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Das Ende eines Hammels ist der Anfang eines Gyros




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Georgios Karamanlis sah nicht wirklich friedlich aus. Zwar lag er scheinbar entspannt in der Badewanne, aber sein Gesicht war schmerzverzerrt. Die gebrochenen Augen starrten zur Decke hoch, die rechte Hand war auf die linke Brustseite gepresst. Daher war es nicht verwunderlich, dass Sina Waller, seine Sekretärin, erst einmal lange und laut gekreischt hatte, bevor sie das in Gang setzte, was immer in Gang gesetzt wird, wenn so etwas passiert: Notarzt, Polizei etc.

Kurz vor Mitternacht standen Hauptkommissar Reichert und Dr. Miranda Bellini vom Institut für Rechtsmedizin im Bad von Georgios Karamanlis.
"Was meinst du, Doc", sagte der Kriminalbeamte, "ist es das, wonach es aussieht?"
"Du meinst, dass der Tote ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hatte – was hätte sie sonst um diese Zeit in seinem Bad zu suchen gehabt?"
"Auch, ja, aber ich meine das da:" Er deutete auf einen Föhn, der im Wasser neben dem linken Fuß der Leiche lag. Das Kabel steckte nicht in der Dose. Der Notarzt hatte es herausgezogen, bevor er den Tod des Mannes feststellte. Die Medizinerin sah Reichert tadelnd an.
"Ich weiß, was du denkst. Du meinst, der Typ ist an einem Stromschlag gestorben, nicht wahr? Aber mittlerweile solltest du wissen, mein lieber Reichert, dass das nicht wahrscheinlich ist. U ist R mal I. URI. Das Ohmsche Gesetz. Und dann noch die Kirchhoffschen Regeln."
"Aha", antwortete Reichert und trat näher zur Badewanne. "Soll heißen?"
"Wenn das Föhngehäuse einen Defekt hätte oder aus Metall wäre und sich im Inneren die Phase gelöst und einen Kontakt nach außen gebildet hätte, was eine fifty-fifty-Wahrscheinlichkeit im Vergleich zum Nullleiter wäre, und wenn der Tote diesen so defekten Föhn im Wasser sitzend in die Hand genommen hätte …"
"Phase, Nulleiter, hätte, wäre, könnte – warum sollte das nicht so gewesen sein? Du hast den Föhn doch noch nicht untersucht?"
"Weil, mein lieber Reichert", antwortete Miranda Bellini gedehnt, "noch zwei weitere Fakten dagegen sprechen. Erstens liegt der Föhn, wie du siehst, neben seinen Füßen. Er wird ihn wohl nicht mit den Zehen gehalten haben."
"Also doch kein Unfall, Doc, ich wusste es! Jemand hat den Föhn ins Wasser geworfen!"
"Ach Reichert, ich weiß, das ist der typische Mordfall in schlechten Krimis. Genauso klischeehaft und falsch, wie meine Kollegen im Film immer als Pathologen bezeichnet werden. Ich hab's dir vorhin schon gesagt: Elektrotechnische Gesetze sprechen dagegen. Der Strom sucht immer den Weg des geringsten Widerstandes. Und der führt direkt vom Föhn zum Abfluss und damit zur Hauserdung. Er wird einen Teufel tun und erst über einen Meter zur Brust des Toten fließen, dann über den relativ hohen Hautwiderstand in den Körper eindringen, das Herz lahm legen, durch die Beine wieder austreten um dann endlich im Abflussrohr zu verschwinden. Strom ist faul.
Und zweitens -", sie hob die Hand, um einen Einwand Reicherts zu unterdrücken, "und zweitens hat ein Bad in so einem Luxusapartment sicher den vorgeschriebenen F-I." Als sie Reicherts fragende Miene bemerkte erklärte sie: "Fehlerstromschutzschalter. Das ist eine Sicherung, die sofort abschaltet, wenn der Strom einen anderen Weg nimmt, als vorgesehen. Ach, Herr Kollege?"
Sie wandte sich dem Notarzt zu, der gerade die letzten Sachen in seinen Koffer packte.
"Hat das Licht im Bad gebrannt, als Sie hier eingetroffen sind?"
"Nein", antwortete der Arzt. "Die Tür war zwar weit auf, aber die Sicherung war heraus. Wir haben den Föhn entdeckt, den Stecker rausgezogen und dann die Sicherung wieder eingeschaltet, damit wir mehr sehen konnten. War das falsch?"
"Nein, nein Kollege", sagte Dr. Bellini und wandte sich wieder Reichert zu. "Siehst du, ich hab's doch gesagt!"

"Okay, okay, Doc. An was ist er aber dann gestorben?" Die Rechtsmedizinerin kniete sich vor die Wanne, zog Handschuhe über und nahm den Arm des Toten.
"Also der rigor mortis, die Totenstarre, scheint sich gerade zu lösen. Das Wasser ist schon kalt, ich schätze mal, er ist gestern so etwa zwischen vier und zehn Uhr morgens gestorben. Offensichtliche Verletzungen sehe ich keine. Seine Lage, die Hand auf der Brust, das Gesicht – ich tippe auf einen Infarkt. Entweder jemand hat ihn umgebracht und versucht, einen Unfall vorzutäuschen, oder, was viel wahrscheinlicher ist: Der Föhn ist am Beckenrand gelegen, irgendwie ins Wasser gerutscht, und der Mann ist vor Schreck gestorben."
"Alles Nähere, wenn die KTU fertig ist, wenn du ihn auf deinem Tisch gehabt hast, alles braucht seine Zeit, blahblahblah, ich weiß, Doc. Dann mach mal hinne!"
Miranda Bellini schaute ihn vernichtend an und scheuchte ihn wortlos aus dem Bad.


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Freddy Kachinsky erwachte von einem metallischen Hämmern, das ihm furchtbare Schmerzen bereitete. Erst nach einem Moment bemerkte er, dass das Hämmern direkt in seinem Kopf war. Er schlug die Augen auf und sah – nichts. Verflucht, bin ich blind geworden? Er versuchte sich aufzurichten, prallte aber mit dem Kopf so gegen ein Hindernis, dass er trotz der Schwärze helle Funken blitzen sah. Panisch schlug er um sich und löste damit ein teuflisches Chaos aus. Stöcke schlugen auf ihn ein, harte Gegenstände fielen auf ihn herab, ein Höllengetöse quälte seine Ohren; schließlich bekam er etwas Weiches, Nasses zu fassen und drückte zu. Kalte Flüssigkeit rann in seinen Ärmel und bewirkte plötzlich, dass er wieder klar denken konnte. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, wo er war. In der Besenkammer des Restaurants 'Drei Musketiere'.
Er erhob sich ganz vorsichtig um nicht wieder wo anzustoßen, verursachte dennoch ein erneutes lautes Scheppern, aber jetzt wusste er wenigstens, woher es kam. Blind tastete er herum, fand endlich den Lichtschalter und zuckte zusammen, als das grelle Neonlicht flackernd zum Leben erwachte. Mannomann, mein Schädel!


Er befühlte seinen Kopf und betrachtete das Chaos aus Eimern, Schrubbern und Besen um sich. Angeekelt schleuderte er den Putzlappen, den er immer noch würgte, von sich und versuchte nachzudenken. Aber was war nur mit seinen Augen los? Er sah völlig unklar und verschwommen, und sein Gesicht fühlte sich an, wie in einen Schraubstock gespannt. Oh du heilige Scheiße, was bin ich nur für ein Idiot!
Er hakte den Daumen unter dem Kinn ein und schob den Nylonstrumpf vom Gesicht zur Stirn hoch.

Ja, Freddy Kachinsky war wirklich ein Idiot. Ein Kleinganove, der immer auf der Flucht war. Vor allen auf der Flucht vor geregelter Arbeit. Er war kein harter Bursche – seine Karriere hatte sich bisher auf Taschendiebstähle, kleine Einbrüche, Zuhälterei (wobei ihn seine Pferdchen regelmäßig übers Ohr hauten) und Betrügereien beschränkt und war mehrfach durch diverse Kurzaufenthalte in den Justizvollzugsanstalten Stadelheim oder Straubing unterbrochen worden. Natürlich träumte er wie jeder kleine Gauner von dem 'Großen Ding', wusste aber auch gleichzeitig, dass das nichts für ihn war. Er hatte immer Pech. Einmal wollte er eine Bank überfallen, aber schon vor dem Eingang hatte sich der Dackel einer alten Dame in sein Hosenbein verbissen, und als er ihn wegtreten wollte, schlug die Lady mit ihrem Schirm auf ihn ein, worauf er sein Heil in der Flucht suchte. Ein anderes Mal kaufte er dem kleinen Mädchen, das er aus einer Grünwalder Villa entführt hatte ein Eis und fuhr es nach Hause, als er feststellte, dass es nur türkisch sprach und offensichtlich nicht die Tochter des reichen Bonzen, sondern vermutlich des Gärtners war. Solche Sachen hatten auch zu seinem Spitznamen 'Freddy, der Idiot' geführt. Nein, große Dinger waren nicht seine Sache.
Aber der letzte Job, den er ausbaldowert hatte, sollte perfekt verlaufen.

Das 'Drei Musketiere' war ein Restaurant mit Bar, in dem zwar keine Edelpromis und Adabeis verkehrten, aber doch geldige Neureiche.
Von einem Spezi, der dort als Barkeeper gearbeitet hatte, wusste er, dass am Samstag die Einnahmen besonders hoch waren. Er hatte ihm auch erzählt, dass nach den letzten Gästen der Chef immer seine Crew in der Küche versammle und mit ihr ein paar Gläschen kippe. Das solle den Teamgeist stärken. Erst danach packe er die Tageseinnahmen aus der Kasse in eine Geldbombe und brächte sie in Begleitung von zwei Kellnern zum Einwurffach der Bank nebenan. Und als zufällig das Gespräch mit seinem Freund auf Boris 'Bobbele' Becker kam, erfuhr er, dass auch das 'Drei Musketiere' eine Besenkammer neben dem Klo hatte.
Es dauerte bei Freddy zwar eine Weile, aber dann war sein perfekter Plan gereift. Er würde sich in Schale werfen, im 'Drei Musketiere' fein speisen, ein paar Drinks nehmen, dann zahlen – ja, das hatte er sich wirklich vorgenommen –, nochmals aufs Klo gehen und sich in einem unbemerkten Moment in der Besenkammer verstecken. Dort wollte er warten, bis die Gäste gegangen waren und das Personal sich in der Küche versammelt hatte, dann rausschleichen, die Kasse leerräumen und verduften. Das Restaurant hatte eines dieser primitiven Schlösser, die man von innen nur mit einem Drehriegel verschließt. Amerikanischer Scheiß hatte er grinsend gedacht, als er das bei einem Testessen bemerkte.

Doch er wäre nicht Freddy, der Idiot gewesen, wenn er sich an seinen Plan gehalten hätte. Natürlich hatte er nicht

bezahlt, war in einem unbeobachteten Moment zur Toilette gegangen und versteckte sich dann in der Besenkammer. Dass der Kellner nach ihm suchen könnte und vielleicht die Polizei holen würde, hatte er nicht bedacht. Aber auch Idioten haben manchmal Glück. Nichts dergleichen war passiert.
Aber Freddy, der Idiot, hatte einen zweiten Fehler gemacht.
Als er an der Bar vorbei zur Toilette ging, grabschte er sich eine Flasche Lophroaig Single Islay Malt, die ihm seine Wartezeit versüßen sollte. Was er nicht wusste war, dass Laphroaig nicht nur wie Intensivstation riecht, sondern auch so wirkt.
Lange würde es nicht dauern, bis das Restaurant schloss, also hielt er sich kräftig an den Flascheninhalt. Man soll ja nichts verkommen lassen …
Als der Whisky leer war erhob er sich vorsichtig von seinem Putzeimer und sah auf die Uhr. Ja, die Zeit passte. Er legte sein Ohr an die Tür, um zu lauschen. Das Gemurmel des üblichen Restaurantbetriebes war verstummt; nur von weit her hörte er leises Gelächter. Es schien aus der Küche zu kommen. Perfekt!
Freddy zog den alten Nylonstrumpf, den er seiner Mutter geklaut hatte, aus der Tasche und stülpte ihn übers Gesicht. Man kann ja nie wissen! Dann löschte er das Licht und wollte die Tür öffnen.
Aber die plötzliche Dunkelheit und der damit verbundene Horizontverlust ließen die heimtückische Wirkung des Laphroaig voll zur Wirkung kommen. Freddy taumelte, drehte sich einmal um seine Achse und war schon im Nirwana, als er wie ein Mehlsack auf dem Boden landete.


- 3 –




Hauptkommissar Reichert warf den Hörer zurück aufs Telefon und machte ein Geräusch, das sich wie das Markenzeichen des fränkischen Kabarettisten Matthias Egersdörfer anhörte:
"Mbffwuäähh?"
"Was'n los, Rudolf?", fragte sein Kollege Simmerson und sah zu ihm rüber.
"Das Ministerium war dran. Abteilung ID."
"Staatsschutz?"
"Exakt. Und weißt du, was die wollen? Wir sollen einen Autodieb ermitteln. Geht's noch? Wir sind die Mordkommission, oder? Sind die jetzt völlig bescheuert geworden? Erst hat dieser Dingsbums, Söder oder wie der heißt, gemeint, dass wir ja viele Ganoven kennen würden, Informanten und so, und dann hat er noch auf absolute Geheimhaltung gepocht. Jedenfalls will er gleich ein Foto schicken. Mann. Der soll mich doch … Aber lass' uns mal mit dem Selbstmord weitermachen."
"Okay", sagte Alban Simmerson. "Also, dieser Georgios Karamanlis ist griechischer Staatsbürger, Mitinhaber der Firma Ellada Shipping Inc. mit Sitz in Athen und Zweigstelle in München. Ich habe bei den Kollegen von der Wirtschaft nachgefragt, aber denen liegt nichts Negatives vor, außer, dass die Firma schon zweimal geprüft wurde, weil sie praktisch keine Steuern zahlt. Aber man kann ihnen nichts anhängen. Griechen eben."
"Vorsicht, Alban", sagte Reichert und lachte. "Die zahlen ihre Steuern bestimmt brav in Griechenland. Aber wir …" Er unterbrach sich, weil es an der Tür geklopft hatte. Auf seinen Zuruf hin betrat ein Amtsbote das Büro, übergab einen versiegelten Umschlag und verschwand wieder, ohne sich den Empfang quittieren zu lassen. Reichert blickte verwirrt auf das absenderlose Kuvert, riss es dann kurzentschlossen auf und entnahm ein Schreiben mit dem unübersehbaren Vertraulich-Stempel, dem ein Foto angeheftet war.
"Das gibt’s doch nicht! Seit wann arbeitet das Ministerium so schnell?" Er winkte Simmerson heran, und gemeinsam betrachteten sie das Foto. Es war ein vorsintflutlich erscheinendes Polaroidbild aus einer der letzten Ampelkameras der Stadt, die noch mit solchen Filmen bestückt wurden. Doch die Aufnahme war erstaunlich scharf. "Den kennst du doch auch, oder?"
"Klar", antwortete Simmerson, "Freddy, der Idiot! Aber was hat der auf dem Kopf? Sieht aus wie ein Strumpf! Ich trau ihm zu, dass er vergessen hat, den beim Autoklauen übers Gesicht zu ziehen. Nomen est Omen. Aber ich check erst einmal das Kennzeichen."
Kurze Zeit später war er wieder zurück.
"Also, Rudolf. Das ist ein Audi A8 W12 , eine Granate. Den hat der idiotische Freddy niemals selbst geknackt. Aber der Hammer kommt erst jetzt, Rudolf. Täterä!"
"Red' schon, Alban!"
"Also, zugelassen ist die Karre als Geschäftswagen der Firma Ellada Shipping Inc. Ist das eine Neuigkeit?"
"Ja pfüa di Gott! Und wo ist das Ding geklaut worden?" Er holte sich das Anschreiben aus dem Ablagestapel, studierte es und schüttelte den Kopf. "Das gibt’s doch nicht. Die wollen, dass wir einen Diebstahl klären und schreiben nicht einmal, wo das Auto gestohlen wurde. Die wollen nur den Dieb und das Fahrzeug haben! Schau noch mal, wo die Blitzampel steht, Alban."
Simmerson nahm das Foto und sagte dann: "Goethestrasse, vor dem Hauptbahnhof. Ja, Mann, das ist ganz in der Nähe, wo unser Grieche das Zeitliche gesegnet hat!"
"Das stinkt", sagte Reichert, "das stinkt gewaltig!"


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Scheiße, Scheiße, Scheiße, ich hab's wieder mal vermasselt! Gleich holen sie mich hier raus, dann bin ich wieder in Stadelheim, wenn nur das verdammte Hämmern in meinem Kopf …

Doch es passierte nichts. Freddy kam endlich auf die Idee, nach der Zeit zu sehen. Es war sechs Uhr morgens. Jesusmariaundjosef!

Er hatte fünf Stunden im Laphroaig-Koma verbracht! Gegen zehn kommt die Putzfrau, also nichts wie raus!


Vorsichtig öffnete er die Besenkammertür, schlüpfte hinaus, würdigte der Kasse keinen Blick, da sie sowieso leer sein würde und huschte etwas schwankend zur Tür. Draußen war keiner zu sehen, also Knebel drehen, Tür auf, raus, Tür zu. Er ging sofort auf dem Bürgersteig einige Schritte rechts und atmete dann erst einmal tief durch. Verfluchte, verfickte, verdammte, vermaledeite, beschissene Hühnerscheiße!

Wütend trat er gegen die Tür eines schwarzen Audi A 8, der provokant am Straßenrand parkte. Ein leises Geräusch ließ ihn stutzen. Er hörte es trotz des Hämmerns in seinem Kopf. Nein, es war nicht das traktorartige Tuckern eines Dieselmotors, sondern das flüsterleise Schnurren eines Zwölfzylinders. Die Karre lief! Freddy sah sich hektisch um wie ein Wiesel auf der Jagd. Nichts zu sehen. Weit weg schlurften ein paar Typen mit gesenkten Köpfen zur Arbeit so abwesend vor sich hin, dass sie wahrscheinlich den Jüngsten Tag verpassen würden. Die Bordelle, Clubs, türkische Obstbuden und Elektronikramschläden an der Strasse waren noch geschlossen, der Wind trieb Plastikmüll vor sich her, von ferne war das Kreischen einer Tram zu hören. Was für eine jämmerliche Gegend!

Freddy war plötzlich hellwach. Das war seine Chance. Die Kiste würde mehr bringen, als die Kasse des 'Drei Musketiere'. Viel mehr. Als er um den Audi herumlief, hörte er ein Geräusch am Eingang des Hauses, vor dem der Wagen geparkt war. Egal!

Er riss die Tür auf, sprang auf den Sitz, schob den Fahrhebel nach vorn und gab Gummi. Im Rückspiegel sah er noch drei Typen auf die Strasse springen, einer zerrte gerade eine böse aussehende, großkalibrige Knarre aus der Jacke, aber dann schoben schon 450 PS seine Fuhre quietschend und schlingernd an die Ecke Landwehr-Goethestrasse und katapultierten sie bei Rot über die Schwanthaler Strasse. Das Blitzlicht der Überwachungskamera brachte Freddy wieder zur Besinnung. Er nahm den Fuß vom Gas und bog mit immer noch quietschenden Reifen vor dem Bahnhof in die Bayerstrasse ein. Puh!

Erleichtert fuhr er sich übers Gesicht. Zum Glück hatte er bei der Blitzampel noch den Strumpf seiner Mutter übergezogen. Oh! Er wischte noch mal übers Gesicht. Oh nein! Ich habe den Strumpf ja irgendwann hochgeschoben! Verfluchte, verfickte, verdammte, vermaledeite, beschissene Hühnerscheiße!

Wütend schlug er aufs Lenkrad ein und gab wieder Gas.

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"Pronto!" Auch nach 30 Jahren in München konnte Dr. Miranda Bellini ihre Wurzeln nicht verleugnen.
"Ich bin's, Doc. Reichert. Hast du schon was über den Selbstmord?"
"Si, oder besser no. Keine Drogen, Schlafmittel, keine Verletzungen, evt. ein paar Druckstellen an den Armen, aber uneindeutig. Wenn man so lang im Wasser liegt … Ich habe eine leichte Ischämie an einem Herzkranzgefäss gefunden, aber keinen Thrombus, keinen Verschluss, kaum Plaques, keinen richtigen Infarkt. Aber er kann an einem Kammerflimmern gestorben sein. Ich bin ratlos. Das einzig Sonderbare ist eine Art Verbrennung am Hals. Hast du den KTU-Bericht schon?"
"Die haben auch nichts Besonderes gefunden, sind aber noch bei der Auswertung. Das Einzige ist eine Flasche Kältespray ohne Fingerabdrücke im Korb für den Werbungsmüll im Hausgang. K 75, das nimmt man zur Fehlersuche in der Elektronik. Da kann man Bauteile bis minus 55 Grad abkühlen. Aber das wird uns nicht weiterbringen, Doc."
"Kältespray sagst du, Reichert? Entschuldige, ich ruf dich wieder an!"
Reichert sah verdutzt den Hörer an und legte auf.

"Auf geht’s, Alban, lass uns inzwischen den Freddy holen!"
"Du meinst, er ist daheim?"
"Na ja, wie ist gleich noch mal sein Spitzname?"
"Und warum überlassen wir das nicht der Streife?"
"Alban, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass unser Freund so gewaltig in der Scheiße steckt, wie noch nie. Und ich will ihn nicht als Fall unserer Mordkommission haben. Schau, ich hab's vorhin schon gesagt, die Sache stinkt zum Himmel! Und jetzt los, ich erkläre es dir unterwegs."
Sie rannten zu ihrem zivilen Dienst-BMW, der in Hof des Präsidiums in der Ettstrasse stand und fuhren mit Blaulicht Richtung Pasing.
"Also, Rudolf, warum?"
"Ja, erstens blitzt die Ampel unseren Freund in der Nähe des Auffindungsortes der Leiche. Zweitens ist das Auto ein Geschäftswagen der Firma der Leiche.
Drittens: Wie oft wird wohl der Film einer solchen Uraltkamera gewechselt? Einmal pro Woche, einmal pro Monat? Aber wir bekommen das Bild quasi sofort. Ohne Quittung, ohne Dienstvorgang, streng geheim. Wir, die Mordkommission! Und das nicht von der Verkehrsüberwachung, sondern von einem Typen, der beim Staatsschutz arbeitet! Und Doc Bellini hat vorhin so seltsam reagiert, als ich ihr das von der Kältespraydose erzählt habe. Ich kenne sie gut genug, ich glaube, ihr ist etwas eingefallen."
"Du glaubst also, Karamanlis ist ermordet worden und Freddy …", Simmerson zögerte kurz, "… und Freddy hat das Auto der Mörder geklaut?"
"Bingo!"


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Alban Simmerson schaltete das Blaulicht aus und nahm die Lampe vom Dach des Zivil-BMWs. Dann spurtete er Reichert hinterher, die Treppe hoch. Er fand seinen Chef mit erhobener Faust vor einer vergammelten Wohnungstür beim Studium eines Zettels.
"Da steht: Tür ist offen, bitte nicht einschlagen! Typisch Freddy. Wahrscheinlich ist ihm das ständige Schlösserwechseln zu teuer!" Reichert packte die Klinke und trat ein, wobei er Simmersons Hand, der seine Dienstwaffe gezogen hatte, nach unten drückte.
"Freddy!"
Eine Tür flog auf. Der kleine Gauner ließ das Messer sinken, als er die Kommissare erkannte.
"Mist", sagte er. "Warum seid ihr jetzt schon da?"
"Tja, Freddy, c'est la vie!" Reichert schob ihn zur Seite und betrat die Schlafabstellrumpelkammer. "Du willst verreisen?"
"Äh, nein, Kommissar, warum?"
"Ach Freddy, du Idiot! Wo steht der Audi? Und du weißt, dass ich mich nicht für geklaute Autos interessiere. Wo arbeite ich?"
"Mordkommission, Herr Kommissar", kam es kleinlaut zurück.
"Genau. Und jetzt rede, Kerl, oder du fährst für 30 Jahre in den Knast oder gleich auf den Friedhof!"
Freddy Kachinsky riss die Augen auf und stammelte:
"Ich hab die Karre doch nicht geklaut, der Motor lief, ich hab sie mir nur … genommen."
"Was war drin, und red jetzt nicht herum, wir haben keine Zeit, deine Uhr tickt, Freundchen!"
"Äh, ja, gut. Diese Tasche dort."
Reichert nahm den Aktenkoffer, zog einen Stapel Papiere heraus und wurde blass. Dann stopfte er sie zurück und sagte zu seinem Kollegen:
"Alban, schaust du dich bitte mal im Rest dieses Saustalls um? Bitte!"
Simmerson zögerte erst, nickte dann verstehend und zog die Tür hinter sich zu. Reichert setzte sich auf das schmutzige, ungemachte Bett, zog Freddy neben sich und legte seinen Arm um ihn.
"Mein liebes Freundchen, jetzt hör mir mal gut zu. Du packst jetzt ganz, ganz schnell fertig und dann verschwindest du augenblicklich aus diesem Land. Mit deinem eigenen Auto, klar? Du bist zwar ein Idiot, aber du hast mich immer gut mit Informationen versorgt und mich nie auflaufen lassen. Und auch Idioten können mal Glück haben. Mach dich vom Acker und zwar sofort, sonst bist du morgen tot!"
Freddy hatte keinen Zweifel. Der Tonfall des Kommissars ließ keinen zu. An der Tür drehte sich Reichert mit der Tasche unter dem Arm nochmals um.
"Wo steht der Audi?"
"Ums Eck."
Reichert streckte die Hand aus.
"Der Schlüssel steckt."
"Du klaust ein 200.000 Euro teures Auto, bei dem der Schlüssel steckt, parkst es auf der Strasse und lässt wieder den Schlüssel stecken? Freddy, Freddy, du bist wirklich …"
"Ein Idiot, ich weiß. Trotzdem: Danke, Herr Hauptkommissar"

Alban Simmerson saß im 'Wohnzimmer', eine veritablen Mülldeponie eigentlich, und zuckte die Schultern.
"Müll", sagte er. "Nichts als Müll. Aber was ist jetzt mit unserem Freund? Soll ich die Streife rufen oder nehmen wir ihn mit?"
"Weder noch, Alban", antwortete Reichert. " Komm, wir gehen runter, ich erklär's dir draußen." Sie stapften die Treppe runter und gingen ein paar Meter bis zur nächsten Straßenecke.
"Da steht er ja. Noch." Reichert deutete auf den Audi. "Pass auf, Alban. Du fährst jetzt mit dem BMW zum Odeonsplatz, stellst ihn dort ab. Ich hole ihn mir dann dort."
"Beim Innenministerium?"
"Genau. Dann gehst du bitte zu Fuß ins Büro, rufst den Kollegen Schuster vom BKA an und vereinbarst für mich einen Expresstermin. Ansonsten weißt du von nichts, hörst du? Du warst nie hier, du hast nie ein Foto gesehen, du kennst keinen Freddy, du übernimmst seine Rolle als unwissender Idiot. Wir können ihn nicht schützen. Wenn er nicht verduftet, ist er tot. Vertrau mir, Alban, ich bitte dich."
"Okay", sagte Simmerson zögernd. "Du lässt wieder einmal einen Ganoven laufen, das kostet dich noch mal den Kopf, Rudolf! Und das BKA hast du doch noch nie freiwillig …" Aber Reichert war schon außer Hörweite.


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Während Simmerson in die Stadt zurückfuhr, rief er Dr. Bellini an.
"Was Neues, Miranda?"
"E' assurdo, Alban", sagte sie, "so was habe ich noch nie gehabt. Ein fast perfekter Mord. Wenn Reichert mir nicht das mit dem Kältespray gesagt hätte, wäre ich nie drauf gekommen. Das ist eine echte merda! Die Brandwunde am Hals ist keine Brandwunde, sondern, wie heißt das in der blöden Werbung? Ja, so etwas wie Gefrierbrand. Jemand hält ihm das Kältespray gegen die vena jugularis, also die Halsader, und zwar so lange, bis das Blut im Inneren gefriert. Dabei muss ihn natürlich jemand festhalten, was die verwaschenen Druckspuren erklärt. Die Körperwärme löst den Eisklumpen in der Vene schnell wieder, und ab geht die Post, direkt ins Herz, Kammerflimmern, Exitus. Sekundenherztod. Dann den Föhn ins Wasser, um einen Unfall vorzutäuschen. Perfekt. Das waren absolute, eiskalte Profis, Alban."
"Die ihr Fluchtfahrzeug mit laufendem Motor … Ach, es gibt Idioten auch bei den Profis! Ich danke dir sehr, Miranda, ciao!"


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In einem Roman würde nun erzählt werden, wie Reichert Freddys Spuren beseitigt, wie er den Audi vor dem Innenministerium parkt, wie das Bundeskriminalamt aufgrund der Unterlagen herausfindet, dass die vier reichsten griechischen Familien 30 Milliarden Euro über Strohmänner und Scheinfirmen wie der Ellada Shipping Inc.

in diversen Ländern an der griechischen Steuer vorbei ins Ausland transferiert haben, und dass hohe Beamte im bayerischen Innenministerium daran beteiligt waren. Es würde auch darin stehen, dass nur ein paar kleine Scheißer gefasst werden, der Rest aber auf höchster internationaler Ebene gedeckt wird, dass der griechische Staat zutiefst darin verstrickt ist, und so weiter.

Von all dem bekam aber Freddy Kachinsky nichts mit. Er beschleunigte nach der 30er-Zone beim ehemaligen Grenzübergang 'Goldene Bremm'  seinen alten Peugeot und dachte grinsend an die 500.000 Euros, die auch im Audi gewesen waren und jetzt im Kofferraum seines Peugeots auf eine sinnvollere Verwendung warteten.
"Hey!", schrie Freddy und lachte lauthals. "Es gibt das perfekte, 'Große Ding' doch!" und ziemlich falsch, aber doch erkennbar, begann er, die Marseillaise zu pfeifen.


ENDE




©BRieser141011

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011

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