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ZWISCHEN - RAUM




Philipp konnte es einfach nicht fassen. Er hatte es zwar irgendwie schon geahnt, aber doch nicht wahrhaben wollen. Und jetzt musste er mit eigenen Ohren hören: Seine Frau hatte einen anderen.
Er hielt sich den Mund zu und atmete tief und langsam durch. Noch mal. Mann! Er konnte nicht einmal mehr richtig atmen, es war einfach zu viel für ihn. Blind tastete er nach dem Schemel, der immer hinter dem Vorhang gestanden hatte, aber er konnte ihn nicht fühlen. Also blieb er einfach stehen und blickte den Fremden, der ihn hierher gebracht und sich auf der anderen Seite des Zimmers versteckt hatte, hilfesuchend an. Mit einer Kopfbewegung versuchte dieser ihm verständlich zu machen, dass er genug gehört hätte und mit ihm wieder verschwinden solle. Aber Philipp schüttelte störrisch den Kopf. Nein. Jetzt war schon alles egal, jetzt wollte er alles wissen.

Philipps Frau Gitta saß mit ihrer Freundin Marion auf dem Sofa und gluckerte und kicherte wie ein Teenager. Durch den Vorhang sah Philipp die beiden nur schemenhaft, aber es reichte, ihnen zuzuhören.
"… ja, du glaubst es nicht, Marion, so blöd kann nur ein Mann sei, nein, falsch, so blöd kann nur mein Mann sein!" Wieder kicherte sie albern.
"Du musst dir nur vorstellen, wie er um mich herumgeschwänzelt ist und mich auf Händen getragen hat, der Volldepp, all die ganzen Jahre! Er hat Kohle gemacht, und ich hab' sie rausgeworfen. Tja, Marion, tut mir leid, dass du keinen solchen Trottel abbekommen hast, sonst ginge es dir auch so gut, wie mir. Komm, trinken wir auf mich und meinen Melkochsen! Nachher fahre ich zu Alberto; der verwöhnt mich auch, aber ganz anders, hihihi."

Gläser klirrten und Philipp hörte sie schlucken. Er kochte vor Wut und Beschämung und ignorierte die Zeichen des Fremden, der ihn zurückbringen wollte. Trank Marion wirklich mit seiner Frau auf seine Blödheit?

"Weißt du, Marion", sagte Gitta, als sie die Sektkelche wieder abgesetzt hatten, "er ist einfach nur saublöd. Arbeitet wie ein Tier, scheffelt Geld, und wenn er endlich Feierabend hat, muss er seinen Frust mit seinem doofen Motorrad abbauen, sagt er. In der Nacht! Der tickt doch nicht richtig, oder? Der merkt doch gar nicht, dass ich ihm Hörner aufsetze. Der weiß nicht mal, was das ist! Welche Frau würde denn so einen nehmen, wenn er nicht vor Kohle stinken würde?"
"Ich", sagte Marion trocken und stand auf.

"Was? Ach ja?", antwortete Gitta gedehnt und sah mit zusammengekniffenen Augen hoch.
"Ja, ich, du dumme, oberflächliche Gans. Ich habe Philipp schon immer bedauert, dass er auf so eine hohle Nuss wie dich hereingefallen ist. Tut mir leid, aber das musste jetzt mal raus. Und er hat das schließlich auch selbst geschnallt. Wir sind seit einigen Monaten schon zusammen, und Philipp sollte es dir schon lange sagen, aber der Gute wollte dich immer schonen. Jetzt ist es raus. Er wird dich verlassen, glaub mir. Erst recht, wenn ich ihm von Antonio erzähle. Mach's gut, meine Liebe!"

"Marion, Schatz", säuselte Gitta, "du scheinheilige Schlange, glaubst du etwa, ich habe das nicht gewusst?"
"Wie? Du hast davon gewusst?"
"Na logisch. Glaubst du etwa, ich lass mir meinen Lebensstandard von einer dahergelaufenen Schlampe streitig machen? Noch bin ich seine Alleinerbin, hab mich gestern erst beim Notar vergewissert, Liebste, hahaha. Und dabei soll es bleiben, Schätzchen! Weißt du eigentlich, was für einen Beruf ich vor meiner Hochzeit mit diesem Volltrottel hatte?"
"Äh, nein, was spielt das für eine …"

"Ich war Zweiradmechatronikerin. Und zwar eine sehr gute. In der Werkstatt hab ich Philipp ja kennen gelernt und ihn mir gleich geangelt. Geht dir jetzt ein Licht auf, du dummes Hascherl?"
"Wieso? Nein …, ich weiß nicht, worauf du …"

"Ich habe nach allen Regeln der Kunst seine Maschine manipuliert, Schätzchen. Ich kenne seine Hausstrecke genau, weiß minutiös, welche Kurven er wann scharf anschneidet. Das ABS seiner Karre wird im exakt richtigen Moment ausfallen … Moment, wie spät ist es eigentlich? Ah ja, jetzt muss er gerade unten in der Schlucht aufgeschlagen sein. Aua. Das überlebt keiner. Komm, Liebste, lass uns noch etwas trinken. Heute brauchst du nicht auf ihn zu warten!"

Philipp war hinter seinem Vorhang wie gelähmt. Er konnte nicht atmen, nicht schreien, nicht toben. Er stand da wie eine Betonsäule und konnte nicht glauben, was er gehört hatte. Seine Frau betrog ihn nicht nur, sondern trachtete ihm sogar nach dem Leben.

"Du Scheusal!", schrie Marion und schwankte, als würde sie gleich zu Boden stürzen. Vorsichtig ließ sie sich wieder in ihren Sessel sinken, während ihre Freundin sie spöttisch angrinste.
"Weißt du eigentlich, Marionschatz, dass mein Sonnyboy mit mir Schluss machen wollte? Wegen dir. Nein? Ach Gottchen, er war anscheinend doch nicht so feige, wie du geglaubt hast. Er hat mir einen Brief geschrieben. Es mir ins Gesicht zu sagen, dazu war er aber nicht Manns genug. Er hat ihn mir dort auf den Couchtisch gelegt und ist mir seitdem aus dem Weg gegangen. Soll ich ihn dir vorlesen, du Flittchen?"
Marion schüttelte schluchzend den Kopf.

"Weißt du", fuhr Gitta süffisant fort, "ich hätte ihn natürlich zur Rede stellen können, aber das Briefchen war einfach zu … verlockend. Du kannst dir sicher vorstellen, welches Schmalz darin steht. Liebling, es war schön mit Dir, blahblahblah, aber ich liebe jetzt eine andere, blahblahblah, hoffe, dass Du darüber hinweg kommst, blahblahblah – so klingen doch all diese feigen, dämlichen, verlogenen, gottverdammt beschissenen Briefe, nicht wahr?"
Gitta war aufgesprungen und brüllte Marion an, die nur entsetzt zu ihr hochschauen konnte. Doch so schnell der Wutausbruch gekommen war, so schnell verwandelte er sich auch wieder in leise, zynische Bosheit.

"Warum stehst du nicht einfach auf und gehst, Schätzchen? Rennst zu den Bullen und heulst dich da aus? Aber du weißt, dass dir das deinen reichen Lover auch nicht zurückbringen würde, nicht wahr?
Überlegst du gerade, ob du einen Deal mit mir machen kannst, ob ich dir was abgebe vom Erbe, wenn du mich nicht verpfeifst, wenn du ihnen nicht den Tipp gibst, dass der Unfall manipuliert war, wenn du ihnen nicht sagst, dass sie genauer hinsehen sollen? Ist das so? Ja?"

Philipp, noch immer starr vor Entsetzen, wollte jetzt nicht eingreifen. Die Antwort Marions interessierte ihn doch brennend.

"Nein", fuhr Gitta beißend fort, bevor Marion antworten konnte, "das ist nicht der Grund. Aber lass mich noch mal auf den Brief zurückkommen. Weißt du, was er geschrieben hat? Was als Anrede? Er hat geschrieben: Liebling! Er hat mich niemals Liebling genannt, er hat mir alle möglichen Kosenamen gegeben, aber niemals so etwas Banales wie Liebling! Dich, du Schlampe, dich hat er Liebling genannt, nicht wahr? Verstehst du jetzt?"

Sie brüllte wieder und spuckte Speicheltropfen durch den Raum.
"Dieses Arschloch schickt mir die Kündigung und nennt mich Liebling! Verstehst du jetzt, du Miststück, dass dieses falsche Wort euer Todesurteil war? Ja, glotz nicht so dämlich mit deinen blauen Kuhaugen; du hast mich schon verstanden!
Ich sagte euer Todesurteil. Hast du dämliches Schaf wirklich geglaubt, ich plapper aus, wie ich meinen Alten um die Ecke bringe und lass sein Liebchen laufen, damit es mich erpressen kann? Ja? Hast du mich wirklich für so blöd gehalten? Du hast doch vorhin so dämchenhaft das Schnütchen verzogen, als du den Prosecco getrunken hast. Nein, der war nicht vom Aldi und er war auch nicht schlecht, er war nur ein wenig vergiftet.
Sorry, ich bin heute einfach keine gute Gastgeberin.
Du springst nicht auf und läufst weg, weil du mich erpressen willst, nein, du kannst nicht weglaufen, du bist schon zu schwach dazu. So schaut´s aus, mein Fräulein!
Das Gift wirkt schnell und tut überhaupt nicht weh, keine Angst. Nur deine Gesichtsfarbe verfärbt sich schon. Aber 'ne gute Visagistin … humpfhumpf.
Nachher schaffen Antonio und ich dich in deine Wohnung, wir legen dich ganz sanft, versprochen, in die Badewanne, daneben dieses Sektgläschen und das Briefchen, das wunderbare.
Weißt du, meine Liebe, dieser Trottel, der mal mein Mann war, hat als Anrede 'Liebling' benutzt und sonst keinen weiteren Namen.
Blöd geboren und nichts dazugelernt! Aber so passt das Geschreibsel wunderbar wie der berühmte Ar…, du weißt schon. Selbstmord aus verschmähter Liebe und andererseits Unfall aus Unachtsamkeit, hervorgerufen durch verwirrte Gefühle. Das versteht jeder. Tragisch, tragisch! Und jetzt, adieu, meine Liebe, ruhe in …"

In diesen Zeitbruchstücken eskalierte die Situation wie in düsteren, nordischen Sagen, nur im Zeitraffermodus.
Philipp hatte seine Totenstarre überwunden und stürzte ins Zimmer, während ein Schrei wie aus jahrtausende Jahre alten Qualen seine Lippen verlassen wollte. Gleichzeitig hatte Marion die letzten Kräfte mobilisiert und griff mit einer fließenden Armbewegung nach hinten, packte das teure Museumsreplikat einer antiken, griechischen Vase, schleuderte sie in einer vollendeten Acht nach vorne und ließ sie auf Gittas Kopf zerplatzen.

Und es zerplatzte nicht nur die Vase.
Blut, Schädelknochen und Hirnmasse spritzten meterweit und vermischten sich mit auf antik gemachten Scherben.
In dieses Chaos stürzte Philipp, versuchte Marion aufzufangen, doch sie glitt durch ihn hindurch, wie durch Luft. Er starrte fassungslos auf seine Arme und sah nur wabernde Gebilde aus Lichtpünktchen, die sich langsam auflösten. Ohne zu begreifen glotze er erst seine Arme an, dann die beiden reglosen Körper unter ihm und dann den Fremden, der unbemerkt herangetreten war.
"Wie …, was…", stammelte er, "wo bin ich?" Und wäre ein Spiegel im Raum gewesen, hätte er sehen können, dass sein ganzer Körper begonnen hatte, sich in flimmernde Lichtpunkte zu verwandeln, die langsam erloschen.

"Mein Name ist Cháron, der Fährmann", sagte der Fremde. "Und jetzt ist es Zeit, zu gehen. Wo du bist, fragst du? Hm. Man könnte sagen, du bist momentan noch im Zwischenreich. Dein Körper liegt zerschmettert in der Schlucht, aber du selbst, dein Ich, ja, das ist gerade im Subraum, im Transitbereich momentan verschollen, sozusagen. Und gleich wirst du meine Fähre besteigen und hinüber gebracht werden, wohin alle gehen, irgendwann einmal. Ins Reich des Gottes Hades, so wie es war, wie es ist, wie es immer sein wird.
Komm jetzt", fuhr er fort und deutete auf die leblosen Körper der Frauen, "wie du siehst, habe ich noch mehr zu tun."

"Aber, warum … wie…", stotterte der Rest der Körpergestalt, die einmal Philipp gehört hatte.
"Ich weiß, was du fragen willst", sagte Cháron und seufzte.
"Du willst wissen, warum du das gesehen hast, warum du die Umstände deines Todes erfahren musstest.
Erinnerst du dich an deine Griechenlandreise vor 25 Jahren? Von Igoumenitsa über Patras, runter zum Peloponnes. Weißt du noch, der Abend, als du betrunken vom Ouzo wie Alexis Sorbas die Handvoll Drachmen in den Wasserfall des Styx geworfen hast? Und du hast dabei gegrölt, wie der letzte Proletentourist.
Aber damit hast du mir unwissentlich meinen Obolos bezahlt.
Nein, nicht für die Überfahrt, das ist ein Märchen. Weil rüber über den Styx muss jeder, egal ob er bezahlt oder nicht. Nein, du hast mich mit deinen lächerlichen Drachmen bestochen, dir deinen Tod zu erklären.
Homer hat mich als unbestechlich beschrieben, der Narr. Ich bin Grieche, verstehst du? Aber wenn man mich schon besticht, dann liefere ich auch. So ist das.
Aber jetzt haben wir genug geredet, wir müssen los, die Fähre ist fast voll.

Kaló taxidi, o filos mou, gute Reise, mein Freund!"


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Impressum

Texte: BRieser14612
Bildmaterialien: ecko/pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2012

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