Das letzte Bild
Die Malerin trat von der Staffelei zurück, steckte das Ende des Pinselstiels zwischen die Lippen und blickte über den Brillenrand kritisch auf ihr Werk. Sie war unschlüssig und ärgerte sich, dass sie das Bild überhaupt angefangen hatte. Morgen früh startete der City-Jet von Düsseldorf nach München, wo sie ganze drei Stunden Zeit hatte, ihre Vernissage in einer der renommiertesten Galerien Schwabings zu eröffnen, bevor der Flug zurück ging.
Was, um Himmels Willen, hatte sie geritten, dem Geschäftsführer von Pictures, Paintings & More anzubieten, sozusagen als Zugabe ein völlig neues, aus ihrem Gesamtwerk heraus stechendes Bild mitzubringen? Es sollte sich deutlich von ihren zarten Aquarellen, Ölgemälden und Kollagen unterscheiden, die diese schöne Welt, die heile Natur, die Kindheitsträume vom Lummerland und Phantásien wiedergaben. Gewaltige Sonnenuntergänge über der See, dunkle, geheimnisvolle Wälder, liebliche Flussauen waren eigentlich ihre Themen.
Und dann fiel es ihr wieder ein.
Ebenso wie in ihrer Wohnung liefen auch im Studio ununterbrochen alte Röhrenfernseher ohne Ton. Sie brauchte das als Inspiration. National Geographic TV zum Beispiel. Aus dem Augenwinkel hatte sie neulich wunderbare Bilder von Regenwäldern, Korallenriffen und Mangrovensümpfen gesehen, und fasziniert davon hatte sie den Ton hochgedreht. Doch dann war der Bericht plötzlich gekippt und hatte die hässliche Seite des Planeten dargestellt. Es sah aus, als wäre Armageddon bereits angebrochen, der Weltuntergang. Die Sendung handelte vom Sterben der Arten, vom Tod der Natur, von der Korallenbleiche und der Elfenbeinwilderei. Und er berichtete schonungslos über den Einfluss der Klimaerwärmung, der Umweltverschmutzung und über die unendliche Gier des Menschen, die den Planeten zugrunde richtete. Macht euch die Erde untertan …
Selbstverständlich wusste die Malerin darüber Bescheid, auch wenn sie den Ton selten laut drehte. Höchstens mal, wenn sie sich irgendein Fertiggericht vom Discounter in der Mikrowelle warm machte und halb im Stehen in sich hineinschaufelte. Essen war für sie ein notwendiges Übel, das sie von ihrer Kunst abhielt. Aber sie konnte sehr gut Informationen aufnehmen und abspeichern und wusste natürlich, wie viel tausend Tonnen Nahrungsmittel täglich weggeworfen, verschwendet oder schon auf dem Acker vernichtet wurden. Sie kannte die Bilder der gigantisch wachsenden Müllberge der Wohlstandsgesellschaften, war informiert über die Machenschaften der Mafia, die mit der 'Verarbeitung' der Problemabfälle Milliarden verdiente, und ihr waren die gewaltigen Gebiete in den Ozeanen bekannt, in denen sich der Kunststoffmüll ballte und unzählige Lebewesen grausam zugrunde gehen ließ. Die Malerin war weder naiv noch ignorant. Und so versuchte sie, sozusagen als Gegenpol, das verlorene Paradies in ihren Bildern zu beschwören, die Sehnsucht der Menschen zu bewahren und sie damit zum Umdenken zu bewegen.
Aber sie hatte auch frustriert erkannt, dass das nichts half. Die Menschen betrachteten ihre Bilder, kauften sie sogar und erfreuten sich daran. Der Malerin wurde immer deutlicher bewusst, dass diese Darstellung der Natur nur ein Zerrbild der Wahrheit war und die entsetzliche Bedrohung nicht nur verschwieg, sondern sogar hinter einem wunderschönen Vorhang verbarg.
Deshalb hatte die Künstlerin, aufgerüttelt durch den National Geographic-Bericht, kurzerhand beschlossen, in ihrer Vernissage ein Zeichen zu setzen.
Sie hatte den Galeristen informiert, der erst ablehnend, dann verwundert und schließlich begeistert reagierte. Er sah die Überschriften der Feuilletons schon vor sich:
Renommierte Neo-Naturalistin wird ultra-grün! Neuestes Werk der Künstlerin als Menetekel!
Doch jetzt war sich die Künstlerin nicht mehr sicher. Wütend riss sie die bekleckste Leinwand von der Staffelei und pfefferte sie ins Eck des Ateliers, während ihr Schweißperlen in die Augen liefen. Es war heiß geworden. Kein Wunder, die Elektroöfen glühten nur so vor sich hin. Sie trat zum Fenster, riss es weit auf und atmete tief durch. Während die kühle Luft in ihre Lunge strömte, packte sie ein fürchterlicher Hustenreiz. Keuchend stützte sie sich endlich auf die Fensterbank und versuchte sich zu beruhigen. Sie konnte durch den Tränenfilm schlecht sehen und erfasste kaum, was sich auf der Strasse unter ihrem Fenster abspielte. Dicker, übler Nebel fingerte ins Atelier hinein, doch sie ließ die Flügel offen und ging zur Staffelei zurück. Als sie mit dem Zentralschalter die wattstarken Studioscheinwerfer aktivierte, zitierte sie dramatisch Goethes letzte Worte: "Mehr Licht!", obwohl ihr nicht zum Lachen zumute war. Doch ihre Bronchien und Augen hatten sich beruhigt, und sie konnte sich der neuen Leinwand widmen.
Es dauerte nicht lange, bis sie einer ihrer wunderbaren Flusslandschaften skizziert hatte. Bäume umsäumten das Ufer, die im Gegenlicht dargestellten Stämme im Vordergrund lenkten den Blick auf die gekräuselte Wasseroberfläche und ein grauer Himmel zog am Horizont auf. Kanada in Reinform.
Okay. Sie trat zurück, steckte wieder den Pinselstiel zwischen die Lippen, überlegte kurz, und dann kam ihr eine Erleuchtung. Mit ihrem normalen Malstil konnte sie unmöglich auf die Gefährdung der Natur hinweisen wie sie es beabsichtigte. Aber der Einfall war genial. Eine Uhr. Nicht Salvatore Dalís surrealistischer weicher Chronometer, sondern eine schnörkellose Bahnhofsuhr, die aus dem Fluss aufsteigt, wie das sagenhafte Schwert Excalibur in der Hand Vivianas, der Dame vom See. Und die Uhr sollte auf fünf vor zwölf stehen. Genial.
Nach wenigen Minuten war es geschafft.
Die Malerin legte den Pinsel ab und ging zum Kühlschrank, dessen einzige Aufgabe darin bestand, ein paar Flaschen Heidsieck Monopole Red Top zu kühlen und füllte das frisch gereinigte Glas aus der Spülmaschine randvoll. Sie trank es durstig aus und wischte sich über die Stirn. Verdammt, es war noch viel heißer geworden, aber darauf konnte sie jetzt nicht achten.
Irgendetwas stimmte mit dem Bild nicht.
Kopfschüttelnd stellte die Künstlerin das Glas in die Maschine zurück, warf ein Primax Reiniger-Tab hinterher und hielt kurz inne. War das umweltpolitisch korrekt, was sie gerade tat? Aber sie allein konnte doch nicht die Welt retten! Entschlossen drückte sie den Startknopf und ging zu ihrer Arbeit zurück.
Na klar! Die Aussage des Bildes war zu plakativ. Ein Fluss in einer wunderschönen Landschaft, aus der eine Uhr auftaucht, die auf 11.55 steht? Ja geht's noch? Ihre kapitalstarken intellektuellen Förderer würden sehr pikiert dreinschauen. So ein Bild hätte auch die Marketingabteilung von Greenpeace zustande gebracht! Und die anderen, die Blödmänner? Die würden davorstehen, die Köpfe wiegen und die Aussage nicht verstehen.
Die Malerin ballte die Fäuste und blickte in die Ecke, wohin sie das Bild gleich werfen würde. Ein ganzer Berg wartete da schon auf die Müllabfuhr. Doch dann kam ihr die ultimative Idee. Und sie freute sich so darüber, dass sie den zwerchfellerschütternden Hustenanfall einfach hinnahm und weiterarbeitete.
Wow! Vielleicht würde sie mit ihrem Einfall Kunstgeschichte schreiben! Flusslandschaft mit fünf-vor-zwölf-Uhr? Darüber würden die Kritiker vielleicht hämisch herziehen, auch wenn die Malerin vom Kunstverstand der Experten herzlich wenig hielt. Aber man könnte das Bild slapstickartig hochziehen – raus aus der bürgerlichen Kunstszene und hinein in die Subkultur. Satire, Streetart, Graffiti… Yeah! That's it! Bernd das Brot, das das Dargestellte kommentiert und damit auch für das Kunstprekariat verständlich macht!
Sie brauchte nur wenige Pinselstriche, druckte dann mit ihrem Hewlett Packart zwei Sätze, formatierte sie mit einer ordinären Schere und fixierte sie als Sprechblasen auf der Leinwand. Super! Das würden ihr die selbsternannten blasierten Kunstexperten abnehmen. 'Kunst – Comic – Installation – geradezu skulpturöser Protest', könnten sie schreiben. Ein Axel Hacke etwa würde formulieren: 'Ein Werk von kühner Betroffenheit, das in seiner assoziativ schillernden und doch zugleich zögerlichen Schäbigkeit zutiefst verunsichernd wirkt und Betrachter wie Nicht-Betrachter subversiv düpiert. Ein Ereignis von radikal-ambivalenter Unklarheit, die Grenzen des Banalen so eigentümlich abschreitend wie energisch ertastend und doch zugleich dezidiert auslotend.' Oder so.
Mit wenigen letzten Pinselstrichen verschmolz die Künstlerin Kunst, Slapstick, warnende Botschaft und Comic zu einem Gesamtwerk, ging zum Kühlschrank und setzte den Heidsieck direkt an den Mund, da das Spülprogramm noch lief.
Der Schluck bekam ihr nicht. Sie hustete sich fast die Seele aus dem Leib, ließ die Flasche fallen und stolperte zum Fenster. Ihr Kopf glühte wie ein Lagerfeuer. Draußen war es grau, grau, grau. Und das, was sie durch die Düsternis sah – waren das Menschen? Wenn sie nicht schon nach Luft gerungen hätte, wäre ihr der Atem gestockt. Sie hustete erneut und taumelte zurück zur Staffelei. Auch der Fernseher zeigte nur noch grau in grau. Ein gewaltiger, schmerzvoller Husten beförderte einen Schwall von schwarzem Blut zutage und sprühte grausame Flecken auf das Bild. Stumpf starrte sie es an. Was war passiert? War etwas passiert? Ihr Gemälde gab keine Antwort. Und trotzdem dämmerte es der Malerin. Armageddon. Es hat begonnen!
Sie sank auf die Knie. Und dann erkannte sie die Fehler in ihrem Kunstwerk.
Erstens: Es war nicht fünf vor zwölf, sondern Punkt zwölf. Die Turmuhr von St. Sebald hinter dem Haus begann zu schlagen. Zwölf. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. Es hörte nicht auf.
Sie kippte zur Seite und spuckte wieder Unmengen Blut auf den Boden, wie die Menschen vorhin unter ihrem Fenster. Es war nicht fünf vor zwölf, sondern Punkt zwölf. Und, mit einem schmerzvollen Blick auf ihr letztes Bild, wurde ihr der zweite Fehler klar: Nicht die Natur war am Ende, sondern die Spezies Mensch. Die Natur wehrte sich endlich, sie würde überleben. Die Menschheit nicht. Für sie war die Uhr endgültig abgelaufen.
Der City-Jet LH 666 DUC - MUC würde umsonst auf Passagiere warten.
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Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Helga Siebecke (Themenbild), Bert Rieser (Cover)
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Helgas.,
die geniale Autorin und Malerin.
Aber die Figur der Geschichte hat wirklich nichts mit ihr zu tun.