Drachenbrüder
Von Westen drangen die Drachen des Wahns
Und bedeckten die glühenden Gassen.
Sie schlugen die Schwingen als sollte der Himmel
Bersten und die Erde.
Ältere Edda, Solarliod
-I-
Die Szenerie war unwirklich, gespenstisch, fast mystisch. Sie erinnerte an Filme der englischen Hammer-Studios aus den 70ern, als Werwöfe noch richtige Werwölfe waren und Vampire noch richtige Vampire.
Ein Feuer loderte mitten auf dem Hof und warf unheimliche Lichtspiele auf die verrotteten Mauern des Gehöfts, uralte Lindenbäume wisperten unverständliche Botschaften in den kühlen, klaren Nachthimmel, und eine schmale Mondsichel blinkte herunter, gnadenlos, unbeteiligt, als hätte sie Derartiges schon zu oft gesehen. Neben dem Feuer stand ein gewaltiger Tisch, aus rohen Bohlen grob zusammengezimmert, umgeben von Bänken, die aus dicken Baumstämmen gehauen waren.
Dieses archaische Bild wurde durch das Opfer vervollständigt. Ein breitschultriger, fetter Kerl in schwarzer Lederhose und Cowboystiefeln saß auf einer der Bänke. Der nackte Oberkörper war über und über mit seltsamen Mustern tätowiert. Die Brust ruhte auf dem Tisch, der Kopf lag sonderbar verdreht zwischen den ausgestreckten Armen, und die toten Augen blickten ins Nirgendwo.
Und in der Schulter steckte ein Speer.
Aber mehrere Dinge passten nicht zu diesem, wie aus alter Zeit gefallenen Tragödienschauplatz: die Motorräder im Hintergrund, die zuckenden Blaulichter und die Gestalten der KTU in ihren Schutzanzügen.
-II-
Hauptkommissar Rudolf Reichert betrat den Tatort und begrüßte die Rechtsmedizinerin Doktor Miranda Bellini, mit der er schon scheinbar ewig zusammenarbeitete.
Sie war gerade dabei, ein machetenähnliches Instrument zwischen Tischplatte und Oberkörper der Leiche zu schieben, was ihr aber nicht vollständig gelang.
"Hallo Doc", sagte Reichert, "was ist denn das für eine Sauerei?"
"Ciao Reichert", antwortete die Ärztin ohne aufzublicken. "Schau dir das an, der Spieß hat ihn regelrecht auf die Tischplatte genagelt. Er muss mit gewaltiger Kraft gestoßen worden sein!"
Zur Demonstration rüttelte sie an dem Schaft, was bei Reichert ein unbehagliches Schaudern verursachte.
"Das ist kein Spieß, Doc, sondern ein Speer. Ein Spieß ist länger und schwerer. Sieht aus, wie ein Pilum, ein Römerspeer.
"Spieß, Speer, Lanze – me ne sbatto!", raunzte sie, "Bin ich ein Landsknecht, um den Unterschied zu kennen? Jedenfalls ist das die Tatwaffe und wahrscheinlich auch die Todesursache. Basta."
"Das glaube ich dir sofort, Doc. Ich wollte auch nicht klugscheißen. Interessant wird sein, wo das Teil herkommt."
Miranda Bellini spreizte demonstrativ die Hände vor der Brust.
" Das ist dein Job, scusi!"
"Klar", sagte Reichert, "wir telefonieren, ja?"
"Si, si, tutto al suo tempo", seufzte Bellini und widmete sich wieder ihrer Leiche.
Dann rief sie plötzlich:
"Reichert, komm mal, schau dir das an!" Sie leuchtete mit ihrer Maglite auf eine Stelle am Schaft des Mordinstruments. Reichert zog eine Brille aus der Brusttasche, setzte sie umständlich auf und beugte sich vor.
"Hey, das sieht ja aus wie … wie … Runen, ganz frisch mit Filzschreiber! Und was heißt das?"
"Woher soll ich denn das wissen? Du bist doch hier der Germane!"
Reichert richtete sich wieder auf.
"Mach mir bitte ein Foto davon, ja?"
"Certo. Und ich weiß: Am besten noch gestern."
"Das wäre toll, Doc. Dafür lade ich dich ins Il Mulino ein."
Miranda Bellini verzog angewidert das Gesicht und scheuchte Reichert mit einer Handbewegung davon.
Der Kommissar ging zum Haus hinüber und betrachtete die Motorräder, die davor standen.
Es waren ausnahmslos individuell umgebaute Harley-Davidsons, die nur zwei Dinge gemeinsam hatten: Keine der Auspuffanlagen würde eine TÜV-Untersuchung überstehen, und alle hatten auf dem Tank in bester Airbrush-Technik das gleiche Motiv gespritzt: einen Drachen.
An der niederen Eingangstür standen zwei uniformierte Polizisten, denen Reichert zunickte.
"Alle Zeugen drin?", fragte er.
"Ja, alle sind da drin, aber Zeugen …?"
-III-
Der Anruf der Einsatzzentrale war gekommen, als Reichert tropfnass im Bad gestanden war und sich auf einen ruhigen Fernsehabend freute. Mit einer Hand versuchte er sich abzutrocknen, während er der knappen Schilderung des Beamten vom Kriminaldauerdienst lauschte.
Ein Mitglied der Rockergruppe DragonBrothers hatte die Wache angerufen und gemeldet, dass ihr President ermordet worden sei, und alle Members würden im Clubhaus auf die Polizei warten.
"Sie warten auf uns? Rocker? Das ist seltsam, oder?"
"Tja, schon", stimmte der KDDler zu
Unterwegs versuchte Reichert über Funk nähere Auskünfte zu bekommen, aber das Ergebnis war dürftig. Die Gruppe sei nie groß aufgefallen im Vergleich zu den Hells Angels, Bandidos oder Black Devils, trotzdem wären inzwischen genug Einsatzkräfte vor Ort, um einer gewalttätigen Auseinandersetzung gewachsen zu sein, und auch die KTU sei schon am Tatort.
Das Clubheim – der Kollege am Funk hatte es so spöttisch betont, dass Reichert sofort an einen Pfadfindertreffpunkt dachte – lag am Rande eines kleinen Dorfes, aber weit genug von anderen Wohnhäusern entfernt, dass die Nachbarn nicht durch vermutlich lautstarkes Heavy Metal, grölende Machorituale und brüllende Zweizylinder gestört wurden.
Vor der Einvernahme der Bandenmitglieder graute es Reichert. Was wusste er schon über Rocker? Hirnlose, rechtsradikale Schläger, die mit Prostitution, Schutzgelderpressung und Drogenhandel ihre Kohle machten – nein danke! Er würde morgen die Kollegen vom Kriminalfachdezernat 3, Unterdezernat K 33/ Rockerkriminalität einschalten. Sollten die sich damit auseinandersetzen.
Er sah sich in der Diele des alten Bauernhauses um, die nur von einer schwachen Energiesparleuchte erhellt wurde. Links, durch eine offene Tür, erkannte er eine Küche und trat näher, um einen Blick hinein zu werfen. Modern, zwei riesige amerikanische Fridges – klar, Bier muss kalt sein -, aber was Reichert irritierte, war das Fehlen von überquellenden Aschenbechern, Bierflecken, schimmligen Hamburgerresten, jahrealtem Müll und anderen zu seinen Vorurteilen passenden Accessoires. Sonderbar.
Seltsam waren auch die überall sitzenden Drachenfiguren. Sie hockten neben Salzstreuern, auf Regalen, bewachten Schubladen und schwebten mit Fledermausflügeln an Nylonfäden von der Decke. Aber es waren keine netten, lustigen Kerlchen vom Typ Grisu, der kleine Drache, sondern schreckliche Abbilder albtraumhafter, lovecraftscher Phantasievorstellungen, die perfekt zu den Bildern auf den Harley-Tanks passten. Jesus, dachte Reichert. Das Kind im Manne.
Er trat zurück in die Diele. Eine Treppe führte nach oben und eine Tür anscheinend in die ehemalige 'Gute Stube'. Kurz lauschte er, aber es war nichts zu hören. Er klopfte und trat ohne Aufforderung ein.
Was er sah, erschreckte ihn zutiefst.
Es waren nicht die grimmigen, ablehnenden Gesichter der Männer, die ihn feindselig anstarrten, es war nicht das geschnitzte Kirchengestühl, in dem sie entlang der Längsseiten des Raumes saßen und das irgendwann einmal den Chor einer alten Abtei geziert haben musste, es war nicht die düstere rot-blaue indirekte Beleuchtung, die den fensterlosen Raum krankhaft beleuchtete – nein, es war das erschreckend realistische Gemälde eines geflügelten Drachen, das die gesamte Stirnseite der Halle einnahm.
Reichert holte tief Atem. Er konnte kaum den Blick von dem Monster wenden, das ihm mit uralten, eiskalten, erzgrauen Augen direkt ins Gesicht blickte. Er kannte diese besondere Maltechnik aus einem Deckenbild in der Neuen Bamberger Residenz – diese Augen würden ihm folgen, wohin er sich auch im Raum bewegen sollte.
Es ist nur ein Bild, nur eine Comic-Figur, dachte Reichert, aber er fühlte sich seltsam abgestoßen und hingezogen zugleich.
Der lodernde Feuerstrahl, der aus dem Rachen des Monsters geradezu auf ihn zuzuschießen schien war so echt dargestellt, dass er versucht war, die Hand schützend vor sein Gesicht zu halten. Vor dem Gemälde stand ein Steintisch, der ihn an einen Altar erinnerte. Der Eindruck einer Kapelle wurde noch durch zwei schwere Kerzenständer verstärkt, die daneben standen. Rechts und links überzogen Runeninschriften die Wände. Immer wieder fing Reichert den Blick des Drachens ein, der ihn fast zu hypnotisieren schien.
Nur mühsam wandte er sich ab und den Mitgliedern der Motorradgang zu. Aber waren das wirklich Biker, oder nicht eher Mitglieder einer Freimaurergruppe oder einer seltsamen Sekte, auch wenn ihr Erscheinungsbild dazu überhaupt nicht passen wollte?
"Guten Abend, die Herren. Ich bin Hauptkommissar Reichert. Wer von Ihnen hat uns informiert?" Unbehaglich blickte er in die harten, finsteren Gesichter der Männer, die ihn wortlos fixierten. Eine Stimme hinter ihm erlöste ihn aus diesem unheilvollen Schweigen.
"Ich war das, Herr Hauptkommissar, mit Verlaub."
Reichert drehte sich zum Chorgestühl auf der anderen Seite des Raumes um und betrachtete den Sprecher, der langsam aufstand. Ein Schrank. Schwarzer Bart, grauer Pferdeschwanz, die Rockerkutte über den tätowierten Oberkörper gespannt wie ein zu enges Kinderjäckchen.
Herr Hauptkommissar? Reichert glaubte, den drohenden Sarkasmus beinahe greifen zu können. Scheißbulle! wäre ihm fast lieber gewesen. Trotz der Kollegenpräsenz draußen fühlte er sich bedroht und bedauerte, dass er wieder einmal seine Dienstwaffe vergessen hatte. Doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr der Rocker fort:
"Das da draußen ist Siggi Sigmundson, unser … Presi, und die einzige Aussage, die wir machen werden ist, dass er den Tod verdient hat. Und jetzt, mein lieber Bulle, pfeif deine scheißblöden Grünen herein und lass uns verhaften!"
Ja, diese Töne passten besser in Reicherts Weltbild, aber die Aussage nicht.
Hatte er sich verhört, oder hatte der Kerl gerade einen gemeinschaftlichen Mord gestanden und um Verhaftung gebeten? Die Situation, die Stimmung in dieser erschreckenden Kapelle, die drohenden Blicke – Reicherts Nerven waren völlig überreizt. Nichts passte zusammen.
Er drehte sich im Kreis und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern.
Und dann fiel es ihm wie die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen: Diese hartgesottenen Rockertypen sahen ihn nicht bösartig an, nicht aggressiv, nicht auf Ärger gebürstet. Nein. Sie hatten schlichtweg … Angst. Eine jetzt fast körperlich zu spürende, alles durchdringende Scheißangst. Sie tropfte aus jeder Pore, sie war mit Händen zu greifen. Aber wovor? Nicht vor ihm, nicht vor der lächerlichen Polizeimacht, nein, sie hatten Todesangst vor etwas viel Gefährlicherem.
Und dieses Gefühl griff auf Reichert über. Ihm war schlecht. Er wollte nicht weiterfragen, er wollte sie nicht verhören, er wollte nicht wissen, was es mit dem Drachenkult auf sich hatte, nicht fragen, was das für ein seltsamer steinerner Tisch unter dem Drachenbild war, woher die dunklen Flecken kamen, mit denen er besudelt war. Nicht jetzt. Er wollte nur noch raus. Und in den Blicken der Rocker sah er auch, dass sie keine Aussagen machen würden. Kein Sterbenswort.
Er räusperte sich zweimal, bis er endlich ein Wort herausbringen konnte.
"Also gut, meine Herren, wenn Sie es so wollen … ich schicke ihnen gleich die Kollegen."
Er drehte sich vorsichtig um, während es ihm heiß und kalt den Rücken herunterlief, trat auf den Flur hinaus und schloss leise die Tür hinter sich.
Draußen auf dem Hof winkte er den Einsatzleiter heran und bat ihn, die Verhaftung vorsichtig, ohne das übliche 'Hände-an-die-Wand-Geschrei' durchzuführen und die Truppe direkt in die JVA Stadelheim zu bringen.
Ohne sich noch von Doktor Bellini zu verabschieden ging er zu seinem Wagen, fuhr rasch durch das Dorf Richtung Autobahn. Er brauchte jetzt etwas, um seine Nerven zu massieren, wie Grönemeyer gesungen hatte.
Der Barkeeper der Kneipe neben seinem Haus kannte diesen Zustand schon und brachte ihm wortlos sein erstes Bier.
-IV-
Trotz des dicken Kopfes und schlechter, albtraumgeschwängerter Nacht war Reichert am nächsten Morgen früh im Büro und ließ sich mit dem Kriminaldezernat 33 verbinden.
"Guten Morgen, Kollege Reichert", schallte es ihm gutgelaunt ins Ohr, "ich hab schon gehört, was passiert ist und mir gleich gedacht, dass Sie bei uns nachfragen. Aber, so leid es mir tut, ich fürchte, wir können da nicht viel weiterhelfen. Sehen Sie, wir haben dieser Gruppe schon vor einiger Zeit auf den Zahn gefühlt, so wie wir die ganzen Rockerbanden beobachten. Wissen Sie, es gibt da diese Bikerclubs, wo sich irgendwelche Spießer am Wochenende als Rocker aufführen, so wie andere in Western City Cowboy und Indianer spielen, oder sich in Mittelalterkostümen zum Affen machen."
"Ja", sagte Reichert, "ein bisschen dekadent und infantil ist unsere Gesellschaft schon." Sein Kollege lachte.
"Da haben Sie wohl Recht. Also, diese 'Biker' erkennt man schon daran, dass bei ihnen auch Kawasaki-, Suzuki- und andere Motorradfahrer mitmachen und natürlich auch ihre Frauen.
Die DragonBrothers dagegen sind Hardcorerocker. Nur Harleys, keine Weiber als Members.
Never. Deshalb haben wir sie auch schon lange im Visier. Wir haben sie gecheckt auf Drogenhandel, Prostitution, Schutzgeld, Inkassoschlägereien, alle Arten von bandenmäßiger Kriminalität – aber nichts. Rein gar nichts.
Es gibt keine Kontakte zu den Angels oder Bandidos, sie haben keine Chapters – also Ableger, und es waren und sind immer konstant 13 Mitglieder; die aktuellen Namen faxe ich Ihnen gleich rüber. Ein paar Ermittlungen sind zwar im Zusammenhang mit Brandstiftungen gelaufen, von denen Geschäftspartner betroffen waren, aber über einen Anfangsverdacht ging das nie hinaus. Also, kurz gesagt, die scheinen etwas seltsam zu sein, aber sauber."
"Seltsam – das ist der richtige Ausdruck", antwortete Reichert.
Er dankte seinem Kollegen, legte auf und lehnte sich in seinen altmodischen, geerbten Schreibtischsessel zurück, den er verbissen gegen den Arbeitsschutzbeauftragten seiner Dienststelle verteidigte.
Er musste nachdenken. Ganz von vorne anfangen.
Die absurde Situation gestern konnte er nicht verstehen. Sein Eindruck dass es sich um so etwas wie eine Sekte handelte, verstärkte sich, je mehr er darüber nachdachte. Der Tote war nicht nur der President einer Rockerbande, sondern vielleicht so etwas wie ein Guru, ein Priester, ein Götzendiener gewesen. Vorstand einer geheimen Bruderschaft, die einen seltsamen Drachenkult praktizierte. Heutzutage gab es doch anbetracht des jämmerlichen Zustandes der etablierten Kirchen genug Ersatzreligionen, von Zen-Voodoo-Gruppen, Mutter-Gaia-Esoterikerzirkeln, über Schamanenversammlungen bis zu sogenannten Neuheiden.
Was hatten sie für ein Motiv? Wer hatte den Mord begangen? Woher kam die Tatwaffe? Warum überhaupt ein Speer? Und: Warum, zum Teufel, warteten sie nach der Tat wie Lämmer auf ihre Verhaftung? Und was hatte ihnen solche Angst eingejagt? War es vielleicht so, dass sie sich im Knast sicherer fühlen würden? Es gab unendlich viele Fragen.
Plötzlich richtete sich Reichert auf.
Verdammt! Was hatte der Kollege gesagt? Es sind immer dreizehn Mitglieder? Mist!
Reichert strapazierte sein Gedächtnis aufs Äußerste, um sich an die Szene der letzten Nacht zu erinnern. Doch immer wieder schob sich das Bild des grässlichen Drachen dazwischen. Wie viele Mitglieder waren in der seltsamen Halle versammelt gewesen? Er schloss die Augen und versuchte, das Bild des Drachen zu verdrängen. Ja, auf der rechten Seite saßen sechs Männer. Da war er sich sicher. Aber links? Er konzentrierte sich noch mehr und sah sie nun so deutlich vor sich, dass er sie zählen konnte. Links waren nur fünf gesessen. Der zwölfte lag draußen vor dem Feuer, festgenagelt auf dem Tisch. Einer fehlte. Das musste der Mörder sein! Die anderen deckten ihn nur!
Er sprang auf. Das konnte doch nicht so einfach sein! Aber warum nicht? Jedenfalls war das fehlende Member ab sofort Tatverdächtiger Nummer eins.
Wo blieb nur das Festnahmeprotokoll?
Reichert wollte gerade aus dem Zimmer und hinunter zum KDD-Revier eilen, als sein Telefon läutete.
"Ciao, bello!" Die Rechtsmedizinerin sprach sofort weiter, ohne auf Reicherts Gruß zu warten: " Hör zu, ich habe die Fotos gestern Nacht noch an einen Freund in Heidelberg gemailt. Der ist Germanistikprofessor und schuldet mir noch was. Und der hat mich eben angerufen. Warte, ich muss schnell den Zettel holen – ja, einmal steht da auf dem Spieß:
Auk trahho tuirk unim buur.
Das heißt etwa: 'Und der Zwergdrache ist besiegt', oder auch: 'Und der Zwerg des Drachen ist besiegt'. Und dann noch so etwas wie IDORIH.
Mein Germanist meint, das bedeutet: 'Mache mich mächtig und reich'. Aber er windet sich natürlich, schwadroniert, dass Runenschrift nicht so leicht zu interpretieren sei, etc., aber hey, das ist doch krass, oder?"
"Na und ob, Doc!"
"Aber das ist noch nicht alles. Ich habe mit der Leiche die ganze Nacht verbracht. So weit ist es mit mir schon gekommen. Da wäre ich lieber mit dir zu deinem schrecklichen Italiener gegangen, aber du hast dich ja verdrückt, ohne ciao zu sagen, du mascalzone.
Aber mein Verdacht hat sich bestätigt, das war ja offensichtlich. Todesursache war der Spieß. Von hinten durch Herz und Lunge - der war tot, bevor er auf den Tisch geknallt ist. So. Und dann, das wird dich besonders freuen: Wir haben auf dem Schaft des Spießes jede Menge eindeutige Fingerabdrücke gefunden!"
"Super!", schrie Reichert. "Du bist die Beste, Doc. Ich habe einen Hauptverdächtigen, und wenn das seine Abdrücke sind, ist der Fall gelöst! Ich brauch jetzt nur noch den Namen, dann setze ich den Kerl fest. Danke dir, ich muss …"
"Una momento, ich hab' noch was. Ihr habt doch so ein Märchen oder eine Sage, euer Nationalepos … dieses Wagnerzeugs …"
"Was meinst du?"
"Also mir ist das so spontan eingefallen, und ich habe mir darauf hin die Tätowierungen genauer angeschaut. Aus den Hautfetzen auf der Lanze und dem Umgebungsgewebe der Eintrittsstelle konnte ich dann ein Symbol zusammensetzen. Ahnst du, was es ist?"
Reichert sank auf seinen Stuhl zurück.
"Ein Blatt", flüsterte er. "Ein Lindenblatt."
"Richtig", bestätigte Doktor Bellini und legte auf.
-V-
"Ein Lindenblatt", sagte Reichert noch einmal vor sich hin. "Die Nibelungensage."
"Wie bitte?"
Reichert sah auf. Vor ihm stand ein Amtsbote und hielt ihm eine Dokumentenmappe hin.
"Ach nichts, danke."
Er nahm die Mappe und verabschiedete sich mit einem Nicken.
In dem Karton war das Festnahmeprotokoll mit den Personalien, auf das er gewartet hatte, und gleich dahinter lag die Liste der Namen, die sein Kollege vom K33 gefaxt hatte.
Er verglich die Daten und schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war doch nur ein gottverdammter Witz!
Wieder verglich er die beiden Listen. Es blieb dabei:
Der Tote hieß Siggi Sigmundson, das wusste er schon, aber der Name der Person, die nicht in der Nacht auf dem Clubgelände gewesen war, lautete laut der Mitgliederliste des K33: Hagen Drongen.
Und Reichert, der sich sehr für Geschichte interessierte, wusste, dass die Literaturwissenschaftler die Stadt Drongen als das Tronje der Sage vermuteten.
Es konnte kaum kitschiger gehen. Sigurd oder Siegfried, Sohn des Sigmund, wird von Hagen von Tronje ermordet. Mit einem Speer durch seine einzige verwundbare Stelle am Rücken!
Vielleicht waren die Namen auch nicht echt, vielleicht waren sie irgendwann einmal gefälscht worden, vielleicht gehörte das zu dieser Sekte so, wie auch Mönche beim Eintritt in gewisse Orden andere Namen annehmen. Egal. So, wie es aussah, war der Tote Opfer eines üblen Ritualmordes geworden.
Reichert hatte keine Zeit, die anderen Namen zu überprüfen, aber vom ersten flüchtigen Überfliegen waren noch Dieterich und Gunnar im Gedächtnis geblieben.
Was ihn jetzt im Moment nur interessierte, war die Adresse des Hauptverdächtigen Hagen Drongen. Und die stand auf der Liste des K 33.
-VI-
Mit Blaulicht raste der Streifenwagen durch die Stadt und bog in Pasing Richtung Aubing ab.
Reichert war erleichtert, als der BMW das Tempo drosselte und über eine enge Verbindungsstrasse das Dorf Richtung Aubinger Lohe verließ. Der Gesuchte hauste angeblich in einer einsamen Hütte neben dem bewaldeten Hügel, der auch als Teufelsberg oder Niederfels bekannt war.
"Wir sind gleich da", sagte der Polizist am Steuer und bog in eine Anliegerstraße ein. "Aber was ist denn da los?"
Reichert blickte zwischen den Vordersitzen durch und sah dunkle Rauchschwaden, blinkende Blaulichter, ein querstehendes Feuerwehrfahrzeug.
Sie hielten knapp davor an und Reichert ging auf den Feuerwehrmann zu, der die Absperrung bewachte.
"Was ist denn passiert?"
"Da vorne ist eine Hütte abgebrannt, und das Feuer ist auf den Wald übergesprungen. Inzwischen haben wir's im Griff. Aber das wisst ihr doch schon, oder? Eure Kollegen haben den Toten doch schon heute Nacht mitgenommen!" Er sah den Streifenwagen genauer an.
"Ach, ihr seids Münchner, die Kollegen waren natürlich aus Fürstenfeldbruck, die sind hier zuständig.
"Wo ist der Chef?", fragte Reichert. Der Feuerwehrmann deutete den Weg entlang.
"Wahrscheinlich vorn bei der Hütte."
Reichert ging los und traf den Einsatzleiter tatsächlich neben der rauchenden Ruine. Er erzählte etwas von Ermittlungsübernahme und ließ sich den ganzen Vorfall schildern.
"Also, wie ich Ihren Kollegen schon gesagt habe, wurden wir gegen 22 Uhr von einem Förster alarmiert und waren nur etwa 10 Minuten später hier, obwohl wir eine freiwillige Feuerwehr sind, aber wir hatten gerade …"
"Ja, ja", sagte Reichert ungeduldig, "und dann?"
"Na ja, die Tür war nach innen eingedrückt, und die Flammen schlugen schon aus dem Dachstuhl. Das ist ja nur eine primitive alte Bude, die brennt wie Zunder. Wir sind mit Atemschutz rein und haben einen Toten gefunden, den rausgezogen, aber da war nichts mehr zu machen. Und dann haben wir mit allen Rohren versucht, das Überspringen auf den Wald zu verhindern. Aber das Haus war nicht zu retten."
"Ja, das sehe ich. Und wie sah der Tote aus?"
"Wie der ausg'schaut hat? Übel hat der ausg'schaut! Die ganze Vorderseite war komplett verkohlt wie, ja … wie von einem Flammenwerfer angeröstet. Grauslig."
Reichert sah wieder das Bild des Drachen aus dem Rockertempel vor sich.
Nein, das war zu viel. Er würde sich nicht zum Narren machen. Sollten sich doch die Fürstenfeldbrucker damit abgeben, und die Bikergruppe war ja sowieso ein Fall für das Rockerdezernat K33. Er war zu alt, um einem phantastischen Hirngespinst nachzujagen und zu jung, um wegen geistiger Dienstunfähigkeit zwangspensioniert zu werden. Nein so eine Scheiße brauchte er nicht.
Er dankte dem Feuerwehrhauptmann und ging zum Streifenwagen zurück. Kurz sah er in das Geäst einer gewaltigen Linde hoch, die das Feuer verschont hatte. Er hatte geglaubt, das Geräusch großer, ledriger Flügel gehört zu haben. Die Nerven.
Sicher aber war, dass er den Abend wieder am Tresen seiner Kneipe verbringen würde. Es gab wieder etwas zu löschen.
Und das war nicht sein Durst.
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Bis nicht gönnen mochten die Brüder
Den Helden zu haben, den hehrsten aller.
Sie mochten nicht ruhen, nicht richten und schlichten
Bis sie Sigurden erschlagen ließen.
Ältere Edda, Gudrunarkvida önnur
Nun kommt der dunkle Drachen geflogen
Die Natter hernieder aus Nidafelsen
Ältere Edda, Wölsupa
©BRieser17612>
Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Rike/pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2012
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