Cover

1

 

 

 

Niederhaus

 

 

 

 

-I-

 "Also für heute ist's genug mit Sightseeing, Fritz! Lass uns doch mal zur Abwechslung etwas anderes machen, ich meine shoppen gehen, in einem Club abtanzen, etwas für junge Leute, verstehst du?"

"Ich… ich dachte, dir gefällt unsere Reise, jetzt bin ich ganz verwirrt, war es nicht schön bisher?"

"Doch, schon, und es war auch eine süße Idee von dir, mit mir die Romantische Strasse entlang zu fahren, noch dazu mit diesem schnuckeligen Oldtimer. Aber schau, unter Romantik verstehe ich halt nicht nur alte Autos, Kirchen Schlösser und sonstiges staubiges Gemäuer. Ein Dinner bei Kerzenlicht, vor einem prasselnden Kamin mit einem Glas Champagner sitzen oder im Kino eine herrliche Schnulze anschauen, zusammen auf der Couch kuscheln – soll ich dir das erst erklären?" Sie zog Friedrich Hürnhaim an seiner Krawatte zu sich heran und küsste ihn leidenschaftlich.

"So etwa! Oder muss ich noch deutlicher werden?" Friedrich schnappte nach Luft und richtete sich auf. Während er seine Haare ordnete betrachtete er seine Freundin, als sähe er sie zum ersten Mal.

"Aber Suzanna, warum hast du denn nichts gesagt? Wir sind jetzt seit drei Tagen unterwegs, von Würzburg aus über Rothenburg, Dinkelsbühl und jetzt in dem herrlichen Städtchen Nördlingen. Und die putzigen Hotels, in denen wir bisher übernachtet haben, und der Rundgang eben über die Stadtmauer, war der nicht wunderschön, und jetzt das Hotel Sonne, mehrere Kaiser haben hier schon übernachtet und Goethe, und außerdem sind wir hier mitten in einem riesigen Meteoritenkrater – wenn das nicht romantisch ist!" Suzanna Höger seufzte.

"Ach Fritz, der Meteoriteneinschlag war vor Millionen von Jahren, und die Kaiser und der olle Goethe sind auch schon ein paar Jahre tot. Und schau dir doch mal die Bar im Keller an, das 'Stäpfele'. Die ist genau so spießig und altbacken, wie sie heißt. Ich weiß, du findest das natürlich wieder soo romantisch! Und hast du die Geschäfte auf unserem Rundgang gesehen? Da kann man ja nur kreischen!"

"Geschäfte?"

"Na Schuhläden, Klamottenshops oder auch Bars zum Chillen, Discos, Clubs; alles Fehlanzeige. Über die Auslagen der 'Boutiquen' würde sogar meine Oma lachen, verdammt!

"Ach Schatz, Shoppen ist doch nicht romantisch!"

"Romantisch, romantisch, ich-kann-es-nicht-mehr-hören. Deine Schlösser und Mauern sind sterbenslangweilig, genau wie dein Geschichtstick, mein Freund. Und jetzt lass uns die Koffer wieder einpacken und ab nach Hause. Mir reicht's. Es ist gerade mal Mittag; lass uns einen Macy suchen, wenigstens den wird's in diesem Kaff geben, einen Burger essen, und am Abend sind wir daheim, okay?"

"Neinneinnein, Schatz, das geht gar nicht!" Pures Entsetzen stand auf dem blassen Gesicht von Friedrich Hürnhaim. "Wir müssen doch bis nach Füssen, bis zum Ende der Romanti…"

"Vergiss es!" Suzannas Antwort war hart und knapp. Friedrichs Panik verstärkte sich. Er hatte doch alles so schön geplant. Das edle Hotel in der Altstadt von Füssen, die vorbestellten Blumen und der Champagner auf dem Zimmer, der reservierte Tisch im altehrwürdigen Traditionsrestaurant und, ja, der sauteure Ring. Er hatte vor, Suzanna am Ende ihrer Reise einen formvollendeten Antrag zu machen. War das jetzt alles für die Katz? Und mit der Panik kam auch ein anderes, seltsames Gefühl hoch. Sollte er sich in ihr getäuscht haben? War sie vielleicht doch nur auf Fun und Tinnef aus, oberflächlich und hohl, wie so viele in ihrem Alter? War ihre Welt eher in Clubs zuhause, als in Museen? Aber er hatte einen Trumpf im Ärmel, den er noch auszuspielen gedachte.

"Suzanna, Liebling, ich verstehe dich. Ich hab' dir vielleicht zu viel zugemutet; ich schloss von meinen Interessen auf deine, entschuldige, aber gib' mir eine Chance. Ich habe noch etwas, das dich beeindrucken wird, denke ich."

"Hey, Fritzipitzi, lass mich raten, hat das was mit meinen Fingerchen zu tun?  Sag' schon!"

"Nun ja, vielleicht, aber vorher muss ich dir noch was anderes zeigen, nämlich eine – und jetzt raste bitte nicht aus – eine Burg". Suzanna sprang aus dem Sessel hoch.

"Das ist nicht dein Ernst! Sprech' ich arabisch? Ich habe es dir schon gesagt, ich kann nicht mehr!" Hürnhaim stand ebenfalls auf, fasste sie vorsichtig an den Schultern, sah ihr tief in die wütenden Augen und beschwor sie:

"Bitte, Schatz, es ist nur noch eine einzige Burg, eine ganz kleine. Und diese Burg hat etwas mit mir persönlich und mit der Geschichte meiner Familie zu tun. Das ist verdammt wichtig für mich, das ist auch ein Grund, warum ich diese Reiseroute geplant habe. Gib mir bitte die Chance, es dir zu erklären, ich muss zu dieser Burg. Mit dir." Suzanna holte tief Luft, blies die Backen auf, ließ sie langsam wieder entweichen und sank zurück in den Sessel.

"Na gut, Fritzipitzi, wenn dir so viel daran liegt, dann zeig mir halt deine doofe Burg. Aber morgen fahren wir heim, okay?" Friedrich Hürnhaim atmete erleichtert durch.

"Klar, Schatz, danke. Und ich versichere dir, es ist gar nicht weit."

 

 

-II-

  ... Es geht um das Reich, es geht um Unser Erbe; es geht um unser aller Ehre, meine Waffenbrüder. Wir rufen Euch und Eure Mannen auf zum Kampf, hinab nach Italica, dem Feinde entgegen, Karl von Anjou, dem verfluchten Franzmann und Papst Clemens, seinem gottlosen Vasallen. Folgt Uns und erobert Teutsches Reichsgut zurück in italischen Landen. Mit Gott!

Konrad von Hohenstaufen

 

Der Brandbrief erreichte auch Burg Niederhaus, und er klang nach Kampf, nach fernen Ländern, nach Abenteuern, nach Ruhm und Ehre. Natürlich war der Edelfreie Friedrich von Hürnheim sofort bereit, seinem besten Freund, Corradino - Konradin, wie die Italiener den gerade 15jährigen Konrad nannten, in die Schlacht zu folgen.

Sie waren zwar nur 3000 Mann, als sie über die Alpen zogen, doch von überall her stießen Waffenbrüder hinzu, Feinde Anjous, Feinde des Papstes. Sie fühlten sich stark, übermächtig und im Recht. Und sie waren überzeugt, Gott an ihrer Seite zu haben.

Doch bei Tagliacozzo wurde das Heer vernichtend geschlagen.

 

 

-III-

Es war wirklich nicht weit. Die Fahrt ging durch das Berger Tor aus der Freien Reichsstadt hinaus, am leeren, auf den Winter wartenden Freibad vorbei, durch das kleine Dörfchen Herkheim hindurch und auf einer schmalen Strasse steil eine Anhöhe hoch, die Teil des alten Meteoritenkraterrandes war. Von hier hatte man einen tollen Überblick über das Westries, und Friedrich bemerkte erleichtert, dass Suzanna die Aussicht zu genießen schien. Er fuhr schließlich den Kraterrand auf der anderen Seite hinunter und bog in eine Verbindungsstrasse ab. Die Oktobersonne ließ das Herbstlaub wie Feuer brennen und verzauberte die uralte Landschaft in einen Märchenpark. Sachte streichelte Friedrich Suzannas Knie, die ihn anlächelte und leise sagte:

"Ja, das ist wirklich schön hier, aber etwas … einsam, nicht?" Er lächelte.

"Schon, aber gleich kommt wieder ein Dorf, pass auf!" Er fuhr betont langsam, damit Suzanna auch ja das Ortsschild entziffern konnte. Sie lachte laut auf.

"Hürnheim! Du Schuft hast das gewusst! Aber, aber, mein Freund – du schreibst dich mit 'a', Hürnhaim und nicht Hürnheim."

"Das stimmt, aber das liegt an irgendeiner Lautverschiebung oder so etwas. Meine Familie stammt wirklich von hier. Sie waren die Edelfreien von Hürnheim seit dem 12. Jahrhundert."

"Echt jetzt?"

"Echt."

"Dann bist du also ein Adeliger?"

"Ja, so kann man sagen." Friedrich grinste in sich hinein. Sein Plan ging auf, Suzanna schien beeindruckt.

"Und wo ist jetzt die Burg des Edelfreien Friederich?"

"Gemach, gemach, mein edles Fräulein." Er bremste, bog rechts in einen Flurbereinigungsweg ein und fuhr einen Hügel hoch bis zu einer uralten Linde. Dort stieg er aus, ging um den Morgan herum und öffnete die Beifahrertür.

"Voilà, Mademoiselle!" Er versuchte sich zu orientieren, drehte sich um die eigene Achse und deutete schließlich nach Norden:

"Dort drüben, der Riesrand, das müsste der Albuch sein. Dort fand eine der bedeutendsten Schlachten des 30jährigen Krieges statt …"

"Du kannst es nicht lassen", sagte Suzanna und boxte ihn in die Seite.

"… und auf dieser Seite …", er drehte sich um 180 Grad, "ist die Burg meiner Ahnen."

"Krass. Aber wo?"

"Na da!"

"Suzanna kniff die Augen zusammen und entdeckte über einer schmalen Schlucht graues Gemäuer, das von einem ebenso grauen Turm überragt wurde.

"Das soll eure Stammburg sein?", fragte sie skeptisch. "Bist du sicher?"

"Na ja, ich denke schon. Ich muss zugeben, dass ich auch zum ersten Mal hier bin, aber ich habe das alles recherchiert. Meine Eltern haben mich nie richtig aufgeklärt. Geschichtlich, meine ich."

"Geschichtlich, so so. Und anders?" Suzanna grinste frech.

"Blödmann", sagte Friedrich. "Aber im Ernst. Das ist ein Kapitel, über das mein Vater kaum gesprochen hat. Und mein Großvater auch nicht. Ich glaube, das war schon immer so. Nur meine Mutter hat was von einem Familienfluch angedeutet, aber genaues wusste sie auch nicht. Es gebe da eine Geschichte, nach der zwei meiner Vorfahren, zwei Brüder, mit einem Heer nach Italien gezogen seien, und nur einer ist zurückgekommen. Und der hat Niederhaus nie wieder betreten. Na ja, die Hürnheimer hatten ja mehrere Burgen. Hochhaus, Rauhaus, Katzenstein, was weiß ich noch – Auswahl hatte er genug. Aber aus der Zeit stammt die Sage von dem Fluch, nach dem kein männlicher Abkömmling die Burg betreten darf. Deswegen wurde sie auch verkauft, an die Oettinger-Wallersteiner. Das sind die mit dem Bier, du weißt schon. Übrigens hat mein Vater mir seltsamerweise den Namen meines Vorfahren gegeben, der in Italien verschollen blieb. Friedrich. Und jetzt will ich endlich selbst erfahren, was es damit auf sich hat, verstehst du?"

"Nicht wirklich, Fritzipitzi, aber jetzt hast du es gesehen, genug von der Niederhaussaga, lass uns zurückfahren, es wird langsam kalt."

"Sag' mal, spinnst du? Ich muss da jetzt rein, du bist so, so…"

"Na okay", lenkte Suzanna ein, "ich komm ja mit. Also los, bevor es dunkel wird."

 

-IV-

 Tausende von Toten bedeckten die Walstatt, Gefangene wurden noch auf dem Schlachtfeld hingerichtet, doch Konradin von Hohenstaufen war nicht darunter. Er hatte es geschafft, mit einer Handvoll seiner getreuesten Mitstreiter zu entkommen. Charles d'Anjou schäumte vor Wut, und Papst Clemens rannte kreuzeschlagend und psalmodierend in seinem Palast herum.

Doch dann wurde die Fluchtroute Konradins verraten, er und seine Vertrauten nach Neapel geschafft und in den Kerker geworfen. Der Prozess, der ihnen gemacht wurde, war eine Farce. Obwohl nur einer der Richter für die Hinrichtung stimmte, verurteilte Karl von Anjou selbstherrlich alle Gefangenen zum Tode durch das Schwert.

 

-V-

Friedrich und Suzanna marschierten von der Linde aus einige hundert Meter an der Schlucht entlang, bogen am alten Wirtschaftshof auf den Pfad zur Burgruine hoch und erreichten schließlich die Brücke, die über einen Halsgraben in die Burg führte. Von hier aus sah das Gemäuer schon viel beeindruckender aus. Ein gewaltiger Viereckturm aus riestypischem Meteoritengestein und Buckelquadern bewachte den Eingang, und eine Unzahl von krächzenden Krähen begrüßten die einsamen Eindringlinge. Suzanna fröstelte trotz ihrer warmen Jacke, aber sie folgte Friedrich in die Ruine hinein. Um nichts auf der Welt wäre sie alleine zurückgeblieben. Die Reste des Palas ragten bizarr in den immer dunkler werdenden Himmel hinein, der Stumpf eines Wasserturmes gab einen schwindelerregenden Blick ins Kartäusertal frei, über dem die Burg aufragte. Plötzlich glaubte sie, Klappern von Geschirr zu hören, die Klänge einer Laute, Pferdegewieher und das raue Lachen von Männern. Kalte Schauer liefen ihren Rücken hinunter, während sie Friedrich durch das Steinlabyrinth zu folgen versuchte.

Auf einer freien Fläche der Vorburg fand sie ihn schließlich. Er stand versteinert wie eine Statue und starrte durch eine Bresche ins Tal hinunter.

"Fritz!", rief sie, "Fritzipitzi, Friiidrich! Was machst du, was ist los?"

Endlich drehte ihr Freund den Kopf.

"Spürst du es?", fragte er leise. "Spürst du die Geschichte?"

"Ich spüre nur die Kälte", rief sie, "Und mir graust es. Komm, los, weg hier!"

"Ja", antwortete Friedrich fast tonlos, "du musst gehen. Ich muss bis zum Morgengrauen bleiben. Der Fluch, meine Ahnen…"

"Du bist ja völlig verrückt geworden, du Narr", schrie sie und packte ihn am Arm. "Wir hauen jetzt sofort ab! Deine Eltern hatten Recht – das ist kein Platz mehr für euch!"

Sie zerrte weiter an seinem Arm, und widerstrebend ließ sich Friedrich aus der Ruine ziehen. Fast den ganzen Rückmarsch zum Auto stolperte er an ihrer Hand und drehte sich immer wieder zur in der Dämmerung und aufsteigenden Nebelschwaden verschwindenden Burg Niederhaus um.

 

Als Suzanna am nächsten Morgen aus einem von Alpträumen geplagten Schlaf wie gerädert erwachte, war Fritz verschwunden. Sie blickte auf den Innenhof des Hotels hinunter und stellte fest, dass auch der Morgan weg war. Die Rezeptionistin wusste von nichts, niemand hatte den jungen Mann nachts gesehen.

Suzanna führte einige Telefonate, frühstückte, versuchte erneut, sein Handy zu erreichen, und erst jetzt wich ihre Verwunderung dem Zorn. Aber schnell wurde aus dem Zorn Angst.

 

-VI-

Das Urteil war ungerecht und gnadenlos. Aber die Gefangenen hatten es nicht anders erwartet. Auf sie alle wartete der Henker.

Konradin, der letzte Hohenstaufer, erhob sich von seinem Strohlager und blickte im Dämmerlicht seinen Mitstreitern und Freunden in die Augen.

"Ich danke Euch, meine Edlen, für Eure Treue, Euren Mut, Eure Tapferkeit. Euch, Friedrich von Baden, Euch, Wolfrad von Veringen, Euch, Konrad von Flüglingen, Euch …"

Es war nicht viel mehr als eine Handvoll Getreuer, die dem gerade mal 16 Jahre alt gewordenen Hohenstaufer zur Richtstatt folgen würden. Jedem einzelnen von ihnen gab er die Hand und bedankte sich.

"Ich weiß, wir werden diesen letzten Weg auf der Piazza de Mercado in allen Ehren, mit allem Mut gehen, und Gott ist bei uns. Der Schwertstreich des Henkers wird mehr als ein Ritterschlag sein. Als Ritter Gottes werden wir gemeinsam das himmlische Jerusalem erreichen. Nur…" Konradin hob die Stimme, die jetzt vor unterdrückter Wut zitterte. "Nur einer nicht. Ihr wisst, wen ich meine. Meinen besten Freund, Friedrich von Hürnheim. Er wird nicht mit uns unter dem Schwert des Henkers sterben, denn er hat uns verraten. Deshalb verfluche ich ihn und seine Nachkommen in alle Ewigkeit. Sollte Friedrich von Hürnheim jemals seine sichere Burg Niederhaus erreichen, so soll ihn mein Fluch treffen. Er soll durch das Schwert sterben so wie wir, und dann hinabfahren in die tiefste Hölle. Amen."

Er setzte sich wieder auf die verschimmelten Strohballen und schwieg wie seine Mitgefangenen, die stumm auf den Boden starrten.

 

 

-VII-

"Jo mei, was sollen wir jetzt da machen?", fragte der Beamte auf der Polizeistation. "Wie lang sind Sie schon verheiratet? Noch gar nicht? Ah so."

Es war Freitagmorgen. Auf der Polizeiwache was nichts los. Gar nichts. Öde, langweilig. Und das war der Grund, weshalb die Nördlinger Polizisten Ermittlungen aufnahmen, für die es nach den Vorschriften eigentlich noch zu früh war. Und dann fanden sie unter der Linde oberhalb von Hürnheim den Morgan. Damit hatten sie plötzlich einen richtigen Fall.

Zwölf Beamte durchsuchten die Ruine Niederhaus sorgfältig – ohne Ergebnis.

"Und Ihnen ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen?", fragte Hauptkommissar Strempel an Suzanna Höger gewandt.

"Es ist plötzlich sehr kalt geworden, gestern."

"Na ja, wir haben den 29. Oktober, und es hat ja auch in der Nacht geschneit, wie Sie sehen. Wie weit sind Sie denn in die Ruine hineingegangen?"

"Also, wir sind da durch die Halle und dann durch das Portal dort raus auf den Hof. Und dort an der Mauer ist der Fritz dann gestanden wie angenagelt, aber bei seiner Familiengeschichte ist das ja verständlich. Ich habe ihn dann von da weggezogen und zurück zum Auto. Also, weiter, als bis zu dieser Mauer sind wir…" Sie stockte und starrte die Mauer an. "Das, das gibt's doch nicht!"

"Was meinen Sie?"

"Da, da, die Tafel, wo kommt denn die Tafel plötzlich her?" Sie deutete entsetzt auf eine verwitterte Gedenkplatte.

 Dem Andenken des Edelherren

von Hürnheim, der mit dem letzten

Hohenstaufen Konradin

Am 29.Oktober 1268 zu Neapel

enthauptet wurde

 

"Also die sieht aus, als würde sie schon hundert Jahre dort hängen."sagte Hauptkommissar Strempel und trat näher an die Mauer heran.

"Herrgott, ich bin doch nicht blöd, ich schwöre, dass gestern hier noch keine Gedenktafel hing, glauben Sie mir!"

"Gott, sie zittern ja vor Kälte, kommen Sie, meine Kollegin nimmt Sie mit auf die Wache, oder wollen Sie vorsorglich in Stiftungskrankenhaus, da kann man… Frau Müller, kommen Sie mal bitte…"

 

Ein erneuter Suchdurchgang in der Ruine ergab wieder nichts. Es war schon Nacht, als Strempel mit seinem Kollegen Pischzan nach Nördlingen zurück fuhr.

"Irgendwas ist da faul", sagte Pischzan plötzlich.

"Was soll da faul sein? Der Typ hat seine Tussi sitzen lassen und sich vom Acker gemacht, das kennen wir doch!"

"Und er lässt seinen Morgan ausgerechnet hier stehen? Und die Schneespuren führen nur in die Burg hinein, aber nicht heraus!"

"Ja, aber wo soll der Typ dann sein? Irgendwo im Niederhaus versteckt? So nach dem blöden Motto: Das Haus stiehlt nicht, es versteckt nur? Aber du hast schon Recht. Wir holen morgen die Hundestaffel aus Augsburg, dann wissen wir vielleicht mehr. Außerdem schreiben wir ihn zur Fahndung aus."

"Und dass die Frau so darauf schwört, dass die Gedenktafel gestern noch nicht da war, das ist doch krank, oder?" Strempel lachte.

"Also, ich war seit meiner Jugend schon einige Mal auf Niederhaus, und mir ist die Tafel auch noch nie aufgefallen. Und dir?"

"Mir, ehrlich gesagt, auch nicht."

"Na also. Komm, gehen wir nachher noch ins Stäpfele auf ein Feierabendbier!"

 -VIII-

Die rasende, lärmende, sensationslüsterne Menge auf der Piazza de Mercado in Neapel konnte von den Wachsoldaten kaum gebändigt werden. Der Schinderkarren hatte das Richtpult erreicht, die Gefangenen an ihren Ketten herausgezerrt und zum Podium getrieben. Vereinzelt ertönten Rufe: "Corradino, Corradino!", die aber unter den Knüppelhieben der Franzosenschergen schnell verstummten. Sie brandeten wieder auf, als Konradin als erster die Stufen zum Richtklotz hoch gezerrt wurde, und dann legte sich eine gespenstische Ruhe über den Platz. Konradin hatte die Hände seiner Bewacher abgeschüttelt und schritt hocherhobenen Hauptes zum Richtblock. Viele der Gaffer bekamen Tränen in die Augen, als sie den jungen Edelmann, der fast noch ein Kind war, da oben so tapfer stehen sahen. Konradin nickte dem rot gekleideten Henker zu, kniete nieder und legte das Haupt auf das Holz, während ein schwarzer Pfaffe lautstark irgendwelche Psalmen herunterleierte.

Der Scharfrichter hob das Schwert, prüfte mit dem Daumen seine Schärfe und blickte zum Palazzo hoch, hinter dessen Fenster die Schemen von Karl von Anjou und Clemens zu erkennen waren.

Plötzlich kam wieder Lärm auf. Irritiert versuchte der Henker die Ursache zu erkennen. Es war ein zweiter Schinderkarren, der sich den Weg zur Richtstätte bahnte. Auch die Delinquenten, die in einer Reihe hinter dem Richtblock standen, reckten die Köpfe. Als erster sah Wolfrad von Veringen den Verurteilten, der von der Karre gezogen wurde. Trotz des seltsamen Gewandes erkannte er ihn: Es war Friedrich von Hürnheim.

"Konradin, Konradin", schrie von Veringen, "es ist Friedrich! Sie müssen ihn erst gefangen haben, vielleicht war er hier, um uns zu befreien, er ist kein Verräter, hört Ihr, Konradin? Ihr müsst Euren Fluch zurücknehmen!"

Konradin von Hohenzollern drehte den Kopf auf dem Richtblock. Gleichzeitig hatte der Henker wieder zum Palazzo hochgeblickt und das Zeichen gesehen.

Als der Name Friedrichs gequält aus dem Munde Konradins drang, wirbelte sein Kopf schon blutend durch die Luft und landete polternd im Korb unter dem Richtblock.

Es war der Morgen des 29. Oktober.

 

Epilog

 Mitten aus der aufgehenden Sonne stürzte sich plötzlich ein Vogel herab, berührte den kopflosen Hals des Edelfreien Friedrich von Hürnheim mit seinem Flügel und trug sein Blut hoch, hinauf in den Himmel. Einige sagen, es wäre eine Eule gewesen, andere wiederum schwören, dass es ein Adler war.

Und diese Sage wird noch immer erzählt im Kartäusertal, wenn der Wind durch die grauen Mauern von Niederhaus heult.

 

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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser unter Verwendung einer Radierung aus dem 19. Jahrhundert; unbekannter Künstler
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

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