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Bittere Medizin





Hauptkommissar Reichert hasste diese frühe Uhrzeit. Müssen Jogger die Leichen immer im Morgengrauen finden?
„Und, Doc, hast du schon was?“
„Nicht so wirklich, Reichert“, antwortete die Rechtsmedizinerin Miranda Bellini und richtete sich auf. Sie deutete auf die Glatze des etwa 60-jährigen Mannes, der mit weit geöffneten, toten Augen ins Leere starrte. Auch deshalb hasste Reichert so frühe Termine. Sein Magen.
„Du meinst die Beule?“
„Ja, auch. Und schau dir mal seine Handgelenke und Knöchel an. Er war gefesselt, ist irgendwie ums Leben gekommen und wurde hier am Isarufer einfach abgelegt. Ich ruf dich an, wenn ich mehr weiß.“
Reichert nickte und ging zu seinem Wagen.

Im Kommissariat kochte er Kaffee und fuhr den Computer hoch.
In der Jacke des Toten hatten die Kollegen einen Führerschein gefunden und etwa 2000 Euro in bar. Um einen Raubmord handelte es sich also nicht. Die Fahrerlizenz war auf den Namen Dr. Frank Steiner ausgestellt, und Reichert startete die Suchmaschine des Polizeinetzes.
Bingo! Der Tote war im Zentralcomputer gespeichert.

Reichert rief die Akte auf und las erst einmal die Personalien.
Steiner war Apotheker, hatte zusätzlich BWL studiert und in diesem Fach auch promoviert. Offiziell besaß er die Höchstzahl von vier erlaubten Apotheken in verschiedenen Großstädten, stand aber in Verdacht, über Strohmännern weitere Zweigstellen zu betreiben. Gleichzeitig war er noch Inhaber einer florierenden Internetapotheke, die laut Dossier in einer rechtlichen Grauzone in den Niederlanden residierte. Und Steiner hatte auch noch eine Privatprofessur an einer ominösen Wirtschaftsuniversität im holländischen Nystenrade.

Ja, ja, dachte Reichert. BWL hätte man studieren sollen! Aber warum war überhaupt ein Dossier angefertigt worden?
Er scrollte weiter. Ja, da war es:
Professor Dr. Steiner hatte einige Apothekerkollegen angezeigt, die ihn angeblich bedroht und Schaufenster eingeworfen hätten, aber die Ermittlungen hatten nichts ergeben. Futterneid gibt’s überall, aber warum stehen solche Lappalien in den PolNet-Archiven?
Erst jetzt entdeckte er das kleine Logo am Rand, das besagte, dass weitere Unterlagen bei der Zollbehörde vorhanden waren.

Reichert überlegte nicht lange, entschied sich für den 'kleinen Dienstweg' und rief direkt Regierungsdirektor Ulf Hippke vom Zollkriminalamt in Köln an, mit dem er in einem früheren Fall gut zusammengearbeitet hatte.
Hippke war auch gleich am Telefon und überschüttete Reichert erst mit rheinischer Fröhlichkeit, bis dieser seinen Fall vorbringen konnte.

„Ja klar, Dr. Frank Steiner“, erklärte der Zollbeamte, und sein kölscher Frohsinn war wie weggeblasen. „Wissen Sie, Kollege, diese Internetapotheken sind ein heißes Eisen. Natürlich sind die meisten seriös, halten sich an die Vorgaben, aber, wie überall, gibt’s auch hier schwarze Schafe.“
„Wie soll ich mir das vorstellen?“
„Also bei den Betrügern läuft das Internet-Medikamentengeschäft vorwiegend mit gefälschter Ware. Dabei geht es nicht nur um Lifestyle-Mittelchen wie Faltenfüller oder indische Ayurvedasälbchen, nein, es geht um Milliardengeschäfte mit Fälschungen von regulären Medikamenten renommierter Pharmakonzerne.“

„Na gut“, warf Reichert ein, „ich kann verstehen, dass Bayer sauer ist, wenn einer Aspirin billiger auf den Markt bringt und ...“
„Sie verstehen mich falsch, Kollege“, unterbrach ihn Hippke. „Es geht nicht um Markenpiraterie, es geht nicht darum, dass eine Tussi ein gefakedes Louis-Vuitton-Täschchen spazieren trägt, sondern um richtige Medikamente wie Viagra oder Insulin. Die gefälschten Präparate sind meistens wertlos oder sogar giftig. Ganze Fabriken in Asien sind darauf spezialisiert, nur soviel Wirkstoff zu verwenden, dass sie die Schnelltests bestehen, der Rest ist irgendwelcher Mist wie Titanoxid, Milchsäure oder anderer Dreck. Die Profis schaffen es sogar, als fälschungssicher geltende Firmenhologramme zu kopieren, das erkennt nicht einmal mehr ein Fachmann.“
„Und das lohnt sich?“
„Na und ob sich das lohnt. Schauen Sie sich mal die geschätzten Umsatzzahlen an! Diese Typen sind unglaublich skrupellos und bestens organisiert. Die Fälschungen laufen über zig Länder und Dutzende Zwischenhändler, und jeder verdient an dem Mistzeug. Und am Ende sterben Menschen, die auf die Medikamente angewiesen sind. Denen ist das egal, es geht nur ums Geld. Diese raffgierigen Mörder sollte man eigentlich gleich ...“
Steiner hatte sich in Rage geredet und Reichert konnte ihn verstehen. Aber er hatte einen Fall zu lösen.
Behutsam versuchte er, das Gespräch wieder auf den Apotheker zu lenken.

„Ja, dieser Dr. Steiner." Hippke atmete tief durch. "Wir haben ihn schon lange im Visier. Wir hatten dann den Tipp bekommen, dass er über verschlungene Wege gepanschte Insulinpatronen in großen Mengen gekauft hat, aber er hat fast alles schnell weiter verschoben, und als er gemerkt hat, dass wir ganz nah dran waren, warnte er die Zwischenhändler und alles wurde vernichtet, bevor wir etwas finden konnten. Nur eine einzige Lieferung ist angeblich von seiner Internetapotheke an einen Endkunden verkauft worden, und da hat es auch einen Todesfall gegeben. Gottseidank nur einen. Aber wir hatten keinen Beweis, dass Steiner der Lieferant war. Ich habe heute noch Alpträume, weil wir die Ratte vor Gericht nicht festnageln können.“

„Davon kann ich Sie befreien, Herr Kollege", antwortete Reichert. "Die Ratte ist tot.“


Rudolf Reichert hatte die Wut des Zollfahnders durch den Draht förmlich gespürt und mit ihm gefühlt. Eher widerwillig nahm er deshalb die einzige Spur auf, die ihm der Kollege gezeigt hatte: den Todesfall durch das gepanschte Insulin.

Die Zieladresse befand sich praktischerweise in München.
Auf der Fahrt ins Westend klingelte sein Handy. Er sah auf das Display und sagte:
„Ciao, Doc, hast Du was gefunden?“
„Si, Reichert, würde ich sonst dein Telefonino bemühen? Also: Der Schlag auf den Kopf hat das Opfer sicher betäubt, aber nicht getötet. Und die Male an Armen und Beinen sind klare Fesselspuren. Und an der Isar ist er auch nicht gestorben, sondern man hat ihn post mortem dort hin gebracht.“
„Ja, aber an was ist er denn ..., Doc?“
„Er hatte extrem erhöhte Werte von, vereinfacht gesagt, Stresshormonen im Blut. Und er hatte eine hypertrophe Kardiomyopathie – einen Herzfehler. Du hast auch seine Augen gesehen, ja? Ich würde sagen, er ist vor Angst gestorben. Das ist für mich natürlich eine unbefriedigende Diagnose, also habe ich noch mal von vorn angefangen und dann eine winzige Einstichstelle entdeckt.“
„Mit Insulin im Gewebe?“
Porco dio, Reichert! Woher weißt du das? Ja, du hast Recht. Aber das Insulin hat sich nicht im Körper verteilt, weil das Herz vorher stehen geblieben ist. Und die Insulinmenge war extrem gering, höchstens ein winziges Tröpfchen. Und noch was: Der Tote war definitiv kein Diabetiker. Aber jetzt sag mir, woher du ...“
„Später, Doc, und danke!“

Vor einem heruntergekommenen Mietshaus stellte Reichert den Wagen ab und läutete.
Und als er den verhärmten, vorzeitig gealterten Mann in seiner vernachlässigten Wohnung sitzen sah, wurde ihm einiges klar.

„Ich weiß, warum Sie kommen, Herr Kommissar“, flüsterte der Grauhaarige und nahm einen Schluck aus einem Glas, das nach billigem Whisky roch. „Möchten Sie auch etwas?“, fragte er dann und richtete sich auf.
Reichert schüttelte den Kopf und wartete. Er konnte warten.
Der Mann seufzte und sagte dann: „Ja, ich habe es getan, ich bin schuld.“
Er schwieg wieder, goss sich aus einer obskuren Flasche nach und knetete das Glas in den Händen. Reichert wartete.
„Sehen Sie“, fuhr sein Gegenüber schließlich fort und deutete auf die Wand links neben Reichert. „Das ist meine kleine Tochter Kerstin mit ihrer Mutter.“

Reichert hatte die Fotogalerie schon bemerkt, als er ins Zimmer getreten war. Die ganze Wand war bedeckt mit Bildern eines kleinen Mädchens, das das tat, was alle kleinen Mädchen tun, lachen, spielen, tanzen, leben. Und oft war eine fröhlich junge Frau dabei und manchmal ein junger Mann, in dem Reichert nur mit Mühe den verbrauchten, gealterten Trinker vor sich erkennen konnte.
„Und dieses Kind hat das Schwein umgebracht! Meine Tochter war Typ-1-Diabetikerin von Geburt an. Sie brauchte immer Insulin. Wir hatten wenig Geld, die Praxisgebühren, die Rezepte, die Zuzahlungen – für normale Leute kein Problem.“ Wieder schwieg er und starrte die Wand an.
„Und dann kamen diese tollen digitalen Pens auf, die auch das Insulinprofil speichern und die Abgabe vollautomatisch anpassen und die kaum noch pieksen. Das wäre so toll für unsere kleine Kerstin gewesen. Aber die Versicherung hat die neuartigen Dinger nicht bezahlt – keine Kassenleistung, die alten täten's auch. Und da hat meine Frau einen Pen zusammen mit passenden Patronen durch eine Freundin im Internet besorgen lassen.
Und dann, und dann ... nach wenigen Tagen ist meine kleine Tochter gestorben.
Die Polizei hat gesagt, das wäre gepanschtes Zeug gewesen, mit giftigen Zusatzstoffen. Aber sie konnten angeblich nichts gegen den Lieferanten machen, weil wir keine Unterlagen mehr hatten und nicht beweisen konnten woher das Zeug war. Aber ich habe mir das Gesicht des Apothekers im Internet angesehen, die blasierte Fresse dieses seriösen Professor Doktor Steiner.
Der Staatsanwalt hat gesagt, dass er keine Klage erheben könne.
Und dann ... hat sich meine Frau umgebracht, weil sie sich die Schuld gab. Ich konnte das leider nicht, ich war zu feige dazu. Aber Sie sehen ja selbst, was aus mir geworden ist, Herr Kommissar.“

Reichert wartete wieder geduldig. Er kannte das. In solchen Situationen muss man warten können.

„Neulich habe ich den Kerl zufällig gesehen. Ich bin ihm gefolgt, ich weiß nicht mal, warum, bis in seinen Garten. Da hat er mich entdeckt und wüst beschimpft. Und da lag dann dieser Ast ... und dieser Strick. Ich wollte ihn nicht umbringen, ich wollte ihm nur Angst einjagen, ihn ein wenig von der Angst spüren lassen, die wir damals hatten, verstehen Sie, Herr Kommissar?
Ich habe ihn gefesselt und in sein Gartenhaus geschleppt. Als er wieder bei Bewusstsein war habe ihm gesagt, dass ich noch eine Portion von seinem Giftzeug hätte und dass er die jetzt selbst schmecken wird. Ich hatte noch eine der leeren Patronen aufgehoben und die hatte ich in der Zwischenzeit schnell geholt. Mit dem Pen habe ich ihn dann ein wenig gepiekst. Der Kerl hat gekreischt vor Angst und das hat mich sehr gefreut, das gebe ich zu. Aber dann hat er plötzlich die Augen verdreht und war tot. Einfach tot!
Und jetzt verhaften Sie mich bitte. Ich will, dass alles noch einmal an die Öffentlichkeit kommt, Herr Kommissar.“


Reichert schwieg noch eine Weile und nickte dann.
„Ich verstehe. Ja, ich verstehe Sie sehr gut.
Und ... ich werde Ihnen den besten Anwalt besorgen, den ich kenne.“



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Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: BRieser
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2013

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