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Top of Germany




Auf wen soll ich schimpfen? Auf den Sperling-Verlag? Auf BookRix?
Nein, auf keinen von beiden. Niemand hat mich gezwungen, es war ganz allein meine Entscheidung. Ich starre durch die Windschutzscheibe hinauf in den grauen, düsteren Himmel und friere schon jetzt.

Vor etwa einem Jahr habe ich mit meiner Geschichte "Flocky" den ersten Preis beim Wettbewerb "Wintermärchen" des Sperling-Verlags gewonnen und ja, von BookRix, das den Preis spendiert hat, wurde ich explizit gefragt, ob ich alternativ lieber einen Amazon-Gutschein möchte.
Ich habe aber das gewählt, vor dem mir jetzt ein bisschen graut: eine Übernachtung für zwei Personen auf der Zugspitze – in einem eisigen Iglu.

Vor einem Jahr erschien mir das als eine tolle Idee, ein Abenteuer, eine neue Erfahrung, die ich aber verschieben musste, weil ich bis zum nahen Saisonende keine Zeit hatte. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob die Idee wirklich so toll ist.

Ich beobachte aus dem Augenwinkel, ob sich Billes Miene ändert, als kurz vor Garmisch die Wolken immer tiefer hängen. Aber nein, sie scheint sich noch immer auf das Erlebnis zu freuen. Mist. Jetzt kann ich keinen Rückzieher mehr machen. Wir durchqueren Garmisch-Partenkirchen und fahren bis zum Eibsee, wo ein Bahnhof der Zahnradbahn und die Talstation der Gondelbahn dicht nebeneinander liegen. Das ist schon mal gut, weil wir - wenn's denn geht – mit der Bahn zur Zugspitze hochfahren wollen und mit der Gondel am nächsten Tag wieder runter. Die nette junge Dame am Schalter erklärt uns, dass das kein Problem sei und eine Tageskarte für alle Bahnen gelte, auch für die Gletscherbahn, die vom Zugspitzplatt auf den Gipfel fährt und auch für alle Skilifte da oben. Und sie zeigt uns auch einen speziellen Parkplatz, den die Igludorfübernachter kostenlos benutzen dürfen. Perfekt.

Während ich das Auto parke checkt Bille noch einmal per Smartphone das Zugspitzwetter. Dort oben soll's Sonne geben? Wer's glaubt, wird selig! Aber wat mutt, dat mutt, wie wir Bayern sagen.
Apropos Bayern. Es gibt Bayern, die noch nie auf der Zugspitze waren, und es soll sogar welche geben, die nicht Ski fahren. Kaum zu glauben, aber wahr. Wir beide gehören dazu.
Trotzdem zwängen wir uns jetzt in doppelte Skiunterwäsche, Skihosen und Daunenjacken, dicke Winterstiefel und Fellmützen. Ich hasse Hüte, Mützen, Kappen jeder Art, weil ich damit wie ein Idiot aussehe. Aber besser wie einer aussehen, als einer sein. Ohne Kopfbedeckung würde nur ein Narr auf der Zugspitze übernachten. Zum Glück haben wir einen VW-Bus; in einem Fiat Panda wäre ich beim Umziehen wahrscheinlich explodiert.
Rucksäcke auf und los geht's!

Die alte Zahnradbahn, die seit 1930 hochklettert, tuckert erst noch gemütlich durch einen schneebedeckten Märchenwald, und dann geht es steil hoch. Wie steil merkt man erst, wenn man versucht, im Zug herumzulaufen. Über Fernsehmonitore flimmern Sicherheitsinstruktionen wie im Flugzeug, nur ohne Schwimmwesten und lassen uns an das Unglück von Kaprun denken. Und dann wird es dunkel. Die Fernsehstimme erklärt, dass jetzt das interessanteste Stück der Strecke beginnt. Wir sehen nur schwarz. Und dann fallen mir Rosi Mittermaier und Christian Neureuther ein, die mit ihren Walking-Stecken abschreckende Werbung für irgendwas machen. Nach 'unserer' Gold-Rosi ist nämlich der abzweigende Tunnel benannt, der 1987 zum Zugspitzplatt gebaut wurde. Der Rest der alten Route zum Schneefernerhaus wird nicht mehr befahren. Für die damalige Zeit war die über vier Kilometer lange Tunnelstrecke eine Meisterleistung, und nicht umsonst wurde die Bayerische Zugspitzbahn 2007 als 'Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland' nominiert.
Aber sehen können wir kaum etwas davon, bis der Zug den Endbahnhof Zugspitzplatt erreicht.

Wir steigen aus, und als wir aus dem Gebäude treten, werden wir geblendet. Der verflixte Wetterbericht hatte also doch Recht! Strahlende Sonne über der Wolkendecke! In der glasklaren Luft flimmern Eiskristalle, der tiefgefrorene Schnee knirscht lautstark unter unseren Stiefeln, wir sind begeistert. So klare Luft haben wir zuletzt auf Island erlebt.
Ich stehe und schaue, blende die Pistenraupen, Skilifte und das Sonn-Alpin-Restaurant aus meinem Blick und fühle mich wie Caspar David Friedrichs 'Wanderer über dem Nebelmeer'.
Wahnsinn!
Wir waren schon oft in den Bergen und haben auf die Wolken hinunter geschaut, aber noch nie im Winter. Weiß, weiß, weiß, wohin man schaut. Kaum zu glauben, dass der Gletscher da drüben in zwanzig Jahren verschwunden sein wird; jetzt sieht alles puderzuckrigfrischsauberhappy aus. Und es ist kalt. Klimawandel? Wie bitte? Mir fällt gleich die Nase ab! Aber ich kenne natürlich den Unterschied zwischen Wetter und Klima, aber jetzt sind nicht Zeit und Ort, um düstere Gedanken zu hegen.

 

 

 



Ein paar Meter oberhalb des Sonn-Alpin steht Deutschlands höchstgelegene Kirche, eine kleine Kapelle, in der oft und gern geheiratet wird. Es soll der Ehe einen besonderen Kick geben, wenn man das Brautkleid 3000 Meter hoch schleift. Nun gut, andere geben sich das Ja-Wort unter Wasser oder an einem Fallschirm baumelnd. Ich befürchte allerdings, dass die Exotik des Ortes keinen Einfluss auf das Haltbarkeitsdatum der Ehe hat.
Ich stapfe die kurze Strecke zu der Kapelle hoch, die zum Gedenken an die Opfer des Berges errichtet worden ist, während Bille den höchsten, nein, höchstgelegensten Maibaum Bayerns, Deutschlands und wahrscheinlich des ganzen Universums betrachtet.

Hergottnochmal! Mir geht vielleicht die Pumpe nach dem kleinen Anstieg! Ich schnaufe wie ein Walross beim Landgang. Okay, bis gestern war ich wegen einer Grippe ziemlich malade, aber trotzdem, ich bin doch noch keine Siebzig!
In dem Kirchlein belustigt mich ein Wandgemälde. Johannes der Täufer bei der Arbeit. Aber nicht im Wüstensand am Jordan, sondern am schmelzenden Gletscher. Doch der Täufer wird den Untergang auch nicht mehr ändern können, befürchte ich.
Schließlich entdecken wir neben einer Piste Fahnen im Schnee, die auf das Iglu-Dorf hinweisen, in dem wir die Nacht verbringen wollen? müssen? werden!

Wir folgen ihnen und sind überrascht, dass das 'Dorf' praktisch um die Ecke liegt. Davor sind Liegestühle aufgebaut und eine 'Schnee-Bar', die auf einen Glühwein einlädt. Und noch auf einen. Sitzen, trinken, schauen – klasse!



Rein in die eisigen Grotten dürfen wir noch nicht; dazu müssen wir erst das Briefing absolvieren. Und das findet im Sonn-Alpin statt. Hier begegnen wir auch zum ersten Mal unseren Leidensgenossen, die mit uns die eisige Nacht als Teilzeit-Inuits teilen werden. Zusammen mit unseren Guides Jenny und Andi – sprachlich eher aus flacheren Gefilden unseres Landes stammend -, die uns auf sehr sympathische Weise erklären, was auf uns zukommt, wie wir uns im Hochgebirge zu verhalten haben, was zu tun ist, wenn der Kreislauf kollabiert oder um 3.00 Uhr morgens die Iglus evakuiert werden müssen, weil über uns eine Lawine abgesprengt wird, wie viel (kostenlosen) Tee wir schlucken müssen, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen und ähnliche Erfreulichkeiten mehr. 'Hilfe!', scheinen einige Gesichter auszudrücken. Ich kenne diese Art allumfassender, juristenuntermauerten Aufklärung aus den USA und grinse mir eins.

 


Unsere 'Guides', Jenny und Andy



Dann werden die Schlafsäcke ausgegeben. Es gibt Standarttypen und Doppelsäcke für Romantiker. Bille und ich entscheiden uns für Standard; schließlich sind wir schlafsackerfahren. Ich hasse schon diese idiotischen Decken in französischen Hotels, wo jeder in der Nacht um seinen Anteil kämpft. Und das jetzt übertragen auf die Minusgrade in einer Eishöhle – einen Doppelschlafsack bekommt man nie dicht! Und erzähl mir keiner was von Romantik bei den Temperaturen. Okay, wir beide heben das Durchschnittsalter der 18 Übernachtungsgäste gewaltig, aber sollen die Jungspunde doch ihre eigenen Erfahrungen machen! Doch dann sehe ich, dass die Romantikerfraktion verschwindend gering ist. Erstaunlich.
Wir bekommen noch je eine dünnen, frisch gewaschenen Innenschlafsack zwecks Hygiene (die Expeditionssäcke werden gelüftet – zumindest wird uns das versichert – aber können nicht nach jedem Gast gewaschen werden. Auch dieses Prinzip kennen wir aus Hotels: Unter die fragwürdige Steppdecke wird ein Leintuch geschlagen, aber im Laufe der Nacht hat man doch das eklige Teil im Gesicht – aber wir leben noch immer!), und dann geht's hinaus aus dem völlig überheizten Sonn-Alpin in die glitzernde Kälte.

Im Rudel erklimmen wir den Hügel zur Kapelle und wandern zum Iglu-Dorf. Und jetzt bin ich wieder mit meinem Alter versöhnt – die Jugend hechelt und keucht ebenso schweißhundartig wie wir. In knapp 3000 Metern Höhe wird die Luft schon knapp.


Auf 3000 Meter macht nicht nur die Kondition schlapp, sondern offenbar auch die Grammatik!



Ich komme ins Grübeln, wie dünn die lebenserhaltende Schicht um unseren blauen Planeten doch ist und wie konsequent aus Profitgier, Egoismus und Dummheit wir Menschen daran arbeiten, sie zu zerstören. Das 'Nach mir die Sintflut-Prinzip' Aber weg mit den trüben Gedanken! Nach mir ...

Wir betreten das Iglu-Dorf durch eine rustikal gezimmerte Tür und erreichen über einen schmalen Gang die Bar. Hier gibt's erst mal einen Glühwein aufs Haus, wir können uns gegenseitig etwas beschnuppern und werden dann auf die einzelnen Schlaf-Iglus verteilt. Wer sich verwinkelte, dunkle, enge Gänge vorstellt und dabei Platzangst befürchtet, den kann ich beruhigen. Es ist geräumiger, als man denkt, die Wände sind schneeweiß – wie sonst? - und durch versteckt eingebaute LED-Lämpchen gut beleuchtet. Und dann sind da ja noch die herrlichen phantasievollen Kunstwerke, die überall aus dem Eis herausmodelliert worden sind. Ein überlebensgroßer Eisbär weist uns stilecht den Weg, Trolle, Zwerge, Faune und Seejungfrauen schweben schwerelos um uns herum und lassen einer Klaustrophobie keine Chance.



Neben der Bar gibt es noch Nischen mit Holztischen und Bänken, die mit Fellen gut gepolstert sind und die Hinterteile wärmen sollen. Alles andere ist aus Eis, Böden, Wände und auch die Nische in der Bar mit dem Hochprozentigen. Nur das Bier ist irgendwo in der Küche frostsicher versteckt.
Ich vermute, hier gibt's einen Kühlschrank, der die Temperatur anhebt!



Vom Hauptgang zweigt ein Weg ab, der zu zwei Toiletten führt, getrennt nach Männlein und Weiblein natürlich. Die Klos arbeiten nach dem Toi-Toi-Dixie-Verfahren, weil eine Wasserspülung natürlich sofort einfrieren würde. Rechtwinklig abknickende Zugänge und nach Bedarf quer davor gehängte rot-weiße Ketten, die 'Besetzt!' signalisieren sollen, sorgen für Abgeschiedenheit. Theoretisch. Es gibt allerdings Zeitgenossen, die das Prinzip nicht auf Anhieb verstehen, wie ich selbst feststellen musste. Nicht so tragisch.



Das System der abknickenden Zugänge findet man auch bei den Schlaf-Iglus vor. Vom Hauptgang aus kann man nicht hineinschauen, und ein Vorhang suggeriert noch zusätzliche Intimität. Dieser Eindruck von Abgeschirmtheit wird noch durch ein Phänomen verstärkt, das wir uns so nicht vorgestellt haben. Sobald man um die Ecke biegt herrscht absolute Stille. Man hört keinen Laut mehr, nichts hallt, nichts lärmt, nichts raschelt, höchstens die eigenen Skiklamotten. Es ist kaum zu beschreiben; diese Stille hat mich außerordentlich beeindruckt.



Im 'Dorf' gibt es verschiedene Iglutypen. Standardiglus sind für mehrere Personen gedacht, die Romantikiglus für zwei, und die Romantik-Plus-Variante soll sogar eine eigene Toilette haben. Ich weiß nicht, ob eines der Plus-Iglus schon fertig war, bewusst gesehen haben wir auf der Zugspitze keines. Aber das Dorf wird ständig je nach Schneeangebot weitergebaut und ergänzt. Und die Baumethode lässt einen echten Inuit entweder grinsen, oder vor Neid erblassen. Zuerst wird ein Gummiballon auf Iglugröße aufgeblasen. Dann wird mit einer Motorfräse von außen soviel Schnee darüber geblasen, bis sich ein stabiles Gebilde geformt hat. Nach kurzem Durchfrieren Luft aus dem Ballon gelassen - und fertig ist der Rohbau. Dankenswerterweise werden auf der Zugspitze keine Schneekanonen eingesetzt; der natürliche Schnee muss reichen. An anderen Standorten mag das anders sein.

Nach dem Rohbau kommen die Künstler und verändern das Innere zu einem Traum. Jedes Romantik-Iglu wird nach einem bestimmten Motto gestaltet, beispielsweise 'Biene Maya', 'Schneewittchen' oder andere Märchen. Unser Iglu steht unter dem Thema 'Alice im Wunderland'. Und ein Wunderland ist es wirklich. Sind die riesigen Pilze an der Wand vielleicht Magic Mushrooms? Jedenfalls sind wir sofort verzaubert. In die Kunstwerke sind LEDs eingearbeitet, die, gekoppelt mit einem Bewegungsmelder, langsam verlöschen, wenn man sich zur Ruhe begibt. Zusätzlich gib es noch eine manuell zu bedienende Lampe am Bett.

Apropos Bett: Das ist natürlich auch aus Eis. Und deshalb sollte man auch nichts auf den 'Bettrand' stellen. Brillengestelle, Augentropfen, Gesichtcremes, Wasserflaschen, Socken und andere Klamotten gefrieren dort nämlich fest, und batteriebetriebene Geräte geben unweigerlich den Geist auf. Das alles gehört in den Fußraum der überlangen Expeditionsschlafsäcke. Aber man schläft nicht auf dem blanken Eis. Mehrere Isomatten und eine Schaffellauflage schirmen die Kälte gut ab. Es wäre ja ziemlich blöd, wenn unsere Guides uns morgens mit Eispickeln vom Lager klopfen müssten.



Aber weich ist definitiv etwas anderes. Nicht nur mir werden am nächsten Morgen die Hüftknochen schmerzen. Aber es gibt Schlimmeres.

An Standorten in der Schweiz kann man sogar sogenannte 'Hot-Iglus' buchen. Die haben kuschelige Betten und einen Holzofen. Aber hallo, geht's noch? Das ist doch was für Warmduscher und Weicheier! Ab mit euch nach Malle oder auf die Aida!
Natürlich taucht sofort die Frage auf, wie warm beziehungsweise kalt es im Igludorf ist. Aber das ist relativ. Die Temperatur liegt ein paar Grad unter Null, aber natürlich ist das Empfinden individuell und hängt auch davon ab, wie man angezogen ist, was man gerade macht und wie man 'drauf' ist. Die alte Motorradfahrerregel, nach der es kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung gibt, hat auch hier Gültigkeit. Mit Skiklamotten kein Problem, und die doppelte Unterwäsche samt Socken bleiben natürlich im Schlafsack an. Romantik? Eben.




Aber so ist es sehr gut auszuhalten. Die Minusgrade merkt man auch nicht so, wenn man sich bewegt, unterhält, isst und trinkt. Und unsere Guides sorgen schon dafür, dass wir das tun.

Nachdem alle das Gepäck in ihre Iglus gebracht haben, besuchen wir uns gegenseitig, um die unterschiedlichen Kunstthemen zu betrachten. Wirklich phantastisch, was die drei gelernten Holzbildhauer Herbig, Wolfgang und Björn geschaffen haben. Die Ausgestaltung eines Iglus dauert etwa vier Mann-Tage, und die drei machen das schon seit Jahren, wie sie mir später an der Bar erzählen. Da das Dorf ständig erweitert wird, sind sie ständig auf dem Zugspitzplatt. Sie wohnen allerdings nicht im Igludorf selbst, das wäre doch zu mühsam. Als Abwechslung bleibt ja auch nur die Iglu-Bar mit ihren ständig wechselnden Gästen.
Bille und ich haben meinen Gewinn auf ein Romantik-Iglu aufgestockt, weil mir die Vorstellung, einen Standard-Raum mit mehreren jungen, lauten, evt. angetrunkenen Snowboardern teilen zu müssen, doch nicht erstrebenswert erschien - es leben die Vorurteile. Besagte Typen waren nicht anwesend.
Aber neben den etwas weicher mit Fellen abgepolsterten Betten, den Märchenskulpturen an den Wänden und der Intimsphäre haben die Romantik-Iglus zusätzlich einen kleinen, in die Wand gemeißelten Natureiskühlschrank, in dem ein Fläschchen Sekt und ein paar Knabbereien auf uns warten. Außerdem gehört auch noch ein Brotzeitbrettl mit Käse, Speck und Brezen dazu, das wir uns gleich im 'Restaurant' zu einem 'natürlich' gut gekühlten Bier schmecken lassen.



Jenny und Andi, die auch irgendwo im Iglu-Dorf wohnen, trommeln uns dann zusammen, nach dem Motto: Wer rastet, der fröstelt.
Jeder der mag bekommt ein Plastikteil in die Handschuhe gedrückt, das wie eine Kreuzung aus Federballschläger und Kehrschaufel aussieht, sich aber als Schlitten entpuppt, den man unter den Hintern legt, Griff zwischen die Beine – und ab geht die Post! Die Schlittenpiste ist der Hügel zwischen Kirchlein und Sonn-Alpin, und wir wurden ermahnt, tunlichst so zu steuern, dass man weder in die Bierbänke des Alpin, noch in den aufgebockten BMW kracht, den Werbefuzzis wie auch immer hier hoch geschafft haben. Weit nach rechts abzudriften wäre auch nicht ratsam, denn dort wird's richtig, richtig steil, und das Zugspitzplatt ist richtig, richtig hoch.
Aber natürlich geht alles gut, und wir machen uns in Hochstimmung mit Andi auf zur angekündigten Nachtwanderung.



Atemberaubend ist immer so ein überstrapaziertes Wort, aber hier trifft es wirklich zu. Spektakulär versinkt die Sonne und wirft letzte Strahlen auf die Gipfel von Schneefernerkopf, Wetterwandeck und Osterfeldkopf, die wie Phantasieinseln im weiten Meer über den Wolken schwimmen. Und plötzlich ist es Nacht. Der Mond versammelt seine Sternenschäfchen um sich, und gemeinsam beleuchten sie ein Panorama, das überirdisch schön erscheint. Der Verstand sagt zwar, dass das verdammt lebensfeindlich ist und die Schönheit fragil und nur auf Zeit, aber in solchen Situationen zeichnet sich der Verstand dadurch aus, dass er einfach aussetzt. Nur schauen und genießen, nicht denken.

Und wir stapfen los, Andi voraus, vorbei am Sonn-Alpin, vorbei an den scheinbar schlafenden Pistenraupen, die wie Dinosaurier einer vergangenen Zeit hinterher träumen und sind überrascht, was für einen Höllenlärm in dieser Stille 38 Stiefel im inzwischen auf -21 Grad gefrorenen Schnee verursachen. Stirnlampen wären hilfreich stand im Prospekt, aber wir brauchen sie nicht. Der Himmel illuminiert uns den Weg, wie es schöner nicht geht. Und Andi zeigt uns die Scharten, durch die man sommers zu Fuß auf die Zugspitze kommt. Wege über die wir nie gegangen sind, weil Berge, auf die man mit irgendwelchen Bahnen in Stöckelschuhen hochfahren kann, für uns tabu waren. Bisher.
Und er erzählt uns die Geschichte des Schneefernerhauses, das 1931 als Hotel und Bergstation der Zahnradbahn gebaut wurde. Die Amerikaner beschlagnahmten es '45 und nutzten es bis 1952 als Recreation Facility. 1965 ging eine Lawine über das Hotel, wobei es 10 Tote gab. Seit 92 werden die Gebäude als Umweltforschungsstation UFS genutzt, und die Gleise der Bahn nur noch sporadisch befahren. Die UFS macht auch Tiefenbohrungen um zu beweisen, was doch offensichtlich ist: Das Klima erwärmt sich. Friedlich liegt er da im Mondlicht, der Gletscher, wunderschön im Schneekleid. Aber in 20 Jahren ist Schluss. Da hilft auch nicht, dass nach jedem Saisonende das Igludorf komplett als Abdeckung hinüber geschoben wird.
"Augenauswischerei", sagt jeder, der etwas davon versteht. 20 Jahre noch. Da klingt der Werbespruch des Restaurants 'Gletschergarten' wie blanker Hohn:

--"Bewusster Genuss mit Blick aufs ewige Eis."--

Jetzt, im Winter, sieht alles in Ordnung aus. Die Lifte laufen, das Geschäft brummt, bussiness as usual. Wir werden uns das im Sommer mal anschauen. Oder besser doch nicht?

In klirrender, flirrender Kälte unter dem Licht der Sterne beenden wir unsere Wanderung, stapfen hoch zum Iglu-Dorf und machen erst einmal unsere Jacken auf. Hier ist es plötzlich scheinbar richtig warm!



Wandern macht müde und vor allem hungrig. Die Flädlesuppe, die uns Jenny und Andi servieren, ist hochwillkommen. Die beiden haben zwar nur zwei kleine Gaskocher zur Verfügung, aber alles klappt und schmeckt. Und dann folgt der Hauptgang: Käsefondue.
Gleich vier Varianten stehen zur Verfügung. Klassisch mit Knoblauch und Kirschgeist, mediterran, das etwas schärfer schmeckt, bayerisch mir dunklem Bier und, ja, mexikanisch. Ob das Lamakäse ist? Quatsch, aber mexikanisch ist mein Favorit.



Das Zeug dampft auf den Gabeln wie Hölle, und man glaubt, sich sofort den Gaumen zu verbrennen. Aber das macht nur die Temperatur. Raus aus dem Topf, rein in den Mund – prima. Wohl dem, der keine Laktoseintoleranz hat. Wir Männer löschen das Ganze schließlich mit Williams ab, die Frauen weigern sich. Versteh' ich nicht. Höhenkoller?

Und dann, als wir so am Verdauen sind, kündigt Andi noch ein exklusives 'Bonusprogramm' für uns an. Da er hauptberuflich bei der Bayerischen Zugspitzbahn beschäftigt ist, zu der auch die Gletscherbahn gehört und das Wetter so ideal ist, lädt er uns ein, auf den Gipfel zu fahren. Top of Germany. Nachts, bei Mondschein, ohne andere Touristen.
Das lässt sich natürlich keiner entgehen, und so wandern wir noch einmal durch die gefrorene Landschaft zur Seilbahn und fahren hinauf zum Gipfel. Ein Traum! Wir stehen und schauen, lassen uns auf der Seite zu Österreich hin die Haare vom Eiswind zerzausen und saugen die eisige Sternennacht über den Alpen in uns auf. Einmalig!

Und wieder zurück im Dorf wartet auf die, die es mögen, ein weiteres Highlight. Außerhalb der Iglus stehen zwei auf 45 Grad geheizte Whirlpools unter freiem Himmel. Zwei beheizte Umkleidekabinen ermöglichen einen kommoden Einstieg in die Kochtöpfe. Bei diesem Wetter, dieser Sicht im heißen Wasser zu hocken und Sterne zu gucken ist wohl ein ganz besonderes Erlebnis, und gehörig aufgeheizt in den Schlafsack zu schlüpfen garantiert sicher einen wohligen Schlaf. Die Frage, wie man Hot-Pots mit schmelzenden Gletschern vereinbaren kann, relativiert Andi mit dem Argument, dass unsere Zimmer im Gegensatz zu anderen Hotels nicht beheizt werden und die Energiebilanz pro Gast und Übernachtung somit weit besser wäre. So gesehen ...
Energiebilanz hin oder her – Bille und ich verzichten aus einem anderen Grund auf das Vergnügen. Wir sind schon in vielen Gegenden unterwegs gewesen, wo tägliches Duschen nicht möglich war. Es macht uns nichts aus, wenn es sein muss, im eigenen Saft zu schmoren. In unserem eigenen wohlgemerkt, Chlor hin oder her!



Also sind wir wieder mal die letzten an der Iglu-Bar, wärmen unser Bier auf dem Glühweintopf auf Trinktemperatur, ratschen mit den Zugspitzbahnleuten, den Künstlern und unseren Guides, bis wir endlich in unsere Eishöhle finden. Eiertanz unter Magic Mushrooms beim Ausziehen von Stiefeln und Skihosen, Einfädeln in Innen- und Hauptschlafsack, Jacke unter den Kopf und dann Friede, Ruhe, Stille.


Die Eisbildhauer Herbig, Wolfgang und Björn


Auch wenn Bille behauptet, ich hätte geschnarcht.
Männer schnarchen nicht, sie vertreiben nur wilde Tiere. Auch auf der Zugspitze.

Die gefährlichsten Tiere auf der Zugspitze

Wie die Nacht war? Ganz okay. Etwas hart und nicht gerade kalt, wenn man die Halsöffnung gut dicht hält.
Auf jede Nacht folgt ein Morgen. Wir werden von Andi geweckt, der uns zwei Becher dampfenden Kräutertee ans Bett (Eisblock) serviert, der wirklich lecker (=saugut) schmeckt und die Lebensgeister in Schwung bringt.
Trinken, rauskriechen, in Skihose und Stiefel schlüpfen, dann alles andere in die Rucksäcke stopfen, Schlafsäcke zusammenrollen, ein letzter Blick über die 'Alice im Wunderland Szenerie' und Sammeln in der Bar.



Gemeinsam wandern wir dann im Schein der aufgehenden Sonne zum Sonn-Alpin, wo es bessere Gelegenheit zum Zähneputzen als im Dorf gibt und wo ein herzhaftes Frühstücksbüfett auf uns wartet.
Wir lassen uns Zeit, verabschieden uns nach und nach von unseren 'Mitabenteurern', bedanken uns bei Jenny und Andi, und dann geht jeder seiner Wege, wir noch mal rauf zum Gipfel, andere zu den Skiliften.
Aber alle haben wir ein zufriedenes Grinsen im Gesicht, das sich wohltuend von den ersten gestressten Wochenendlern unterscheidet, die aus der Bergbahn drängen.

Danke, BookRix und Sperling-Verlag!

 
*****


Noch zwei Links:


www.iglu-dorf.com
www.zugspitze.de

Und noch ein Hinweis:

Die Siegergeschichte "Flocky" ist zusammen mit vielen anderen, wunderbaren Stories zu finden in der Anthologie

"WINTERMÄRCHEN"
Sperling-Verlag
ISBN 978-3-942104-10-4

oder einfach hier bei BookRix:

http://www.bookrix.de/_ebook-bert-rieser-flocky/

Nun mache ich das erste Mal Werbung für eine meiner Geschichten :)


Jetzt noch ein paar Fotos:















Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

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