"Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft ist nur eine Täuschung,
wenn auch eine hartnäckige."
Albert Einstein
Prolog
Es war einfach sensationell.
Max Burger schenkte sich zur Feier seines Erfolgs ein Glas warmen Söhnlein Brillant ein und verzog nicht einmal das Gesicht, als die Scheußlichkeit seine Kehle passierte.
Seine Aufmerksamkeit war ganz auf den Käfig und dessen Insassen gerichtet.
Karlo, der alte Kater, schlug mit ausgefahrenen Krallen völlig sinnlos auf das Gitter und den Käfigboden ein, sein Fell war wütend gesträubt, furchterregendes Fauchen drang aus seiner Kehle.
Minni, die kleine weiße Maus, tippelte dagegen mal hierhin, mal dorthin, schnüffelte an den Stäben, pinkelte ins Eck und benahm sich so, als wäre ihr Todfeind nicht existent.
-1-
Das Phänomen der Zeit beschäftigt die Menschheit, seit der erste Hominide sich seiner Sterblichkeit bewusst wurde. Mit Zitaten über die Zeit, die allein in den heiligen Büchern stehen - von der Bhagavad Gita, bis zu den Voraussagen der Maya im Dresdner Kodex -, könnte man ganze Bibliotheken füllen. Nur der Verlauf der Zeit zeigt dem Menschen seine Vergänglichkeit und stößt ihn auf das letzte große Mysterium, den eigenen Tod.
Erst die moderne Physik hob die Gedanken, Vorstellungen und Theorien über die Zeit aus den engen Gefängnismauern der Religionen und Philosophieschulen.
Die Zeit war plötzlich berechenbar geworden. Mit Einstein, Feynmann, Broglie, Boltzmann und all den anderen Physikern wurde sie von ihrem linearen Weg ablenkbar. Man konnte sich plötzlich vorstellen, sie zu stauchen, sie zu biegen, ja sie gar umzudrehen. Und darauf stürzten sich dann sofort die Schriftsteller.
Aber war sie dadurch realer geworden? Keineswegs.
-2-
Als Jugendlicher hatte Max Burger Science-Fiction-Geschichten nur so verschlungen, doch dann erkannte er plötzlich, dass sich alle Zeitreisenautoren um technische Details herummogelten. Von Wells über Moorecock bis Brunner und Amery – keiner machte sich die geringste Mühe, wenigstens eine etwas plausible Phantasie zu entwickeln, wie so eine Zeitreisemaschine funktionieren könnte. Und meistens scherten sie sich auch einen Dreck um Probleme wie Zeitparadoxien und physikalische Unmöglichkeiten.
Und die Wissenschaftler, die Kosmologen? Die konnten offenbar noch wilder spekulieren als die Schreiberlinge.
Dunkle Materie, dunkle Energie, Higgs-Bosonen
als 'Gottesteilchen'
– für Burger waren die 'Eierköpfe' keinen Deut weiter als ihre alchemistischen Kollegen im Mittelalter.
Deshalb hatte Burger sich nach anfänglichen Studien von der Physik abgewandt, war zur Juristerei übergelaufen und führte fortan das unspektakuläre Dasein eines Fiskalbeamten. Doch der Gedanke an das Geheimnis der Zeit war ihm trotzdem nie aus dem Kopf gegangen, im Gegenteil, je älter er wurde, je näher er dem Alter kam, desto dringender wurde sein Wunsch, das Geheimnis zu ergründen.
Er wollte nicht so weiterleben, stumpfsinnig jeden Tag Formulare bearbeiten, allein vor der Glotze sitzen und einmal im Jahr eine Pauschalreise mit dem Bus unternehmen, zusammen mit alten Leuten, die er nicht kannte, in eine Stadt, die ihn nicht interessierte.
Er hatte keine Kinder, und seit seine Frau vor Jahren ausgezogen war, lebte er ziemlich stumpfsinnig vor sich hin. Da er sich außer für seine Zeit-Obsession für kaum etwas anderes interessierte, war auch die Zahl seiner Freunde und Bekannten bei Null.
Ja
, dachte er manchmal, wenn er nach der 2. Flasche Söhnlein Brillant vor sich hinsinnierte, eine Zeitmaschine wäre die Lösung. Ich könnte eine Bank überfallen und unerreichbar in meine Zeit zurückkehren, ich könnte mir die Lottozahlen der nächsten Woche anschauen und schlagartig reich werden, mir einen Maserati kaufen, auf die Malediven jetten, Frauen an jedem Finger haben, weil Geld ja sexy macht und
… Jedes Mal schlief er dann ein und erwachte wieder in seiner freudlosen Welt.
-3-
Eines Abends, als er wieder einmal eine unsägliche Sendung über das Zeitphänomen mit dem noch unsäglicheren Eimann Abdullah
im Privatfernsehen über sich ergehen ließ, überfiel es ihn wie ein Fieber. Er hatte die Lösung plötzlich im Kopf! Unglaublich bei einer so niveaulosen, unfundierten Schmonzette - aber es war so!
Das ganze Problem der Kosmologen wäre mit der Revision einer einzigen Annahme zu lösen, sie müssten keine so unsäglichen Klimmzüge wie die Erfindung von ominösen Teilchen mehr an den Haaren herbeiziehen, um ihre maroden Welttheorien am Leben zu erhalten und den finanziellen Strom von Steuergeldern in ihre Institute zu lenken. Nur einen einzigen Götzen müssten sie vom Sockel stoßen, nur ein einziges Dogma kippen, und ihr grauenhaft versumpftes Weltbild aus gekrümmten Räumen, verbogenen Zeiten, Dunklen Energien und Seltsamen Materien, aus Higgs-Bosonen und anderen Gedankenkrücken, die sie nie würden nachweisen können, würde einer einfachen, klaren, ja göttlichen Erkenntnis des Universums weichen.
Dieses Dogma war eine Naturkonstante: die Lichtgeschwindigkeit.
Wenn man sie statt Konstante als Variable in die entsetzlichen kosmologischen Formeln einsetzen würde, würden sich die kryptischen Scheußlichkeiten einfach herauskürzen und eine klare, einfache, wunderschöne Weltansicht stehen bleiben.
Er konnte nicht fassen, dass noch niemand auf diesen Gedanken gekommen war.
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Hals über Kopf warf Burger seinen Job hin, kratzte seine kläglichen Ersparnisse zusammen, verschwand für Monate im Keller seines Mietdoppelhäuschens und baute seine Zeitmaschine.
Die Berechnungen waren durch die neue Erkenntnis so einfach, dass er sie sogar mit seiner rudimentären Physikausbildung schaffte. Kernstück war die Generierung eines elektrischen Feldes, das von einem magnetischen durchdrungen wurde und zwar im Gegensatz zu bekannten Schwingkreisen nicht verschoben, sondern zeitgleich.
Und diese Konstruktion rettete gerade die weiße Maus Minni vor Karlos Angriffen.
Denn Minni hielt sich in der Zukunft auf. 2 Minuten vor der Zeit Karlos. Und damit befand sie sich in einer Parallelwelt, die mit der Karlos nichts zu tun hatte.
Burger stellte sein Glas ab, ging wieder in die Hocke und beobachtete den Kater, der am Überschnappen war. Durch die Käfiggitterstäbe schob er ein kleines Käsestück vor Minnis Schnauze, das sie aber entgegen ihrer Gewohnheit völlig ignorierte.
Klar, Minni ist ja in der Zukunft! Aber – warum kann ich den Käse vor ihre Schnauze schieben, sehe also, wo sie in diesem Moment ist und der blöde Karlo nicht? Und warum sieht Minni Karlo offenbar gar nicht, nicht einmal zeitversetzt?
Langsam bekam Burger Kopfschmerzen, wie so oft, wenn er über das Zeitproblem nachdachte. Ein bekanntes Paradoxon hatte er schon gelöst. Was passiert, wenn jemand eine Zeitmaschine baut, in die Vergangenheit fährt und seine Mutter ermordet, bevor sie schwanger wird? Dann wird auch er selbst nicht geboren und kann nicht ihr Mörder sein, oder?
Die Antwort war durch seine neuen Erkenntnisse stinkeinfach geworden: Es gibt keine Reisen in die Vergangenheit, weil es keine Wurmlöcher gibt, keinen Zeitraumschaum und keine anderen physikalischen Phantastereien, sondern nur vorwärts, in die Zukunft! Alles andere ist Schriftsteller-bullshit!
Burgers Kopfschmerzen verstärkten sich so, dass er kaum noch klar sehen konnte. Er beschloss, das Experiment abzubrechen, öffnete den Käfigdeckel, wollte Karlo packen und griff – ins Leere. Und jetzt sah er wieder klar.
Ja logisch! Karlo befindet sich ebenso in der Zukunft, wie die Maus. Aber nicht so weit voraus. Denn e=mc². Energie ist Masse mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit – variabel oder konstant, das ist egal. Aber Karlo hat eine größere Masse als Minni!
Burger schaltete den Timegenerator ab und schnappte Karlo im letzten Moment, bevor seine krallenbewehrte Pfote die jetzt sehr real panisch reagierende Maus erwischen konnte.
Burger jubelte. Sein Experimentum crucis
war gelungen, die Tiere hatten überlebt.
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Was hatte er zu verlieren? Nichts, außer Zeit.
Burger beschloss, sofort Nägel mit Köpfen zu machen. Er wollte sich umgehend selbst auf die Reise begeben, zuerst nur mal probehalber.
Aber der Käfig war natürlich zu klein für ihn. Er schraubte die Kondensatorplatten des Timegenerators ab und verband das Verbindungskabel der einen einfach mit der Wasserleitung. Damit war praktisch die gesamte Erdoberfläche zu einer gigantischen Kondensatorplatte geworden, genau wie bei einem einfachen Amateurfunksender. Er wollte sich ja schließlich in der Welt der Zukunft frei bewegen können. Aus den Urzeiten des analogen, terrestrischen Fernsehens befand sich noch eine Antenne auf dem Dach, mit deren Anschluss er die Leitung der zweiten Kondensatorplatte verband. Durch Reflexion an der Ionosphäre würde er die Grenzen des Katzen-Mäuse-Käfigs auf die gesamte Erde zwischen Oberfläche und Ionosphäre ausdehnen können. Perfekt! Ich bin wirklich ein Genie!
dachte er.
Mit einem Kabel verlängerte er Karlos Transpondergürtel, schnallte ihn sich selbst um die Hüfte und übertrug damit seine persönlichen Molekularstrukturdaten auf den Timegenerator. Dann gab er als Anfangs - und Zielposition seinen Keller ein, stellte die Startzeit auf 5 Sekunden, holte tief Luft, schloss die Augen und drückte auf den Schalter.
5-4-3-2-1-go.
-6-
"Sie sind also in den Keller gekommen, weil die Sicherung ausgefallen ist?", fragte Hauptkommissar Rudolf Reichert die erstaunlich gefasst wirkende alte Dame.
"Jajaja, wissen's, Herr Wachtmeister, der Herr Burger wohnt ja schon so lange hier allein. Ich seh den fast nie. Das Doppelhäuschen hier hat noch mein Mann gebaut, als er damals beim Siemens…"
"Also Sie sind die Vermieterin und wohnen nebenan?", unterbrach sie Reichert.
"Jajaja, nebenan, ach schon so lange, seit mein Mann beim Siem…"
"Warum sind Sie dann einfach hier rüber gekommen?"
"Ja weil der Strom weg war."
"Wo, hier bei Herrn Burger?", fragte Reichert, langsam ungeduldig werdend.
"Jajaja, bei Herrn Burger. Wissen's, Herr Wachtmeister, mein Mann – jetzt lassen's mich doch mal ausreden, bittschön -, also der Fritz, mein Mann, war immer sparsam gewesen. Deshalb hat er damals, als er noch beim Siemens war, also damals hat er nur eine Sicherung für beide Häuser einbauen lassen. Dort unten im Keller. Und deshalb hab ich's ja gemerkt. Und weil der Herr Burger nicht aufg'macht hat, hab ich meinen Zweitschlüssel genommen und ihn dann da drin gefunden. Furchtbar, furchtbar!"
Der Hauptkommissar nickte seiner uniformierten Kollegin zu, die die alte Dame in ihr eigenes Haus begleitete.
Reichert ging in den Keller zurück, öffnete die Tür zur Werkstatt und fragte: "Na, Doc, hast du schon was?"
Die Rechtsmedizinerin Miranda Bellini richtete sich auf, schnalzte die Handschuhe ab und schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich, Reichert. Ich meine, ich weiß nicht, was es da mit diesem ganzen zusammengebastelten Elektrochaos auf sich hat, aber mit dem Tod des Mannes hat es sicher nichts zu tun. Der sieht so völlig dehydriert aus, als hätte er mindestens eine Woche lang nichts getrunken. Ich glaube, der ist irgendwie verdurstet. Aber, und das ist ebenso seltsam, er zeigt keinerlei Zeichen von Verwesung, so, als wäre das gerade vor ein paar Minuten passiert. Ich kann mir das nicht erklären, ehrlich gesagt."
Epilog
Wie hätte sie auch?
Doktor Bellini konnte ja nicht ahnen, was Burger getan und welchen Fehler er dabei gemacht hatte.
Er hatte nicht bedacht, dass über den Transponder nur seine eigenen Molekularstrukturen und die der umgebenden Luft im Timegenerator gespeichert waren, aber nicht die des Restes dieser Erde. Und deshalb war für ihn dieser Rest nicht real – ebenso wenig, wie er für Karlo real gewesen war. Er sah die Welt zwar, aber konnte sie buchstäblich nicht begreifen
. Seine Hände gingen durch alles hindurch, Hausmauern waren ebenso wenig real für ihn, wie etwas so Profanes wie eine Wasserflasche. Die Mauern der Zeit waren – nur Trugbilder.
Und er hatte einen zweiten, entscheidenden Fehler gemacht:
Er hatte im Timer zwar die Startzeit eingegeben, aber vergessen, die Endzeit zu programmieren. Erst der Stromausfall Wochen später hatte die Uhr auf Null gesetzt.
Zu spät.
©BRieser8112
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2012
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