Das Konfuzius-Prinzip
Bill Woizman war ein ganz normales Kind, als er Kind war. Er fiel nicht besonders auf, weder positiv, noch negativ. Der Vater war Angestellter einer New Yorker Privatbank, die Mutter sorgte für Bill und seine kleine Schwester wie man es von einer Mutter erwartete; sie engagierte sich in der Gemeinde, spielte regelmäßig mit ihren Freundinnen Quiddler, genehmigte sich dabei zwei Gläschen Cuarenta y Tres und hielt das Vorstadthäuschen sauber und gemütlich. Eine ganz normale Middle-Class-Family , die mit Truthahn Thanksgiving feierte, am 4. Juli Fähnchen schwenkte, auf der Fifth Avenue die Steubenparade beklatschte und die Demokraten wählte.
Bill besuchte alle Schulen mit Erfolg und erhielt schließlich sogar ein Stipendium für die NYU Stern School of Business, wobei sein Dad natürlich ein wenig Beihilfe geleistet hatte. Man investiert ja schließlich nicht umsonst in gewisse Netzwerke. Erst in dieser Kaderschmiede wurde Bill bewusst, dass er für Zahlen und statistische Zusammenhänge ausgesprochenes Talent hatte. Diese Erkenntnis steigerte seine Leistungen gewaltig, so dass er als einer der Besten das Studium abschloss.
Die JPMorgan Chase ermöglichte ihm daraufhin ein Volontariat, aber Bill rechnete nicht damit, fest angestellt zu werden, geschweige denn, schnell Karriere zu machen. Doch Suzi Treaspanzo, seine Abteilungsleiterin, hatte einen Narren an dem jungen Mann gefressen. Sie protegierte ihn und schubste ihn die Leiter hoch.
Nach kurzer Zeit wechselte er in die Investmentabteilung, hatte mit einigen gewagten Trades Glück und erwarb sich schnell, sehr zum Stolz seines Vaters, einen Ruf als begabter Broker. Dies ebnete ihm den Weg in die heiligen Hallen der US-Notenbank Federal Reserve. Ein unglaublicher Erfolg für einen jungen, hungrigen, kaum 24-jährigen Banker.
In diesem Institut, das die meisten Menschen immer noch für eine staatliche Institution halten, die der Stabilität des Dollars dienen soll, lernte er schnell, dass Geld Macht bedeutete, dass Skrupel ein Fremdwort ist und dass einzig der Erfolg in Form einer Ziffer, gefolgt von möglichst vielen Nullen vor dem Komma zählt.
Trotz Warnungen wechselte er kurze Zeit später in die Vorstandsetage eines aggressiven Hedge-Fonds und erarbeitete sich bald ein kumpelhaftes Schulterklopfen des Managing Directors , was einer Ehrenmedaille gleich kam. Er schuftete und werkelte, er dealte und zockte auf Teufel komm raus und hatte ziemlichen Erfolg. Nicht spektakulär, aber beachtlich.
Mit 28 war er ausgebrannt.
Aber er bemerkte die Symptome rechtzeitig, sprach mit seinem Chef und erhielt dessen Okay für ein Sabbatical.
Als Bill Woizman nach einigen Wochen von irgendwo zurückkam, von dem auch seine Eltern nur wussten, dass es irgendwo in Asien gewesen war, änderte sich alles.
Er kündigte und machte seine gesamten Ersparnisse flüssig. Durch die Bonuszahlungen und aufgrund der Tatsache, dass er noch bei den Eltern wohnte, keine Freunde, geschweige denn Freundin hatte und auch keine sonstigen Interessen, waren sie zu einer erklecklichen Summe angewachsen. Damit gründete er einen eigenen Investmentfonds und zog in ein repräsentatives Dachterrassenbüro auf einem Wolkenkratzer, direkt unter dem Himmel Manhattans. Lun-yu DynamicInvest.
Und plötzlich, völlig unerwartet, tauchten aus der formlos wogenden Masse der Investmentbranche Lun-yu DynamicInvest und sein Manager Bill Woizman auf wie der Stern von Bethlehem.
Woizman legte das Kapital seiner Kunden scheinbar gegen jegliche Regel, gegen jegliche Norm, gegen jegliche Erfahrung und gegen alles Fachwissen an - und hatte Erfolg. Gewaltigen Erfolg. Die Dollarzeichen in den Augen hatten alle Skepsis zum Verstummen gebracht.
Bill Woizmans Strategien liefen völlig unkonventionell ab, nicht nachvollziehbar, anscheinend chaotisch. Er machte sich lustig über alle Leitsätze der Börsengurus und schlug jede Kritik mit dem Hinweis auf seine gigantischen Erfolge in den Wind.
Die Finanzblätter begannen verstärkt, über ihn zu berichten, Börsenauguren versuchten erfolglos seine Strategiemethode zu entschlüsseln, die Boulevardpresse wurde auf ihn aufmerksam, und schließlich landeten Lun-yu DynamicInvest und sein Manager zeitgleich auf den Titelblättern aller führenden Börsen- und Finanzblätter.
Bill Woizman hatte alles geschafft, was man in der Welt des Big Business schaffen konnte. Er selbst mochte es kaum fassen und platzte fast vor Stolz. Er hatte die Liga der Kostolanys, Fabers, Buffets, Boone Pickens und Icahns erreicht, vielleicht sogar übertroffen.
Mit 32 Jahren.
Benebelt von Glück und Whisky feierte er am folgenden Tag mit seinem Brokerteam den Erfolg und tänzelte dann geradezu auf den Wolken der Euphorie in die Pressekonferenz.
Was das Geheimnis seines Erfolgs sei, wurde er gefragt, was sein Zauber, seine Masche, seine Philosophie.
Noch immer trunken vor Glück trat Bill Woizman an das Mikrofon, lachte und sagte:
"Ich will's euch sagen, Leute, es ist ganz einfach: Ich handle nach dem Konfuzius-Prinzip. Ich sehe erstaunte Gesichter! Konfuzius? Ist das für euch ein Begriff? Die fünf Klassiker? Vielleicht erinnert ihr euch wenigstens an ... Egal.
Konfuzius sagt:
Zwecklos ist es, über Dinge die geschehen sind, zu reden.
Zwecklos ist es, bei Dingen, die im Laufen sind, zu mahnen.
Zwecklos ist es, zu tadeln, was vergangen ist.
Diese Sätze wende ich konsequent auf mein Investment an. Ganz einfach. Vergiss, warum eine Aktie, eine Firma so oder so steht. Meckere nicht rum, nicht lange, nicht kurz, meckere gar nicht. Es ist zwecklos. Und es ist scheißegal, wo ein Kurs gerade steht. Mach's anders. Nicht antizyklisch und nicht wie die Herde - nein, verwirf alle Regeln, schmeiß sie auf den Mist!"
Woizman war während seiner Rede immer lauter geworden. Jetzt schrie er fast:
"Mach ohne nachzudenken, was dir gerade in den Sinn kommt. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das kippt die Analysten aus ihren Oxfordschuhen; sie werden unglaubwürdig, und die Herde schmeißt dir das Geld hinterher. Dir allein. Das ist das ganze Geheimnis, das ist das Konfuzius-Prinzip, Leute!"
Bill merkte kaum, wie er von seinen eigenen Leuten aus dem Saal geführt wurde. Er grinste und winkte den versammelten Presse- und Fernsehleuten zu, die ihm vor Erstaunen oder auch Unverständnis nur stumm nachglotzten.
Zwei Tage später ging die Welt unter. So lange hatte die Finanzpresse gebraucht, das Konfuzius-Prinzip global zu verbreiten. Und wider jeden Verstand ergriff wieder einmal die Gier die Macht. Die Börsen erzitterten, oben wurde unten, hinten vorn. Jeder billige Hinterhoftrader interpretierte das Konfuzius-Prinzip wie er wollte und handelte ohne Sinn und Verstand. Krise war kein geeignetes Wort mehr für das, was geschah. Gegen diese unglaubliche Gier breitete sich eine Grippeepidemie aus wie eine Schnecke im Winterschlaf.
Zwei weitere Tage später wurden weltweit die Börsen geschlossen.
Aber für Lun-yu DynamicInvest war es zu spät. Die chaotische Botschaft des Konfuzius-Prinzips hatte konsequenterweise diesen Hedge-Fonds zuerst erfasst, die Anleger hatten sofort ihre Investments in andere, völlig unbekannte, noch idiotischere Anlagen gesteckt, und der Fondswert brach in wenigen Stunden auf Null zusammen. Die Finanzaufsichtsbehörden schalteten sich ein, auch in New York.
Und als erste wurden die Büroräume von Lun-yu DynamicInvest von Fahndern überschwemmt. Sie nahmen jeden Fetzen Papier und jeden Computerstick mit, beschlagnahmten Bill Woizmans Pass und verließen das Büro wieder wie eine abfließende Flut, gefolgt von den Angestellten, die wie die Ratten vom sinkenden Schiff flohen.
Bill war allein.
Nach einer Weile stand er auf, holte aus der Bar ein Glas und die halbvolle Flasche 52er Glenlochy, mit dem er vor wenigen Tagen auf seinen Erfolg angestoßen hatte und trat auf die Dachterrasse hinaus. Nachdem er den Tumbler gefüllt hatte hob er ihn zum Himmel und rief:
"Hey, Meister Kong, danke für deine Lehrsätze! Sie haben mich weit, sehr weit gebracht! Jetzt ist nicht die Zeit, sie infrage zu stellen. Auf dein Wohl!" Er trank das Glas leer und füllte es wieder auf. "Hast du mich letztendlich doch auf den falschen Weg geführt? Aber du sagst ja, dass es zwecklos sei, darüber zu reden. Und ich werde mich auch nicht tadeln. Gut. Ich werde deine Lehrsätze weiter beachten, auch auf meinem zukünftigen Weg. Und, mein Freund, nie hatten sie größere Gültigkeit, als jetzt."
Bill Woizman trank sein Glas leer, stieg auf die Brüstung und blickte hinunter auf das chaotische Verkehrsgewühl des Financial Districts.
Dann zog er die flache Mappe mit den wichtigsten Papieren seiner zweiten Identität unter dem Pflanztrog hervor und machte sich auf den Weg zu einem Privatflughafen auf Coney Island.
10 Jahre später, irgendwo im Pazifik
Ein braungebrannter Mann schaltete den Fernseher aus, als die Börsennachrichten kamen. Er öffnete die Schiebetür, trat auf die riesige Veranda hinaus und blickte auf die paradiesische Bucht, die sich zwischen wogenden Palmen und steilen Klippen erstreckte. Am Steg lag eine weiße 30-Meter-Yacht und im Korallensand bauten seine drei Kinder phantastische Burgen. Er winkte seiner polynesischen Traumfrau zu und dankte wieder einmal dem Mann, nach dessen ursprünglichen Namen er seine Insel K'ung-fu-tzu Island getauft hatte.
"Deine Weisheiten, K'ung, haben mich reich gemacht", flüsterte er und grinste breit. "Ihnen verdanke ich das Konfuzius-Prinzip. Die andere Weisheit aber stammt von mir: Gier frisst Hirn!"
Im Gegensatz zu seinen Konkurrenten hatte er das Lun-yu, die Sammlung der Aussprüche des Konfuzius, vollständig gelesen. Und darin sagt K'ung auch:
"Man muss sich einen Stecken in der Jugend schnitzen, damit man im Alter daran gehen kann."
An diesem Stecken hatte Bill Woizman schon lange vor dem Börsencrash geschnitzt. Und hier, auf dieser paradiesischen Insel, hatte er Wurzeln geschlagen.
Als er ein platterndes Geräusch hörte, das sehr schnell näher kam und er den Sikorsky S-61 ohne Hoheitsabzeichen erkannte, fiel Bill sofort ein weiteres Zitat des weisen K'ung ein:
"Die Menschen stolpern nicht über Berge, sondern über Maulwurfshügel."
Sein Maulwurfshügel war gewesen, dass die extrem langsame Bürokratie der polynesischen Behörden vor wenigen Wochen den neuen Namen der Insel in die internationalen Geodatenbanken der Schifffahrt eingegeben hatte.
Einem amerikanischen Sachbearbeiter, der vor zehn Jahren durch das Konfuzius-Prinzip seine gesamten Ersparnisse verloren hatte, stach der Name sofort ins Auge. Er stellte Nachforschungen an, und...
Aber das wusste Bill natürlich nicht. Jetzt war es ihm auch egal.
Jetzt konnte er das Konfuzius-Prinzip nur noch auf sich selbst beziehen.
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©BRieser12113
Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: BRieser13112
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2013
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