''Die Zauberer sollst du nicht am Leben lassen''
2. Mose 22.17
-I-
Hauptkommissar Rudolf Reichert blickte auf das Display seines Handys und drückte die Annahmetaste.
"Reichert."
"Institut für Rechtsmedizin, Sekretariat, Müller, grüß Gott, Herr Hauptkommissar. Ich soll Ihnen von Frau Doktor Bellini ausrichten, dass sie Sie dringend sprechen muss. Es gehe um den Fall der Selbstmörderinnen, Sie wüssten schon."
"Okay, dann geben Sie sie mir."
"Das geht leider nicht, Sie möchten bittschön zu ihr kommen."
"In die Nussbaumstrasse?"
Nein. Ins Augustiner. Jetzt sofort, bitte!"
Etwas konsterniert meldete sich Reichert beim KDD ab und verließ das Polizeipräsidium über den Eingang Ettstraße. Bis zur Traditionsgaststätte Augustiner in der Neuhauser Straße waren es nur ein paar Schritte. Im hintersten Bereich der alten Gewölbe suchte er sich eine ruhige Ecke, bestellte ein Weißbier und dachte über die Selbstmordserie nach.
Nach dem dritten Leichenfund waren die Parallelen unübersehbar geworden, und das Kriminalfachdezernat 1 hatte unter der Leitung von Hauptkommissar Reichert eine Sonderkommission gegründet. Erst mit minimalem Einsatz, denn ein Fremdverschulden konnte nicht nachgewiesen werden. Doch die Zahl der Selbstmorde war innerhalb eines Monats sprunghaft auf sieben angestiegen, und trotz des vom Präsidenten verordneten Maulkorbs schrieben die Gazetten bereits in grellen Lettern über Kultmorde, Geheimbünde, Verschwörungen und eine tatenlose Polizei. Es war ärgerlich.
Die Gemeinsamkeiten waren offensichtlich: Alle Opfer waren Frauen. Alle waren durch einen Messerstich zwischen die Rippen direkt ins Herz ums Leben gekommen. Alle waren alleinstehend und hatten keinen ermittelbaren Freundeskreis. Nichts deutete auf Fremdeinwirkung hin, nichts auf ein Raub-, Eifersuchts- oder Sexualdelikt. Ein Zusammenhang zwischen den Frauen, deren Alter zwischen 22 und 55 schwankte, konnte auch durch intensivste Recherchen nicht hergestellt werden. Die leitende Rechtsmedizinerin Dr. Miranda Bellini hatte Mord schon bei den ersten zwei Fällen ausgeschlossen.
Die Tatwaffen steckten noch in den Leichen und stammten eindeutig aus deren Haushalten. Die Hand einer Toten umkrampfte noch den Messergriff, im anderen Fall hatte die Selbstmörderin beim Eintritt des Todes losgelassen, aber die einzigen Spuren auf der Waffe stammten von ihr. Bei der dritten Leiche war sie etwas verwirrt über den Eindringwinkel der Waffe, bis feststand, dass die Frau Linkshänderin gewesen war. Und so blieb es auch bei den kurz nacheinander aufgefundenen weiteren vier Frauen. Kein Anhalt auf Fremdverschulden.
Die SoKo war erheblich aufgestockt worden und ermittelte nach allen Richtungen. Vor allem die Psychologen entwickelten die abstrusesten Selbstmordhypothesen, die aber auch zu keinen Ergebnissen führten. Natürlich hatten alle Fachleute sofort an eine Selbstmördersekte gedacht, die immer wieder Schlagzeilen machten. Etwa die "Kirche" des Jim Jones, dessen Wahnsinn im Dschungel Guyanas fast 1000 Anhängern das Leben kostete, oder des Russen Pjotr Kusnetsow, des Uganders Joseph Kibwetteere, oder etwa auch die Sekte der Allamianer, die sich unter ihrem Führer Otto Estado auch in Deutschland ausbreitete und durch rituelle Selbstmorde auffällig geworden war. Doch hier passte nichts zusammen. Die Frauen hatten keinen nachweisbaren Kontakt untereinander und gehörten teils den etablierten Kirchen an oder waren konfessionslos. Auch waren keine Unterlagen gefunden worden, die auf irgendeine Sekte, eine Organisation, einen Geheimbund schließen ließen. Die einzige 'kriminelle Vereinigung', der einige Frauen angehörten, sei der ADAC, bemerkte ein Mitarbeiter scherzhaft.
Die Presse machte mobil, ohne sich um Tatsachen zu scheren. Sie hatte auch keine Ahnung, dass es sich um Selbsttötungen handelte. "WIEDER MORD!", plärrten die Schlagzeilen. "HANNIBAL LECTER IN MÜNCHEN", "IRRER MASSENMÖRDER NOCH IMMER FREI!!!", "JACK THE RIPPER SCHLÄGT WIEDER ZU!", "WARUM TUT DIE POLIZEI NICHTS?"
Der Druck auf die Ermittler war so groß geworden, dass der PP, wie der Polizeipräsident kurz genannt wurde, noch ein unabhängiges Pathologenteam einer anderen Universität einschaltete. Doch auch das kam zu keinem anderen Ergebnis. Doktor Miranda Bellini war erst sauer, dann erleichtert gewesen. Doch es bestand Gefahr, dass trotz der auf München beschränkten Fälle das BKA die Ermittlungen übernehmen würde. Eile war geboten, Ergebnisse mussten her.
-II-
Reichert widmete sich gerade seinem zweitem Weißbier, als sich Miranda an seinen Tisch setzte, einen Kaffee bestellte, und bevor der Hauptkommissar etwas sagen konnte, legte sie schon los:
"Reichert, pass auf, mir sind noch mehr Gemeinsamkeiten aufgefallen. Die Frauen waren Singles unterschiedlichsten Alters, verschiedene Berufe, verschiedene Schulabschlüsse. Aber alle hatten eine mehr oder weniger große Bibliothek…"
"…in denen viele Bücher über Esoterik, Magie, Zauberei standen. Ja, Doc, das weiß ich, aber das hat uns keinen Zentimeter weiter gebracht."
"Und jede von ihnen hatte einen Computer, der eingeschaltet war, als sie gefunden wurden."
"Genau", sagte Reichert, "aber der Bildschirm war leer, der Verlauf gelöscht, nur Geflimmer zu sehen. Worauf willst du hinaus?"
"Ich… ich habe die Horoskope der Leichen erstellt. Zum Zeitpunkt ihres Ablebens standen ihre Gestirne im achten Haus, das bedeutet Tod! Und es waren alles Skorpione. Der Herr dieses Zeichens ist der Mars. Und Merkur…"
Reichert knallte das Weißbier, aus dem er gerade einen Schluck nehmen wollte auf die uralte Eichenplatte des Wirtshaustisches. "Miranda, Doc, bitte… spinnst du? Du, die Ratio in Person, glaubst an so was Schwachsinniges wie Horoskope? Ich fass' es nicht!"
"Reichert, meine Wurzeln liegen in den Abruzzen, in Arsita, wie du weißt. Und meine Großmutter war eine Indovina, eine Wahrsagerin."
"Miranda…!"
"Ja, bevor sie starb, war ich oft in den Ferien bei ihr da unten. Aber die alten, bigotten Weiber, die abergläubischen Tattergreise, die nach der Messe am Sonntag zu meiner Nonna kamen, um ihre Zukunft zu erfahren, gingen mir gewaltig auf den Geist. Ich hätte nur in Richtung Friedhof gezeigt! Seitdem weiß ich, warum meine Mutter damals mit mir im Bauch das Weite gesucht hat und nach München gegangen ist."
Reichert spürte, dass er die Klappe halten sollte und wartete ab. Nach längerem Zögern fuhr die Pathologin fort: "Trotzdem, meine Nonna war eine herzensgute Frau. Jedenfalls habe ich unwillkürlich genug mitbekommen, um das astrologische Berechnungssystem zumindest rudimentär zu verstehen, und ich habe es einfach mal auf die Todesdaten unserer Leichen angewendet, ohne einen Teufel daran zu glauben. Ist doch besser, als nichts zu tun, oder?"
"Bist du später noch nach Arsita gefahren?"
"Nee. Nach Omas Tod nur noch einmal. Im Dorf blieb ich immer die Tedesca, die Deutsche, die Fremde. Geh' mir weiter mit den Dörflern! Aber wir schweifen ab. Noch mal im Ernst: Die Todeszeitpunkte folgen exakt einer astrologisch berechneten Reihe, und…" Sie schwieg plötzlich.
"Und?", drängte Reichert.
"Und wenn ich richtig liege, ist gestern wieder eine Frau gestorben." Reichert starrte sie kopfschüttelnd an und konnte diesen Unsinn kaum fassen.
Die Pathologin fixierte ein vom Rauch der Jahre geschwärztes Alpenjodlerbild auf der gegenüberliegenden Wand und schwieg. Sie wollte sich gerade wieder Reichert zuwenden, als dessen Telefon schepperte. Er meldete sich, lauschte, schluckte, schaltete ab und blickte Miranda an. Trotz des Dämmerlichtes in dem alten Gewölbe konnte die Pathologin sehen, dass er blass geworden war.
"Doc, äh, ich…", stammelte Reichert.
"Ich weiß", antwortete Miranda nur. "Wo?"
-III-
Sabine Ludenhoff lag vollständig bekleidet in der leeren Badewanne, und ihre Hand umklammerte ein Messer, das in ihrem Herz steckte. Die kleine Menge Blut, die sich auf ihrer Brust ausgebreitet hatte war schon gestockt und deutete darauf hin, dass sie nicht lange gelitten hatte. Sie musste das Herz präzise getroffen haben. Reichert schluckte, während Doktor Bellini die Leiche professionell untersuchte.
"Gleiches Muster, Reichert", sagte sie. Der Hauptkommissar nickte und drehte sich um, als er plötzlich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Ein Beamter der KTU wollte im Wohnraum des Apartments gerade den laufenden PC abschalten und abbauen.
"Halt!", schrie Reichert, hechtete aus dem Bad und packte den Techniker so heftig am Arm, dass der weiße Schutzanzug einriss. "Lassen Sie das laufen!"
"Da ist keine Verbindung", sagte der Spurensicherer, "das habe ich überprüft. Nur Rauschen."
"Egal. Lassen Sie das, wie es ist."
"Okay, Sie sind der Boss", sagte der Techniker und zog genervt ab.
Miranda sah Reichert fragend an.
"Ja, ich weiß", sagte er. "Es wurde schon alles geprüft. Aber wenn du mit Astrologie kommst, komme ich mit einem Hacker. Ich habe da so einen jungen Ex-Knacki, der mir was schuldet. Wenn wir nicht weiterkommen, egal wie, kann ich bald in Aschaffenburg Streife laufen."
Miranda Bellini verkniff sich jeglichen Kommentar.
-IV-
Friedrich Seittler war ein Nerd. Ein Elektronikjunkie. Aber anders als andere Hacker saß er nicht nächtelang am Rechner und klopfte stumpfsinnig Passwortvariationen in der Hoffnung ein, zufällig die richtige zu finden. Er benutzte eine intelligente, mächtige, selbst entwickelte Software, kombiniert mit einer Hardware, die sich die Impedanzen, Scheinwiderstände und Ersatzschaltbilder zwischen seinem Rechner und dem Objekt seiner Begierde zunutze machte. Er war erfolgreich gewesen, bis er den falschen Rechner hackte.
Reichert hatte ihm geholfen, weil er der Sohn eines alten Freundes war und er keinen Schaden angerichtet hatte. Aber sechs Monate Jugendknast waren es doch geworden, hatten aber zur Läuterung des Jungen geführt. Jetzt, mit seinem ganzen angeschlossenen Equipment vor dem laufenden Rechner der Toten sah Reichert ihm seine Angst an.
"Fritz, ich trage die volle Verantwortung. Vertrau mir!"
"Okay, Herr Reichert, gehen wir's an." Er verschränkte die Finger, streckte die Arme aus und drückte die Ellbogen durch. Die dabei entstehenden Knackgeräusche ließen Reichert erschaudern wie vor langer Zeit die quietschende Tafelkreide seines Mathelehrers.
"Wissen Sie", dozierte Friedrich Seittler, während seine Finger wie Flöhe über die Tasten hüpften, "das, was da so rauscht, so schneit, das bedeutet nicht, dass da kein Signal da ist. Digitale Schirme rauschen nicht. Ihre Techniker haben wahrscheinlich noch mit Röhrenfernsehern den Tatort geguckt. Daher das Missverständnis. Rauschen auf dem Schirm: Sendeschluss. So war das mal."
"Das sollte man wieder einführen, bei dem Programm heutzutage", knurrte Reichert.
"Jetzt bedeutet das Rauschen, dass da eine Verbindung besteht, und dass sich dahinter etwas verbirgt."
"Kann man den Sender orten?"
"Das versuche ich ja. Aber die Verbindung läuft über Gateways, über Proxyserver und Knotenrechner, wobei die Verknüpfungen pyramidal verzweigt sind zu Myriaden von Connections. Da hilft nur mein ALBERT.
Alles Lernen Bis Es Richtig Tickt." Er grinste und tätschelte liebevoll einen offensichtlich selbst zusammengelöteten Kasten.
Reichert stopfte sich den kalten Rest der Pizza, die er vor Stunden geholt hatte, in den Mund und fragte dumpf:
"Hafft du fon raufgekriegt, waf hinter dem Raufen fteckt?"
"Was?"
Reichert schluckte. "Hinter dem Rauschen. Was steckt hinter dem Rauschen?"
"Ja, Herr Reichert. Ich bin fertig. Ein seltsamer Text, der so schnell wiederholt wird, dass das Auge es nicht auflösen kann. Aber das Gehirn kann ihn unbewusst verarbeiten. Hier, ich habe es ausgedruckt. Und dieser etwas kryptische Code da unten – wenn Sie den eingeben, landen Sie trotz aller Verschleierung direkt auf dem Rechner des Absenders, klar? Äh, noch was. Sie sollten sich genau überlegen, was Sie damit anfangen, denn ich kann's nicht anders machen; das Ding ist derart abgesichert, dass nur exakt ein einziger Zugriff möglich ist. Dann ist die Verbindung weg, sorry. Aber jetzt bin auch ich weg. Sie haben versprochen, dass ich da raus bin, okay?"
"Klar, Junge. Versprochen." Er klopfte Friedrich zum Abschied auf die Schulter und betrachtete den Ausdruck.
Was war das?
IA IA IA!
ABDU EN I BA NINIB
NINIB BA FIRIK
PIRIK BA AGGA BA ES
AGGA BA ES BA AKKA BAR…
So ging es die ganze Seite weiter. Plötzlich kam Reichert ein ungeheuerlicher Verdacht. Er hatte so etwas schon einmal gesehen. Erst zögerte er, dann löschte er die Verbindung, aktivierte den Scanner und schickte an Miranda Bellini ein Fax mit dem seltsamen "Gebet", wie er es selbst nannte. Dann rief er eine Telefonnummer an, versiegelte die Wohnung und raste in die Dachauer Straße.
-V-
Der Nachtpförtner machte ein verdutztes Gesicht, als Reichert mit gezücktem Dienstausweis in die Halle stürzte und sofort zum Aufzug eilte. Im 5. Stock war der Fachbereich für Sekten und Weltanschauungsfragen des Erzbischöflichen Ordinariats untergebracht. Er wollte zu Pater Aschenköhler, den er von einem früheren Fall her kannte. Er war ein ausgewiesener Spezialist für Sekten, Magie, Esoterik, Zauberei und – so vermutete Reichert zumindest – ein offizieller Exorzist des Vatikans. Und er war Reichert verpflichtet, weshalb er ihn auch zu dieser unchristlichen Zeit empfangen wollte. Außerdem war er Reicherts Freund geworden.
Das Zimmer des Paters war einerseits mönchisch, andererseits chaotisch-gemütlich. Zahllose Bücher, überladener Schreibtisch mit PC, Klappbett und eine Biertischgarnitur wie aus dem Hirschgarten. Pater Aschenköhler schob einen Haufen Papiere zur Seite und bot Reichert einen Platz an. Der kam sofort zur Sache, legte den Ausdruck des Computers der Toten auf den Tisch und bat den Pater, sich das anzusehen und ihn sofort anzurufen, wenn er etwas herausgefunden hätte.
Hundemüde fuhr er nach Hause und knallte sich einfach aufs Sofa.
Das Mobiltelefon weckte Reichert.
"Tut mir leid, mein Freund, aber ich sollte Sie sofort anrufen."
"Ja, danke Pater." Der Kommissar schaute auf den Wecker und blinzelte. "Was haben Sie herausgefunden?"
"Nun", Aschenköhler zögerte deutlich, "wie soll ich sagen, es ist ein… böser Fluch. Er stammt aus dem verbotenen, uralten NECRONOMICON, dem Zauberbuch, das der Araber Abdul Alhazred aufgezeichnet hat, und das schon durch so viele böse Hände gegangen ist, von John Dee, über Cagliostro, Aleister Crowley mit seinem verruchten Golden Dawn Orden, bis zu SS Führer Heinrich Himmler und…"
"Moment, Moment, Pater", unterbrach ihn Reichert, der plötzlich hell wach war. "Das NECRONOMICON ist doch nur eine Erfindung des Schriftstellers H.P. Lovecraft, das ist doch reine Fantasie!"
"Ja, so wird es immer erzählt. Die Mutter Kirche hat auch seit Jahrhunderten versucht, dieses zutiefst böse Buch zu vernichten. Sie hat den Verfasser für wahnsinnig erklärt, hat den Besitz mit höchsten Strafen belegt – vergeblich. Es hat immer Menschen gegeben, die sich etwas davon versprachen, Satan zu dienen. Und es gibt sie immer noch. Sie wissen ja, Herr Hauptkommissar, alles, was verboten ist, lockt umso mehr. Dann, zu Beginn der Neuzeit, haben unsere Ordenbrüder gefälschte Exemplare in Umlauf gebracht und später dieses Märchen von H.P. Lovecraft erfunden. Und seit die Beschwörungen deshalb nicht mehr funktionieren, ist das Interesse auch gewaltig zurückgegangen. Aber es gibt immer wieder Menschen, die an ein Originalexemplar rankommen, zutiefst verdorbene Menschen, die damit ihre Macht über Leben und Tod genießen und nicht wahrhaben wollen, dass sie als Satans Helfer letztendlich den höchsten Preis zahlen müssen. Jetzt werden von diesen Satanisten die Rituale sogar im Internet verbreitet. Und über das Netz suchen und finden sie auch ihre Opfer. Wir arbeiten fieberhaft daran, das zu unterbinden, glauben Sie mir. Der Text, den Sie mir gegeben haben, ist ein Opferritual für Shaab ng Gha, den Wächter des 7. Tores. Er fordert Frauenopfer, immer und immer wieder. Wenn eine Frau dieses Ritual liest, wird sie vom unwiderstehlichen Zwang erfasst, sich selbst zu opfern. Und haben Sie nicht von 8 Frauenselbstmorden gesprochen?"
"Aber lieber Pater", antwortete Reichert, der ohne zu unterbrechen zugehört hatte, "das glauben Sie doch nicht wirklich, oder? Ich kenne Sie als nüchternen Analytiker, der sich gegen derartigen Unsinn immer verwahrt!"
"Herr Reichert, mir ist es Ernst. Jetzt ist keine Zeit, Ihnen das näher zu erklären! Sorgen Sie um Himmels willen dafür, dass keine Frau diese Beschwörung zu Gesicht bekommt! Keine, haben Sie verstanden? Und ich weiß, was ich zu tun habe."
"Ja, Pater, ich danke Ihnen." Reichert schaltete ab und trat kopfschüttelnd zum Fenster. Diese Pfaffen, dachte er, die glauben doch wirklich noch an so einen mittelalterlichen Schwachsinn. Anscheinend sind die Scheiterhäufen in ihren Köpfen noch immer am Brennen. Sogar Pater Aschenköhler. Wie man sich täuschen kann!
Draußen erwachte die Stadt langsam zum Leben, und Reicherts Müdigkeit war verflogen. Etwas ließ ihm keine Ruhe. Sorgen Sie dafür, dass keine Frau diese Beschwörung zu Gesicht bekommt, hatte der Pater gesagt.
Hm. Er hatte doch Miranda Bellini eine Kopie geschickt. Ach, so ein Unsinn! Doch seine Unruhe wurde immer größer, bis er ihre Nummer wählte. Nichts. Er ließ es läuten, bis die übliche Ansage kam, der Teilnehmer würde sich nicht melden.
"Das merk ich selber!", schimpfte Reichert, griff nach dem Wagenschlüssel und rannte aus dem Haus.
-VI-
Pater Aschenköhler hatte eine schreckliche Stunde hinter sich, ein Ringen mit den Geboten der Kirche, mit seinem Gewissen und mit seiner Verantwortung der Welt gegenüber. Du sollst nicht töten!
So befahl es das 5. Gebot. Aber Exodus 22.17 forderte: Zauberer sollst du nicht am Leben lassen!
Er war verzweifelt und hatte seinen Gott angefleht. Doch der ließ den Kelch nicht vorüber gehen.
Jetzt aber war der Priester gefasst. Er verrichtete ein letztes Gebet, dann schlug er das Rituale Romanum auf - das Ritusverzeichnis des Exorzismus von 1614 - und begann, einen gewissen Text in seinen Computer zu tippen.
Schleudernd und mit kreischenden Bremsen kam Reichert vor dem Haus der Pathologin zum Stehen. Er drückte alle Glocken und rannte wie wahnsinnig die Treppen hoch, als der Türöffner summte. Vor Miranda Bellinis Wohnung läutete er Sturm und hämmerte wild an die Tür. Als er nichts hörte, nahm er Anlauf und warf sich entschlossen dagegen. Mit einem gewaltigen Krach splitterte das Schloß aus dem Rahmen und Reichert brüllte auf vor Schmerzen. Er hielt sich die Schulter, während er in die Wohnung taumelte und nach Miranda rief. Sie stand in der Küche. Ihre Augen waren so nach innen gedreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war, und gespenstische Laute drangen aus ihrer Kehle. In der Hand hielt sie ein langes Küchenmesser und setzte es gerade an ihre linke Brust. Reichert stürzte sich auf sie und riss ihre Hand nach oben weg. Durch den Schwung gingen beide zu Boden. Miranda wehrte sich rasend und Reichert knallte mit dem Kopf gegen den Kühlschrank. Seine Kraft erlahmte und das Messer fuhr auf ihn herab.
Pater Aschenköhler hielt kurz inne und zögerte. "Gott, steh mir bei!", rief er voller Verzweiflung, dann drückte er auf die Sendetaste. Und sein Text machte sich, gesteuert durch Friedrich Seittlers Code, auf den Weg durch das Netz zu einem Rechner irgendwo da draußen. Dann löschte er alle Daten, verbrannte Reicherts Zettel und begann, seinen Koffer zu packen.
In einem letzten Aufbäumen wollte Reichert noch den Kopf wegdrehen, als Miranda plötzlich innehielt und erschlaffte. Ihre Augen wurden klarer, sie ließ das Messer fallen und blickte Reichert entsetzt an.
"Was machst du denn hier?"
-VII-
Am Morgen des darauffolgenden Tages fand die Putzfrau Emma Sturm in einem Haus in Grünwald ihren Arbeitgeber tot auf. Er saß in der Bibliothek am Schreibtisch, der PC lief, zeigte aber nur ein weißes Rauschen. Herzinfarkt würde der Arzt später feststellen. Sein Name war Prof. T. Lachév.
Niemand fiel auf, dass der Name ein Anagramm von H.P. Lovecraft war. Warum auch?
Als Kommissar Reichert Pater Aschenköhler aufsuchen wollte, wurde ihm vom Erzbischöflichen Ordinariat nur mitgeteilt, dass er sich für unbestimmte Zeit in Rom zu Exerzitien aufhalten würde.
Seit diesem Tag traten keine vergleichbaren Selbstmorde mehr auf. Die Ermittlungen wurden von BKA übernommen – ohne jeden Erfolg. Nach einem Jahr wurden die Akten geschlossen.
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Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: BRieser10113
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2013
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