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Tod unter dem Regenbogen




"Wechselnd bewölkt, mit einzelnen Schauern und kurzen Aufhellungen" –
so oder ähnlich hätte man Ben Krögers Leben zusammenfassen können. Und so ähnlich hatte auch seine letzte Vorhersage gelautet, bevor er sich in den Urlaub abgemeldet hatte.
Er war 'das Gesicht' der Wettersendungen der ARD gewesen, aber er konnte die Richtigkeit seiner Vorhersage nicht mehr überprüfen.
Er war nämlich mausetot.

 

 

-I-



Nein, ich will nicht, verdammt, was habe ich damit zu tun? Ich bin im Urlaub!, dachte Hauptkommissar Reichert missmutig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Bei 32° im Schatten und 100 % Luftfeuchtigkeit durch den tropischen Dschungel der winzigen Insel Carp Island zu stapfen, um einen Unglücksort zu inspizieren, war kein Vergnügen.
Er folgte Leutnant So-Soeye von der Kriminalpolizei Koror, der Hauptstadt der Inselrepublik Palau, die zu Mikronesien zählt. Neben ihm marschierte ein Polizist, der ebenso wie sein Vorgesetzter mit der typischen Physiognomie der Palauer geschlagen war, nämlich fast so breit wie hoch. Und beide schwitzten in ihren Uniformen ebenso wie Reichert, was diesen mit grimmiger Genugtuung erfüllte.
Er hatte sich nicht weigern können, wenn er seine Pension nicht aufs Spiel setzen wollte. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder, besser gesagt, dieser Wettermacher war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Was hatte er auch hier zu suchen gehabt?

Es war heiß, es war brutal schwül, kein Lüftchen regte sich. Seltsame Geräusche drangen durch das Gestrüpp wie von Dinos aus Jurassic-Park.
Der Weg war ein kaum zu erkennender Trampelpfad zwischen gewaltigen Banyan – Bäumen hindurch, versperrt durch kratzige Lianen, struppige Farne und blasphemische Krautbüsche, die nach oben zum Licht strebten und es dadurch paradoxerweise so dämpften, dass manchmal schwer zu erkennen war, wohin man seine Füße setzte. Aber das war lebensnotwendig, fingerten doch armdicke Wurzeln nach den Beinen, stellten tellergroße Krabbenlöcher gemeine Fallen und suchten namenlose Windengewächse jeden Eindringling zu Fall zu bringen.

 
Was hatte dieser Kerl hier zu suchen gehabt?, grübelte Reichert wieder und schlug nach einem fingerlangen Insekt, das ihn blutrünstig umschwirrte. Ja, vorne im Resort am Strand, das mit seinen heruntergekommenen, kakerlakenbewohnten Hütten, seinem pilzzerfressenen Hauptgebäude trotz seines hervorragenden Essens den modrigen Charme eines Survival-Training-Camps versprühte, aber wegen seiner phantastischen Unterwasserwelt dennoch bei Tauchern aus aller Herren Länder geschätzt wurde – ja, wenn er dort zu Tode gekommen wäre, das hätte Reichert verstehen können. Aber hier im Dschungel? Von einer Kokosnuss erschlagen, okay. Beim Tauchen abgesoffen, auch okay. An einer Fischvergiftung gestorben – denkbar. Obwohl Reichert noch nirgends so frischen Fisch serviert bekommen hatte. Vom Meer keine 50 Meter weiter direkt in die Pfanne. Aber hier, fünfzehn schweißtreibende Minuten vom Urlaubsrefugium entfernt, in ein Feld von Mangrovenschösslingen zu stürzen und von den spitzen, armlangen Trieben wie ein Vampir gepfählt zu werden, das war schon geradezu blödsinnig.

Sie kamen an einem fast fertiggestellten Steingeld vorbei, einer Scheibe von etwa drei Metern Durchmesser mit einem exakt kreisrunden Loch in der Mitte. Weit entfernt von hier, auf der Insel Yap, galt so eine Scheibe noch heute als Zeichen von Reichtum. Steingeld konnte getauscht, vererbt, beliehen werden wie anderswo Dollarvermögen. Wie vor langer Zeit die Steinmetze diese tonnenschweren Münzen hergestellt und über das Meer transportiert hatten, war noch immer ein gewisses Rätsel, das Sensationsschriftsteller wie Erich von Däniken zu wilden Spekulationen reizte.
Diese Münze zu Reicherts Füßen war vermutlich durch einen Materialfehler kurz vor der Fertigstellung gebrochen und hier liegen geblieben, und der Dschungel hatte sich inzwischen die prähistorische Steinmetzwerkstatt zurückerobert.
Reichert hätte viel lieber über diese Kultur nachgedacht, als über den Unglücksfall – das war sicher. Und es war sein Fall – das war auch sicher.

Der ebenso verfettete wie versoffene Honorarkonsul der Bundesrepublik in der palauischen Hauptstadt Koror hatte sofort, als er vom Unfalltod des prominenten Wettermoderators erfahren hatte und außerdem rein zufällig von der Anwesenheit eines Münchner Kriminalkommissars Kenntnis bekam, alle Register gezogen. Vor seinem geistigen Auge sah er schon die Bild-Schlagzeile vor sich:


GENERALKONSUL WILLI WEIER KLÄRT BEN KRÖGERS TOD – DOCH KEIN OPFER VON MENSCHENFRESSERN!


Gut für sein Image, und auch die Regierung Palaus würde ihm dankbar sein.
Er hatte seine Netzwerke aktiviert – früher sagte man Spezlwirtschaft dazu –, und so war Rudolf Reichert blitzartig aus seinem Urlaubsdasein in den aktiven Dienst zurückbefördert worden. Und deshalb vergoss er jetzt kübelweise Schweiß und musste die üble Laune seines mikronesischen Kollegen ertragen.
Er konnte ihn ja verstehen. Auch er wäre angefressen, wenn man ihm bei der Aufklärung des Todes eines amerikanischen Touristen einen Cop vor die Nase setzen würde.
Trotzdem wurde er wütend, als der Palauer Kollege abrupt stehen blieb, auf eine sumpfige Fläche zeigte und in exzellentem Englisch sagte:

"Dort ist dein blöder Landsmann gelegen, und jetzt kannst du zeigen, ob du schlauer bist als wir, du Klugscheißer!" Nun ja, das sagte er nicht wirklich, aber es klang so.
"Jetzt pass mal auf, du viereckiger Freitag, ich kann nichts dafür, dass ihr mal deutsche Kolonie wart, und was ihr da gefunden habt, das interessiert mich einen Dreck. Ich hab eigentlich Urlaub!" Auch Reichert sagte das nicht wirklich, aber es klang so.
Der Leutnant sah den Kommissar erstaunt an, grinste dann und zeigte dabei seine vom Betelnusssaft rot gefärbten Zähne. Dann streckte er seine Hand aus und sagte:
"Sorry, Sir, let's work together, okay?"
"Okay", antwortete Reichert erleichtert und drückte kräftig die Hand seines Kollegen.

"Sehen Sie", sagte der Leutnant und deutete auf einige übel aussehende Mangrovenschösslinge mit abgebrochenen Spitzen, "hier ist Ihr Landsmann gelegen, wie ich Ihnen schon geschildert habe. Er muss über eine Wurzel gestolpert und dann unglücklich gefallen sein. Eine Spitze ist ihm durch das rechte Auge ins Gehirn gedrungen, eine zweite hat seine Lunge durchbohrt. Beide Verletzungen waren tödlich. Die anderen Triebe haben zusätzlich üble Fleischwunden verursacht.
Einer der Tauchguides, der am Nachmittag zum Angeln auf die Nordseite der Insel wollte, hat ihn gefunden und uns sofort alarmiert. Tja, und jetzt liegt er im Keller des Krankenhauses in Koror. Ihr Landsmann, meine ich, nicht der Guide. Unser Polizeiarzt hat ihn untersucht, und Sie haben den Bericht ja gelesen, wie ich annehme."

Reichert nickte. Der Bericht war eindeutig gewesen. Seine Kollegin in München, die Rechtsmedizinerein Miranda Bellini, hatte ihm in den Jahren ihrer Zusammenarbeit so viel Fachwissen beigebracht, dass er das Medizinerkauderwelsch gut verstehen konnte.
Was tat er also hier? Sich grundlos den Hintern abschwitzen, sich den Wolf laufen und den Leutnant nerven, nur weil ein ebenso verfetteter wie versoffener Konsul sich profilieren wollte?
Nein, verdammt noch mal nein!


Bis zu diesem Moment war er sich sicher gewesen, dass das seltsame Gefühl knapp über dem Steißbein, das ihn jedes Mal überkam, wenn etwas faul war, diesmal ein Fehlarm gewesen war. Er hatte es kurz gespürt, als er die Fotos des Arztes, der hier auch als Rechtsmediziner fungierte, betrachtet hatte, aber es war sofort wieder verschwunden. Aber jetzt, hier am Fundort der Leiche, in diesem dampfenden Dschungel, war es mit aller Macht wiedergekommen.

Konzentriert starrte er auf die vielen geknickten, gesplitterten Schösslinge und stellte sich vor, was er selbst tun würde, wenn er hier stolpern würde. Vor Entsetzen aufschreien vielleicht, oder auch nicht – auf jeden Fall würde er eines ganz sicher reflexartig machen: die Arme hochreißen, um den Sturz abzufangen!
Auf den Fotos des toten Wettermannes waren auch entsprechende Wunden an den Armen zu sehen. Aber genau das war es, was Reichert stutzig machte: Die Verletzungen befanden sich alle ausschließlich auf den Oberseiten der Arme und auf den Handrücken.
'Wenn man nach vorne fällt' , so überlegte er, 'wären die Verletzungen doch auf den Innenseiten zu sehen und in den Handflächen. Es sei denn, es sei denn … der Kerl war bewusstlos oder schon tot!'


Reichert fluchte wieder innerlich. Sein Urlaub war definitiv beim Teufel.

"Haben Sie irgendetwas Besonderes gefunden?", fragte er seinen Palauer Kollegen. Der wackelte nur mit seinem dicken Hals.
"Was sollte das auch sein? Es war ein dummer, unglücklicher Unfall, meinen Sie nicht? Außerdem hat es seit seinem vermutlichen Todeszeitpunkt schon vier Flutperioden gegeben. Da bleibt im Mangrovensumpf nichts zurück."
"Aber es muss doch einen Grund geben, warum der Verunglückte vom Pfad dort oben abgebogen und hier runtergekommen ist; und hier unten, direkt vor den Mangrovenspitzen zu stolpern, ist ganz schön seltsam, nicht wahr?"
"Was meinen Sie?", fragte der Polizeioffizier misstrauisch.
"Ach nichts. Sie haben Recht, hier werden wir nichts mehr finden."
Der Leutnant zog mit einer eindeutigen Ich-habs-doch-gleich-gesagt-Miene die Nase hoch, winkte seinem Untergebenen und stapfte die wenigen Meter zum Pfad hoch.

Nach einem letzten Rundblick folgte Reichert ihnen. Kurz bevor er den Trampelpfad erreichte, stutzte er. Sein Blick hatte für einen Moment ein helles Blinken aufgefangen, das von einem durch das Blätterdach gedrungenen Lichtstrahl ausgelöst worden war. Er bückte sich und zog unter einer Wurzel ein kleines, böse aussehendes Messer hervor, das offenbar irgendjemand hier verloren hatte. Vorsichtig steckte er es in eine der durchsichtigen Tütchen die er gewohnheitsmäßig immer bei sich trug und betrachtete seinen Fund. Es war offensichtlich ein Tauchermesser der italienischen Firma Coltri Sub, mit einer etwa 8 Zentimeter langen, spitz zulaufenden Klinge, deren Rücken eine Sägezahnung besaß. Kurz vor dem gelb-grünen Griff befand sich eine sichelförmige, scharf geschliffene Einziehung, mit der man sich von einer Angelschnur freischneiden konnte, wenn man sich darin verfangen hatte. Und die ganze Klinge war geradezu versaut mit geronnenem Blut. Offensichtlich war die Flut nicht bis hierher gestiegen.
Reichert schob die Tüte unter sein schweißtriefendes T-Shirt und eilte seinen Kollegen nach.
Als sie den Steg des Carp-Island-Resorts erreicht hatten, startete der Bootsführer die zwei 225 PS starken Yamaha Außenborder, und in atemberaubender Fahrt jagte das Polizeiboot in 45 Minuten durch die sensationelle Inselwelt der Rock Islands zurück nach Koror. In der Nähe ging ein kurzer tropischer Schauer nieder, und fast augenblicklich erstrahlte ein fantastischer Regenbogen. Wieder einmal wurde deutlich, warum sich die Republik Palau den Beinamen 'State Below the Rainbow' gegeben hat.

-II-



Nach seiner Zwangsenturlaubung hatte Reichert zwar seinen Ferienbungalow auf der Insel Carp behalten, sich aber wegen der Möglichkeit eines schnellen Internetzugangs, einer Faxverbindung und anderer Kommunikationsmöglichkeiten einen Arbeitsplatz im Polizeihauptquartier von Koror erbeten.
Nachdem das Schnellboot im Hafen festgemacht hatte, verließ Reichert seine Kollegen und nahm ein Taxi zum FedEx-Büro am Flughafen. Gegen eine abenteuerliche, bakschischlastige Gebühr versprach der Mitarbeiter des Frachtunternehmens, dass Reicherts Päckchen spätestens in 24 Stunden in München sei.
Aus einer schmuddligen MOS-Burger-Bude holte er sich einen Kinpira und würgte den Reisknödel im Taxi, das ihn zur Polizeistation brachte, unter den kritischen Blicken des Fahrers mit Todesverachtung hinunter.
Genau hätte er es nicht erklären können, aber etwas hatte ihn davon abgehalten, das Tauchermesser zur Untersuchung seinen einheimischen Kollegen zu überlassen. Jetzt war es auf dem Weg zum gerichtsmedizinischen Institut in München, zu Händen seiner Lieblingsrechtsmedizinerin Doktor Miranda Bellini.

Auf dem ihm zugeteilten Schreibtisch fand Reichert die erbetene Liste der Urlaubsgäste von Carp Island vor und überflog sie kurz. Viele Japaner und Koreaner, die gerade Ferien hatten, eine französische Familie, zwei Italienerpärchen und eine Gruppe von zehn Deutschen. Und einer dieser Deutschen war jetzt tot.
Wie Reichert selbst waren praktisch alle Urlauber auf der Insel Taucher – was hätte man in diesem Resort ohne allem Komfort auch sonst machen sollen. Einige von ihnen hatte der Kommissar kennengelernt, vor allem die Deutschen, da er oft mit ihnen auf einem Boot zu den grandiosen Tauchplätzen gefahren war. Blue Hole, Blue Corner, German Channel – Reichert versank in Trübsinn angesichts der Aussicht, das das jetzt vorbei war. Er hatte wenig Hoffnung, dass er den Fall schnell zu den Akten legen und wieder zum Tauchen fahren konnte.

Die Urlauber waren von der einheimischen Polizei bereits kurz nach dem Unfall befragt worden, aber ohne Ergebnis. Ben Kröger war offenbar allein im Dschungel unterwegs gewesen, und keiner hatte etwas gesehen oder gehört.
Reichert graute es vor dem nächsten Morgen. Er hatte die Gruppe der Deutschen gebeten, nach dem Frühstück für eine kurze Befragung zur Verfügung zu stehen und konnte sich gut vorstellen, wie die Stimmung unter ihnen war. Ein Urlaub mit einem Todesfall brachte jeden aus der Fassung – von allen am meisten wahrscheinlich die Ehefrau.
Er starrte auf die Liste und versuchte sich die Gesichter zu den Namen vorzustellen. Von den Tauchgängen her kannte er nur vage ihre Vornamen, war sich aber nicht wirklich sicher. Um sich wirklich kennen zu lernen, waren die Pausen zwischen den Tauchgängen zu kurz gewesen.

-III-



Reichert schreckte aus seinen Gedanken hoch, als ein Beamter an seinen Schreibtisch trat und ihm ein Fax reichte. Er bedankte sich und warf einen Blick auf das Schreiben.
Donnerwetter!, dachte er. Das LKA ist mal ausnahmsweise verdammt schnell gewesen!
Aber ein Fax? Heute, im Zeitalter des Internet?
Doch dann unterstellte Reichert seinen Kollegen vom Landeskriminalamt großmütig vorausschauende Weitsicht. Für Hacker oder Geheimdienste waren E-Mails praktisch offene Briefe. Ein Fax würde sie – falls sie überhaupt noch wussten, was das war – kaum interessieren.
Unter dem üblichen behördlichen Eingangsgeschwafel fand Reichert die Daten aller Mitglieder der deutschen Tauchgruppe. Erst einmal nichts Besonderes, doch dann stutzte er.
Zwei Besonderheiten fielen ihm auf: Erstens war die Gruppe altersmäßig nicht annähernd homogen. Ein Mitglied ging stramm auf die siebzig zu, was Reichert, der ja mehrfach mit ihnen tauchen gegangen war, gar nicht glauben konnte, und der Jüngste war gerade mal um die vierzig. Und die zweite Auffälligkeit betraf die Wohnorte der Gruppenmitglieder. Exakt die Hälfte wohnte in München und der jüngere Teil der Gruppe in Ulm, um Ulm und um Ulm herum, wie es so schön heißt. Das machte die Zugehörigkeit zu einem Verein, wie etwa einem Tauchclub, ziemlich unwahrscheinlich, denn wer fährt schon 240 Kilometer, um sich zum wöchentlichen Training oder Stammtisch zu treffen? Seltsam.

Aber die Gruppe gehörte eindeutig zusammen und hatte sich nicht erst auf Carp Island zusammengefunden. Sie waren im selben Flieger wie Reichert von Frankfurt über Taipeh nach Koror gesessen, hatten im selben Hotel wie er übernachtet und waren im selben Zubringerboot gesessen, das sie zwischen den grün überwucherten Pilzen der Rock Islands hindurch zur Insel Carp gebracht hatte. Er hatte mit ihnen den üblichen Smalltalk gehalten und war als Deutscher derselben Tauchgruppe zugeteilt worden, aber richtig kennengelernt hatte er sie natürlich nicht. Vor den Ausfahrten war jeder mit seinem Tauchgerödel beschäftigt gewesen, unter Wasser wegen der phantastischen Korallenwelt und systembedingt sprachlos, und bei den Rückfahrten mit den 400 PS starken Schnellbooten war auch keine Gelegenheit für intensivere Gespräche gewesen.
Und Reichert war als Tourist hierher gekommen, nicht als Polizist. Und er war auch kein Hellseher.
Er hatte sich auf die Unterwasserschönheiten gefreut, hatte lange dafür gespart, und sein Traum war wahr geworden. Nicht umsonst sind mehrere der Tauchplätze, die Inselwelt selbst und der Jellyfish Lake, ein Binnensee mit einer unvorstellbaren Quallenpopulation im Buch der 1000 Orte dieser Welt, die man in seinem Leben gesehen haben muss, verzeichnet.
Und jetzt war dieser Traum jäh unterbrochen worden.
Reichert hätte die Diagnose 'Unfall' seiner Kollegen durchwinken, einen kurzen Bericht fürs LKA runtertippen und wieder in die Urlaubsstimmung zurückfallen können, wenn er nicht Hauptkommissar Reichert gewesen wäre. Aber er war eben er.

Als aus einer Ecke des Großraumbüros das charakteristische Geräusch des Faxgerätes ertönte, blickte Reichert von seiner Liste auf. Er beobachtete, wie der gelangweilte Beamte von vorhin zum Gerät schlurfte, das Papier entnahm, kurz darauf blickte, dann zu ihm hinüber spähte, dann unsicher zur Tür seines Vorgesetzten, unschlüssig verharrte, dann aber doch zu Reichert geschlurft kam. Dieser war das Schlurfen schon gewöhnt. Hier in dieser Ecke der Welt gehörte es offenbar zum guten Ton, beim Gehen Furchen in den Boden zu schleifen.
Beim ersten Blick erkannte er, was den Beamten hatte stutzen lassen. Ganz oben auf dem Schreiben prangte ein Stempel: STRENG VERTRAULICH! Und damit nicht genug. Darunter folgte die internationale Variante: TOP SECRET! EYES ONLY!
Sofort korrigierte Reichert die Meinung, seine LKA-Kollegen seien weitsichtig und vorausschauend.
"Deppen!", knurrte er leise, seufzte und las die Nachricht.
Sofort war er elektrisiert. Sein Steißbeingefühl hatte wieder einmal funktioniert – hier war etwas oberfaul!
Zwei der Deutschen, so lautete die Nachricht, arbeiteten bei Cassidian Defending World Security, einer Rüstungsfirma, die zum EADS-Konzern gehörte und einer bei U.L.M Laserpower, einem Hersteller, der Hochenergielaser entwickelte und produzierte. Und jetzt wurde Reichert auch plötzlich die Verbindung zwischen der Ulmer Teilgruppe mit der Münchner klar: Das Bindeglied war Ben Kröger. Das Opfer.
Ben Kröger hatte nämlich einen Wohnsitz in Ulm und einen in München. Und – Reichert konnte es kaum fassen, aber es stand da schwarz auf weiß – er hatte noch einen dritten Wohnsitz in der Schweiz!
Bekannter Wettermacher hin oder her, aber wozu braucht der drei Wohnsitze? Um Geld an der Steuer vorbei in die Schweiz zu schieben, braucht man keinen teuren Wohnsitz dort. Der kann auch Damaskus, Addis Abeba, Tunis oder Thessaloniki sein. Geld stinkt nicht für die Schweizer. Aber wenn man ...

Reicherts Gehirn arbeitete auf vollen Touren. Er hatte den Reisepass des Toten inspiziert und darin einen Einreisestempel aus Bangladesch entdeckt. Und unmittelbar vor der Reise nach Carp Island war Ben Kröger offenbar aus Daressalam zurückgekehrt – via Moskau!
Ein Wettermann der ARD verdient sein Geld, indem er die Wettervorhersage im Fernsehen präsentiert, so ist zumindest die landläufige Vorstellung. Was tut er also in Bangladesch und fliegt dann über Moskau sofort nach Mikronesien? Jetzt sah Reichert plötzlich die Szene, die er auf Carp Island beobachtet hatte in einem ganz anderen Licht. Vor wenigen Tagen hatte sich Kröger intensiv mit zwei Typen unterhalten, vielleicht sogar gestritten, die allein schon dadurch aufgefallen waren, dass sie als einzige Gäste nicht tauchten und ständig diese dunklen Gangsterbrillen trugen.
Reichert blätterte in seiner Gästeliste und fand zwei sehr suspekte Namen: Ivan Vodkas und Wassilii Gorbatschow. Blödere Decknamen gab es wohl kaum. Und – bingo!- sie hatten mit dem Verbindungsboot am Todestag Krögers die Insel mit unbekanntem Ziel verlassen.

Reichert sprang auf und winkte dem uniformierten Polizisten, der auch als Bootsführer fungierte. Er musste sofort nach Carp zurück. Industriespionage bei Rüstungskonzernen, unter Decknamen operierende KGB-Agenten als mutmaßliche Mörder und ein zwielichtiger Halbschweizer – das waren Zutaten für einen Drink, den man nicht zu rühren oder zu schütteln brauchte. Er musste dafür sorgen, dass die ganze Bande sofort festgesetzt wurde. Eine Woche im kakerlakenverseuchten Palauer Gefängniskeller, und sie würden singen wie Zeisige. Und was der ebenso verfettete wie versoffene Honorarkonsul darüber denken würde, war jetzt unwichtig wie noch etwas.

 

-IV-



Auf der rasenden Fahrt im Polizeiboot lenkte die traumhafte Bilderbuchparadieslandschaft Reichert etwas von seinen Gedanken ab. Der Fahrtwind zerrte an seiner Gesichtshaut und den etwas schütter gewordenen Haaren, und die phantastischen Bilder legten sich wohltuend auf sein Gemüt. Das musste es sein, was in heiligen Büchern als Garten Eden, als Ridvan, als dschanna adn, als Paradies bezeichnet wurde.
Üppig grün überwucherte Pilzfelsen ragten aus azurblauem oder türkisgrünem Wasser, die Luft schmeichelte mit 29 Grad und hoher Feuchtigkeit der Haut, weiße Wattewolken waren in den Himmel getupft und unter der Wasseroberfläche befanden sich die artenreichsten und farbenprächtigsten Korallengärten dieser Erde.
Reichert schraubte seinen ursprünglichen Plan einer Massenverhaftung auf ein realistisches, den Indizien entsprechendes Maß zurück und beschloss, erst einmal zu übernachten und dann, wie ursprünglich angedacht, die Deutschen nach dem Frühstück zu befragen. Noch immer war es eine Befragung und keine Vernehmung, denn was hatte er schon in der Hand? Nichts.

Als das Boot an der Jetty von Carp festmachte, bot sich Reichert das bekannte, friedliche Bild. Die Bootsleute und Tauchguides saßen am Steg, palaverten und hielten Angelruten ins Wasser, ein nimmermüder Insulaner schnorchelte mit seiner Harpune nach Grillnachschub, die Gäste hingen in den Hängematten ab oder saßen mit Asahi Bierbüchsen herum und warteten auf den Sonnenuntergang, ein leichter Wind raschelte in den Palmen, und aus der Küche drangen verführerische Düfte vom bevorstehenden Dinner. Eine fast unwirklich idyllische Szenerie.
Nur von den Deutschen war keiner zu sehen. Verständlich. Kaum vorstellbar, dass jetzt noch einer von ihnen in Urlaubsstimmung war. Zumindest hätte das Reicherts Verdacht enorm verstärkt. Beim Dinner schlich zwar der eine oder andere kurz zum Büfett, verschwand aber nach ein paar Happen wieder aus der Restauranthalle.
Die Nacht war wie immer abrupt hereingebrochen, eine schmale Mondsichel hing seltsam schräg am Himmel, und Reichert legte sich in seinem Bungalow aufs Bett. Zum Nachdenken kam er nicht mehr. Tief und fest schlief er, bis ihn einer der schreihälsigen Hähne, den er nach seinem Aussehen 'schwanzloses Hinkebein' benannt hatte, kurz vor dem Frühstück weckte.

-V-



Nach einer Schale Gemüsebrühe, einem Stück frittierten Fisches, Fleischteilchen in Reis mit Sojasauce und Toast mit Erdnussbutter und Marmelade – einer Kombination, die ihm zuhause schon beim Gedanken daran Übelkeit verursacht hätte – fühlte er sich gestärkt genug, die Befragung durchzuführen.
Er bat die Deutschen im inzwischen leer gewordenen Speiseraum zu warten und rief sie dann einzeln in das Büro, das ihm der Kioskbetreiber, Ausflugsorganisator, Bürovorsteher, Managementsprecher und was auch immer der kleine, seltsam dünne Palauer auch sonst noch in Personalunion war und der auch noch Roland hieß, zur Verfügung gestellt hatte.

Nach einer halben Stunde war alles vorbei und Reichert klaute missmutig eine Flasche Asahi-Beer aus Rolands Kühlschrank. Sie waren alle so ... normal, so unverdächtig.
Der Zahnarzt im Ruhestand, Bert Söder, nebst Beamtengattin Libille, oder etwa die stille, zurückhaltende Supermarktleiterin Rita Waller und ihr redseliger Ehemann Karl-Friedrich, der ständig aberwitzige Geschichten über eine Kieferorthopädin namens Ella und ihren verfressenen Hund erzählte. Harmlos, aber er war doch ein Topkandidat auf Reicherts Spionageliste. Er arbeitete ja bei Cassidian, wobei er immer betonte, dass die Firma nur Abwehrsysteme gegen Angriffe entwickle wie offenbar alle Rüstungsfirmen dieser Welt.
Leopold Gehmeier war ein ehemaliger Beamter mit ebenfalls einem verdächtigen Punkt in seiner Vita. Längere Zeit war er nämlich Leiter einer Aufnahmestation für Flüchtlinge aus Osteuropa gewesen, einer Institution, die gerne zur Einschleusung subversiver Geheimdienstler aller Herren Länder benutzt wurde. Das war zwar schon Jahre her, aber trotzdem ...
Und dann das Ehepaar Schmitz. Karl Schmitz war Reichert aufgefallen, weil er nach jedem Tauchgang in seinem Logbuch akribisch notierte, was er unter Wasser gesehen hatte. Ein typischer Banker. Aber waren es wirklich nur Tauchnotizen, die er da kritzelte? Und seine Frau Herta? Wenn sie nicht obskure Dinge am Laptop machte, werkelte sie an irgendwelchen Teilen, schraubte an der Tauchausrüstung, am Fotoequipment, an allem, was Schrauben hatte herum.
Sind das nicht Fertigkeiten, die man auch zum Bombenbasteln braucht? Reichert schüttelte unwillig den Kopf. Was für ein Quatsch! Aber war das wirklich alles Quatsch?
Und was war mit Gabriel Müller? Auch einer der potentesten Kandidaten für Reicherts Spionagethese. Sein Arbeitgeber U.L.M. Laserpower war spezialisiert auf High-End-Lasersysteme. Perfekt zum Angriff auf elektronische Steuersysteme von Flugkörpern oder auch zur Abwehr von Abwehrmaßnahmen. Das Gegen-Gegen-Gegen-Prinzip. Zusammen mit Cassidian war das eine Kombination, die die gesamte Spionagebranche anlocken musste, wie Scheiße die Fliegen.
Gabriel Müller war eloquent, hatte immer ein Scherzchen auf den Lippen, ging immer als Letzter ins Bett und sah auch am nächsten Morgen immer gut aus, wie Reichert neidvoll feststellen musste. Aber warum war er mit seinen vierzig Jahren nicht verheiratet, warum hatte er keine Freundin dabei, warum schlief er mit dem 30 Jahre älteren Gehmeier in einer Hütte? Sehr seltsam.

 
Und schließlich die Hauptperson, auf die Reichert sein Interesse fokussierte: die Ehefrau beziehungsweise Witwe des toten Ben Krögers.
Sie hieß nicht Areta Kröger, sondern Areta Sawatzky, was sie per se noch nicht verdächtig machte, im Gegenteil. Reichert hatte es damals sehr begrüßt, dass die Wahl des Namens freigestellt wurde und somit Frauen nicht auf unsägliche Doppelnamen ausweichen mussten. Wie oft hatte er sich schon bei Vernehmungen von Personen verhaspelt, die etwa Schleuthäuser-Narrenberger hießen. Trotzdem war ihm diese Frau suspekt. Ja, sie war verstört, sie war geknickt, sie war furchtbar betroffen. Aber war sie nicht ein wenig zu verstört, zu geknickt, zu betroffen? War sie etwa eine sehr gute Schauspielerin? Und natürlich machte es sie sehr verdächtig, dass sie ebenso wie Karl-Friedrich Waller als Elektronikspezialistin bei Cassidian arbeitete.

Reichert brummte der Schädel. Was, wenn das alles reiner Zufall war? Was, wenn Ben Kröger vielleicht früher Angestellter des schlagzeilenträchtigen Schweizer Wettermoguls Machelkahn gewesen war und seine Wohnung dort auch nach der Gründung einer eigenen Firma in München beibehalten hatte? Die Schweiz soll ja sehr schön sein. Ein Ferienhäuschen dort würde Reichert auch gefallen. Was, wenn die beiden Russen wirklich Vodkas und Gorbatschow hießen und wirklich nur Urlaub auf Carp Island gemacht hatten? Reichert hatte selbst schon auf den Malediven Griechen getroffen, die dort Urlaub machten. So was kommt vor. Und was wäre, wenn die ganze deutsche Truppe sich irgendwann einmal irgendwo zufällig beim Tauchen kennengelernt hätten? Zu viele Zufälle.
Warum also lag Ben Kröger jetzt im Kühlkeller des Krankenhauses in Koror?

Wütend klaute sich Reichert noch ein Bier, knallte die Bürotür hinter sich zu und marschierte den durch die morgendliche Ebbe freiliegenden kilometerlangen Sandstrand entlang, um den Kopf frei zu bekommen.
Wenn er die Spionagetheorie beibehielt, die Beteiligten vorläufig festnehmen ließ und alles stellte sich als Flop heraus, würde ihn der ebenso verfettete wie versoffene Honorarkonsul Willi Weier über seine Spezis teeren und federn lassen. Streifendienst in Aschaffenburg bis zur Pensionierung wäre die gnädigste Folge. Zumindest eine zusätzliche Hypothese musste her, eine zweite Spur.
Zornig warf Reichert seine Asahi-Büchse nach einer Krabbe, die sich blitzartig in ihr Loch verzog.

Was sind die gängigsten Motive einer Gewalttat? Habgier. Ich muss die Kollegen nach Vermögenswerten und Lebensversicherungen recherchieren lassen. Wenn Kröger reich war, ist seine Witwe die Hauptverdächtige! Oder ... Eifersucht!
"Moment mal!", schrie Reichert einem Strandläufer zu, der sich erhob und kreischend davon flog. "Hergottnochmal, das könnte es sein!" Er blieb stehen und starrte auf das in allen Blaunuancen schimmernde Meer hinaus.
Der Zahnklempner fiel vermutlich aus. Er war Reichert aufgefallen, weil er ständig etwas in ein Notizbuch gekritzelt hatte, aber er war öfter in Begleitung einer Bierdose als einer anderen Frau gewesen. Schreiben und Trinken passten nach Reicherts Meinung nicht zusammen, bis ihm Hemingway und Bukowski einfielen. Aber sah der Typ wie Hemingway aus? Eher wie Bukowski.
Auch seine Frau Libille hatte er kurz im Auge gehabt, weil sie bei der Vernehmung ausgesagt hatte, dass sie viele der Reiseteilnehmer erst kurz vor Abflug einmal in einer Kneipe getroffen habe, aber dennoch alle Buchungen erledigt habe. Das kam Reichert etwas sonderbar vor, aber warum nicht? Eifersucht? Sie wandte zwar nicht den Blick ab, wenn sich der neoprengeformte Knackhintern Gabriel Müllers in ihr Blickfeld drehte, aber das galt ebenso für Herta Schmitz, Rita Waller und Areta Sawatzky. So ein Schmarrn!


Reichert schlug sich vor die Stirn. Dann hätte doch Gabriel das Opfer sein müssen!
Er grummelte vor sich hin, machte einen Bogen um eine Kegelschnecke und blieb wieder abrupt stehen.
Scheiße!

Wie hatte er das nur übersehen können? Na klar, das Motiv war doch Eifersucht gewesen!
"Ich Idiot!", brüllte er aufs Meer hinaus. "Ich hab's doch mehrfach mitbekommen auf dem Tauchboot und hab mir nichts dabei gedacht!"

Ja, es war so offensichtlich, dass es keiner gemerkt hat. Alle, ihn eingeschlossen, hatten es für einen Running Gag gehalten, für eine kindische Alberei. Jeder – bis auf die Mörderin.
Dieses Mausibärchen-Getue, die übertrieben innigen Umarmungen, das Schnuckiputzgerede, über das alle lachten – es war Ernst gemeint! Jetzt sah Reichert es völlig klar: Der einsame Gabriel Müller und Ben Kröger waren ein Paar gewesen! Und Areta Sawatzky musste die Täterin sein. Sie war intelligent, tolerant, liberal, aber alles hat seine Grenzen. Vermutlich hat sie es einfach nicht mehr ertragen können.
Wahrscheinlich war sie ihrem Ehemann in den Dschungel gefolgt, vielleicht waren sie auch gemeinsam dorthin gegangen, um sich ungesehen aussprechen zu können, es kam zum Streit, sie zog das Messer und stach auf Kröger ein, bis er tot war. Dann hat sie ihn zu den Mangroven geschleppt und in die Schösslinge gekippt. Kröger war zwar groß, aber alles andere als ein Sumoringer, und Areta Sawatzky ist sportlich und durchtrainiert. Es wäre für sie kein Problem gewesen!
Rudolf Reichert machte kehrt und stapfte zum Resort zurück. Er musste die Ehefrau noch einmal in die Mangel nehmen, aber diesmal kräftig.

Als er seine Hütte erreichte, wechselte er erst einmal sein scheißnasses T-Shirt, was wegen der nicht vorhandenen Klimaanlage ziemlich zweckfrei war und wollte gerade sein Diktafon aus dem Koffer holen, als das Diensthandy, das ihm seine Palauer Kollegen gegeben hatten klingelte. Er blickte auf das Display und sah, dass es Doktor Miranda Bellini war, die Rechtmedizinerin in München.

"Ciao, Doc", sagte er zur Begrüßung, "bist du gerade beim Weißwurstfrühstück oder so?"
"Porco dio, Reichert!", kam es genervt zurück. "Du spinnst wohl! Ich arbeite mir die Nacht um die Ohren um dein blödes Messer zu untersuchen, und du machst dumme Sprüche. Weißt du eigentlich, was wir hier für eine Uhrzeit haben?"

"Sorry, Doc, ich hab ganz die Zeitverschiebung vergessen. Ich bin ganz Ohr."
"Also", antwortete Miranda Bellini, "du hast den richtigen Riecher gehabt. Auf dem Messer sind Blutspuren, die eindeutig zu deiner Leiche passen. Ich gehe davon aus, dass die Werte meines Kollegen, die du mir geschickt hast, richtig sind. Kröger ist also ganz offensichtlich mit dem Messer zumindest verletzt worden. Die Stichwunden fallen bei den anderen Wunden nicht auf. Und – du wirst es kaum glauben – ich habe auch Fingerabdrücke gefunden, die brauchbar waren."
"Super!", schrie Reichert. "Jetzt hab ich sie! In den Tauchsachen der Deutschen habe ich zwar keine passende Messerscheide gefunden, aber ich bin sicher, dass die Fingerabdrücke zu Areta Sawatzky passen. Danke Doc."
"Uno momento, Reichert", kam es zurück, "du liegst völlig falsch."
"Was? Wieso?"
"Hör einfach zu, was ich noch gefunden habe. Es gab noch eine Spur auf dem Messer."
"Und was?"
"Das errätst du nie!" Bellni ließ den Kommissar eine Weile zappeln, dann ließ sie triumphierend die Katze aus dem Sack. "Käse."
"Käse?"
"Si, Käse. Genauer gesagt formaggio parmagiano reggiano."
Reichert war völlig verwirrt.
"Und ... und was bedeutet das?"
"Schau, Reichert, es gibt bei dir dort am Ende der Welt ganz sicher keinen formaggio parmagiano reggiano. Und es gibt nur eine Nation, für die gewisse Grundnahrungsmittel lebensnotwendig sind. Nein, nicht die Deutschen, bei aller Liebe zu Leberkäse und Kasseler, auch kein Engländer, ja nicht einmal ein Franzose käme auf die Idee, aus Heimweh sein Essen mit auf eine Reise zu nehmen. Auf solch chauvinistisches Verhalten kommen nur wir Italiener. Ich weiß, wovon ich spreche."
"Das gibt's doch nicht", stöhnte Reichert, dem sich seine Hauptverdächtige zu verflüchtigen drohte. "Das ist doch reine Spekulation!" Innerlich schimpfte er sich einen Trottel, weil er nur die Tauchtaschen der Deutschen nach der Messerscheide durchsucht hatte.
"Leider nein, Reichert. Du schimpfst zwar immer, dass ich mich oft um mehr als um meine Leichen kümmere, aber dann bist du doch immer froh darüber, stimmts? Und deshalb habe ich mir erlaubt, meinen Cousin Fausto Balsari zu kontaktieren, der ja Maggiore bei den Carabinieri ist, wie du sicher schon wieder vergessen hast. Kleine Umgehung des großen Dienstweges, sozusagen. Er hat – wiederum sozusagen freiberuflich – die Fingerabdrücke durch den italienischen Computer gejagt und ..."
"...Und? Nun sag schon, Doc!"
"... und eine gewisse Mariella Rabazzi gefunden, Tochter eines Immobilienmillionärs und mehrfach vorbestraft wegen Drogenmissbrauchs und schwerer Körperverletzungen. Ein ganz übles, psychopathisches Früchtchen."
"Aber warum soll ein verzogenes italienisches Millionärstöchterchen einen deutschen Wettermoderator umbringen?"
"Das herauszufinden ist dein Job, amico mio. Ich muss jetzt ins Bett, ciao bello", antwortete Miranda Bellini und unterbrach die Verbindung.

-VI-



Die schwerste Aufgabe für Reichert bestand darin, seinen Kollegen Leutnant So-Soeye dazu zu bringen, eine Verhaftung der Italienerin und ihres Begleiters durchzuführen, bevor das Verbindungsboot die Insel Richtung Flughafen Koror verließ. Es gelang im letzten Augenblick. Der Rest war ein Kinderspiel.
Schon bei der Festnahme und Durchsuchung des Gepäcks – wobei auch die leere Messerscheide und Reste eines italienischen Hartkäses gefunden wurden – spuckte die Italienerin Gift und Galle. Und jetzt erkannte Reichert sie und ihren Begleiter auch wieder. Sie waren ganz am Anfang seines Urlaub ein einziges Mal mit ihm und der deutschen Tauchgruppe mitgefahren und ihm gleich durch ihre feindselige Unfreundlichkeit aufgefallen.
Konfrontiert mit den Beschuldigungen gestand, nein bestätigte sie lauthals ihre Tat. Reichert konnte dank seiner Kollegin Miranda einigermaßen italienisch, dass er ihre Kakophonie aus Kraftausdrücken und Verwünschungen verstand.

"Si, certo!", schimpfte sie. "Ich hab den verdammten figlio di puttana bestraft. In der Hölle soll er schmoren und ihr anderen tedeschi mit dazu!"
"Warum?"
"Warum, warum! Weil ihr scheiß Deutsche seid, die alles besser wissen, deshalb. Und dann hat mir dieser Bastard auch noch mein Toastbrot weggefressen. Das reicht doch, oder?"
Jetzt erinnerte sich Reichert wieder an die Szene beim Frühstück. Die Italienerin war zum wie ein Förderband arbeitenden Toaster gerauscht, auf das sie anscheinend ihre Brotscheiben gelegt hatte. Aber der Toaster war leer. Sie hatte dem in der Nähe stehenden Ben Kröger einen tödlichen Blick zugeworfen und war mit hochrotem Kopf davongedonnert.

Ganz leise und mit kaum verhaltener Wut in der Stimme fragte Reichert:
"Signora, nur damit ich es richtig verstehe, Sie haben also allein wegen eines Toastbrotes einen Menschen umgebracht?"
Die Italienerin machte eine obszöne Geste und spuckte über den Tisch.
Reichert wischte sich das Gesicht ab und nickte den Polizisten zu, die Mariella Rabazzi an beiden Armen packten und aus dem Raum schleiften.

Bevor die Tür zufiel, rief er ihr noch nach:
"Du hast den Falschen erwischt, du Scheusal!"

Er hatte nämlich auch beobachtet, dass nicht Ben Kröger als letzter am Toaster gewesen war, sondern der nette Gabriel.

Aber das würde nie jemand erfahren.

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©BRieser26712

 

Impressum

Texte: BRieser
Bildmaterialien: BRieser
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Andrea, Hedy, Karl-Heinz, Kurt, Michael, Poldi, Ruth, Sibylle und Sven - ich hoffe, ihr nehmt es mir nicht übel!

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