faselte etwas von einem Gespenst, von einem Dämon. Was anderes hab' ich nicht aus ihm herausbekommen und ihn dann gleich in die Psychiatrie bringen lassen. Und dann, Rudolf habe ich …" Jetzt wurde die Stimme der Forensikerin sehr schrill. "… dann habe ich die Kühlschublade kontrolliert. Was soll ich sagen? Sie war leer!"
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Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2015
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