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And when you loose control,
you'll reap the harvest, you have sown
Pink Floyd


UTERUS



Verdammt, verdammt, verdammt – wo bin ich? Das kann doch nicht wahr sein! Himmel, wo zum Teufel …? Ruhig, ganz ruhig, keine Panik, atme langsamer, reiß dich zusammen, verdammt noch mal, du schaffst das, Caro, du hast genug Erfahrung. Ja, schon besser, bloß kein Insufflement produzieren. Ein – aaaus – ein – aaaus, gut, weiter so. Jetzt noch mal von vorn. Ich muss genauer hinschauen, es muss da sein. Ich schalte mal die Kowalski ein, die ist heller, Mist, jetzt seh ich gar nichts mehr, es blendet zu sehr, verfluchte Scheiße! Tasten, tasten, nein, da ist nichts, das verfluchte Ding ist weg, wo ist bloß Steffen? So eine Scheiße, jetzt bin ich am Arsch, lieber Gott, bitte, bitte hilf mir!



Carolin Andersen war ein glückliches Kind. Behütet und umsorgt von allen, intelligent, wissbegierig, perfekte Erziehung in einer perfekten Familie. Der Vater ist Inhaber einer renommierten Wirtschaftskanzlei, ehrgeizig, zielstrebig, reich. Seinem einzigen Kind fehlt nichts. Carolins Mutter himmelt ihn an, er lebt nur für seine Familie, will das Beste für die Tochter. Klavier, Ballett, internationale Schule, Eliteinternat in der Schweiz, versteht sich, Kontakte zu Nachwuchs aus besten Kreisen, Netzwerke knüpfen, Studium LMU München, École polytechnique und University of Princton. Der einzige Brocken, an dem der Vater schwer zu schlucken hat: Die Tochter zeigt keinerlei Talent und Ambitionen für die Jurisprudenz, hat er doch gehofft, sie eines Tages als Mitgesellschafterin in seiner Kanzlei zu haben. Na gut, soll sie also Geologie studieren.
Und das tat sie auch mit all dem Eifer, den sie von ihrem Vater gelernt hatte. Ihr letztes Praktikum vor dem Examen machte sie in Heidelberg bei Professor Benedikter, der Grundwasserströmungen in Karstgebieten untersuchte. Interessante Sache für Gegenden, in denen Regen sofort in den Untergrund abläuft und die Oberfläche unter Trockenheit leidet. Für die Erstellung eines brauchbaren mathematischen Modells ließ er in der Schwäbischen Alb, im Steinernen Meer und im Harz durch Taucher Sonden einbringen, die Daten über alle möglichen Parameter sammelten.
Einer dieser beauftragten Taucher war Steffen Andersen, Inhaber einer kleinen Tauchschule, gutaussehend, charmant und wohltuend anders, als die blasierten Snobs an den Eliteuniversitäten. Carolin verliebte sich augenblicklich. Sie begleitete ihn auf Exkursionen, lernte Tauchen, und schließlich heirateten sie.
Carolin habilitierte mit einer Arbeit über Magmaströme und erhielt umgehend einen Ruf an die LMU, die Uni, an der sie ihre ersten Semester verbracht hatte. Eine klare, schnörkellose Karriere, gekrönt mit einem Professorenstuhl mit gerade mal 30 Jahren. Sogar ihr Vater war beeindruckt. Und ihre Mutter platzte fast vor Stolz bei ihren Teekränzchen. Steffen verlegte den Sitz seiner Tauchschule nach München, sie kauften sich mit Vaters Geld ein Haus im Grünen und lebten, auch dank der Geldspritzen des Herrn Papa, gut und zufrieden. Caro war es so gewohnt, und ihr Mann hatte nichts dagegen einzuwenden.
Zur Universität Tübingen hielt Steffen Andersen noch lockeren Kontakt, und als Professor Benedikter bei ihm anfragte, ob er und Carolin noch einen kleinen Tauchauftrag für ihn übernehmen würden, sagte er sofort zu.
Die Donauversinkung zwischen Immendingen und Möhringen war zwar ein alter Hut und seit langer Zeit geklärt, aber Professor Benedikter hatte noch Etatmittel frei, die er unbedingt verpulvern musste, wenn sein Budget im nächsten Jahr nicht sinken sollte. Also sollten Steffen und Carolin in einem bisher nicht erforschten Nebenkanal eines verzweigten Höhlensystems, das mit der Donau in Verbindung zu stehen schien, eine Sonde setzen, die Rechnung dafür stellen und fertig. Eigentlich eine völlig unnötige, sinnfreie und fast alberne Aufgabe. Aber das Budget …
Carolin war nicht gerade begeistert, sah es aber Steffen zuliebe als Abwechslung von ihrer Arbeit an.

An einem schönen Samstagmorgen fuhr Carolin mit dem Transit los, den sie für ihre Tauchzwecke umgebaut hatten und in dem man sogar kochen und schlafen konnte. Steffen kam etwas später mit dem BMW nach, weil er noch etwas zu erledigen hatte.
Gegen zehn Uhr hatten sie ihre Ausrüstung zusammengeschraubt, gecheckt, und es konnte losgehen.
Der Einstieg über den Quelltümpel mit dem schönen Namen Hinternloch war eng, aber gut zu bewältigen. Sie hatten sich darauf verständigt, dass Caro als Erste tauchte, da sie deutlich kleiner und schlanker als ihr Mann war. Sie hatte eine Sicherungsleine dabei, die sie Meter für Meter von der Rolle ablaufen ließ, und die auch zur Vermessung des unbekannten Wasserkanals dienen sollte. Der Einstiegsgang erweiterte sich nach kurzer Zeit zu einer Höhle, die komplett unter Wasser lag. Bis hierher war alles bekannt und vermessen. Aber es gingen mehrere unerforschte Seitengänge ab. Caro musste sich erst orientieren, um den zu finden, der Professor Benedikter so 'furchtbar brennend' interessierte. Er sollte südsüdost abgehen, und Carolin befragte mehrfach den Kompass, bis sie den richtigen Einstieg fand. Zu Steffen gewandt formulierte sie mit Daumen und Zeigefinger die 'Alles-Okay?-Frage', die er umgehend mit der gleichen Geste bejahte. Dann ließ sie Luft aus dem Tarierjacket, sank tiefer und glitt in den Gang hinein. Sie gelangten nach mehreren Abzweigungen an einen Siphon, der im oberen Bereich Luft führte, aber zu wenig, um zu atmen. Schließlich wurde der Gang zu eng, um mit der ganzen Ausrüstung durchzutauchen. Caro verharrte vorsichtig. Sie hatte schon kurze 'Duckfins' an den Füßen, um möglichst wenig Sediment aufzuwirbeln, trotzdem war die Sicht immer schlechter geworden. Ein gewisses Klaustrophobiegefühl begann sich in ihr Unterbewusstsein zu schleichen. Arm nach oben: Fels. Arm nach unten: Fels. Links und rechts nicht anders. Sie drehte sich auf den Rücken, betrachtete im Licht ihrer Kopflampe Steffen und machte eine fragende Handbewegung. Steffen signalisierte: o.k. und deutete energisch nach vorn. Der Gang war definitiv nach wenigen Metern zu eng, also löste Caro die Riemen ihrer Tarierweste, zog die Einheit mit der lebensnotwendigen Druckluft über ihren Kopf und schob sie, nachdem sie sie durch sorgfältiges Lufttrimmen in Schwebelage gebracht hatte, nach vorn in den Gang. Ihre einzige Verbindung war jetzt nur noch der Atemregler im Mund und der Druckschlauch zur Flasche. Wenn sie das Mundstück verlieren würde, wäre sie unweigerlich in wenigen Augenblicken ertrunken. Steffen würde ihr in dieser Situation nicht helfen können, das wusste sie. No risk, no fun

, dachte sie und paddelte vorsichtig als 'Schubverband' los, ständig darauf bedacht, die Tarierweste nicht loszulassen und nirgends hängen zu bleiben. Endlich weitete sich ihr Blickbereich, was sie fast erschreckte. Sie konnte keine Felswand mehr sehen, keine Decke, keinen Boden, nur glasklares schwarzes Wasser. Mit lange geübter Routine nahm sie das Jacket wieder auf den Rücken, klickte die Verschlüsse ein, ließ das Ende der Sicherungsleine auf den Boden sinken und betätigte das Inflatorventil, um die Decke des Hohlraums zu inspizieren. Luft strömte in das Jacket und ließ sie langsam hochsteigen. Plötzlich durchbrach ihr Kopf die Wasseroberfläche. Sie blickte umher, und was sie im Licht ihrer Kopflampe sah, ließ ihr fast den Atem stocken. Eine riesige Höhle tat sich auf. Im Scheinwerferlicht erstrahlten gewaltige, blendend weiße Tropfsteine, Stalaktiten und Stalagmiten. Rote Sinterfälle, Baldachine und andere Speläotheme veschmolzen mit abenteuerlichen Excentriques und Boxwork an Teilen der Decke, der Boden war flächenweise mit Mondmilch überzogen, schneeweißen Calcitablagerungen, und egal wo sie hinleuchtete, fühlte sie sich in einen zauberhaften Märchenwald versetzt, der von Gnomen, Trollen und Elfen wimmelte. Sie schrie nur noch "Wahnsinn!" und spuckte dabei ihren Atemregler aus dem Mund. Reflexartig griff sie nach ihm, da sie nicht wusste, ob die Luft atembar war, aber steckte ihn nicht mehr zwischen die Zähne. Sie war atembar, die Luft, und sie schmeckte köstlich. Mit zwei Flossenschlägen erreichte sie eine Art Strand aus schwarzen Sandkörnern, riss sich Weste und Flossen vom Leib und schaute sich staunend weiter um. Ein absoluter Traum, funkelnd, irisierend wispernd, sprühend tat sich auf. Sie riss die Arme hoch und brüllte einen Urschrei der Freude in die Stille, der tausendfach zurückhallte. Endlich konnte sie sich von der Pracht losreißen und schaute auf die Wasseroberfläche. Wo war Steffen? Sie ging zurück zu ihrem Jacket und kontrollierte den Luftdruck. 110 Bar. Das reichte für den Rückweg allemal. Aber wo, verdammt blieb nur Steffen? Es musste irgendetwas passiert sein! Ohne noch einen Blick auf die traumhafte Szenerie zu werfen legte sie ihr Equipment wieder an, stieg ins Wasser und ließ Luft aus dem Jacket, bis sie das Einstiegsloch erreichte. Nichts von Steffen zu sehen, kein Lichtstrahl drang aus dem Gang. Verdammt! Er war doch direkt hinter ihr gewesen, oder? Wieder legte sie das Gerödel ab und schob sich hinter ihrer Ausrüstung in den Gang hinein. Kein Steffen. Ihr Herz zog sich zusammen, die Angst um Steffen mischte sich immer mehr mit steigender Platzangst. Sie paddelte zu heftig mit der Folge, dass die Sicht fast auf Null ging. Blind legte sie wieder die Weste an, als der Gang weiter wurde. War der vorher auch schon so groß gewesen? Jetzt musste doch der Siphon kommen, wo, zum Teufel war Steffen? Sie kontrollierte den Tauchcomputer und grübelte nach. Das konnte doch nicht sein, der Siphon musste schon längst erreicht sein. Verdammt, was war hier los? Wieder flosselte sie zu heftig, wieder wurde es stockdunkel. Wie kann ich nur so blöd sein? Habe ich alles verlernt? Verflucht, wo ist der Siphon? Steffen, wo bist du?


Sie drehte sich auf den Rücken und versuchte die Decke zu ertasten. War die jetzt wieder niedriger geworden? Und diese Linkskurve – kamen wir nicht von rechts? Zur Hölle, hatte sie sich verirrt? Die Sicherungsleine! Klar, sie brauchte nur ihr nachzutauchen und schon wäre sie draußen, doch wo war das verdammte Ding? Ihr Herz begann schmerzhaft zu klopfen. Ruhig

, dachte sie, keine Panik!

Wie lange tastete sie schon in dem Sedimentmodder nach der Leine? Plötzlich kam es ihr wie Stunden vor. Entsetzt riss sie den Arm hoch und versuchte den Computer abzulesen, aber der Schein ihrer Kopflampe war zu schwach, um den Sedimentnebel zu durchdringen. Sie musste erst einige Zeit überlegen, bis ihr die Kowalski-Lampe einfiel. Sie zerrte sie aus der Jackettasche und richtete den starken Strahl direkt auf den Computer. 61 Minuten, hilf, Himmel! Panisch fingerte sie nach dem Finimeter. Vor Entsetzen blieb ihr die Luft weg. Sie hatte nur noch dreißig Bar Druck auf der Flasche! Mit der hektischen Ruderei und dem Stochern nach der Leine hatte sie viel zuviel Luft verbraucht. Das würde niemals bis zum Ausgang reichen, wenn sie ihn denn überhaupt finden würde. Eiskalte, tief wurzelnde, grauenhafte Angst überfiel sie und lähmte jedes Denken für Minuten. Sie hing reglos in der Dunkelheit, während die bittere Erkenntnis in ihre Gedanken sickerte: Du wirst sterben!

Sie wollte sich einfach fallen lassen, den Luftschlauch aus dem Mund reißen, um dem quälenden Warten auf den unausweichlichen Tod zu entgehen. Doch irgendetwas in ihr ließ ihren Kämpfergeist wieder erwachen. 30 Bar – nicht viel, aber immerhin der Hauch einer Chance. Sie musste es versuchen: die Höhle! Augenblicklich löste sie die Gurtschnallen, zog die Beine ganz an den Körper und drehte sich in dem engen Loch um. Das Jacket mit der Flasche vor sich her schiebend tastete sie sich vorwärts. Wenn sie jetzt wieder eine falsche Abzweigung nehmen würde, wäre alles aus, und sie hatte keine Ahnung, wie lange die Luft noch reichen würde. Aber alles war besser, als untätig auf den Tod zu warten. Der Atemwiderstand nahm deutlich zu, ein Zeichen, dass die Luft zuende ging. Sie schmeckte jetzt bitter und metallisch. Los, Caro, weiter,

feuerte sie sich an, und plötzlich war da wieder das klare, dunkle, tiefe Wasser der Höhle. Mit letzter Kraft schoss sie zur Oberfläche hoch, spuckte den Regler aus und pumpte die kalte, klare Luft in ihre gequälte Lunge. Wo war der Sandstrand? Sie sah sich suchend um, während sie auf die Felsbrocken zuschwamm. Der Strand war verschwunden. Ächzend krabbelte sie auf die Felsblöcke, zog ihre Ausrüstung mit hoch und sank erschöpft nieder. Und jetzt dämmerte es ihr, wo der Sandstrand war: Er lag unter der Wasseroberfläche. Irgendwo im Einzugsbereich des Höhlensystems muss ein Wolkenbruch niedergegangen sein, der Wasserstand war gestiegen, und sie hatte den Siphon nicht erkannt, weil er jetzt keine Luftblase mehr hatte. Wahrscheinlich war sie bereits schon kurz vor dem Ausstieg gewesen! Verdammt! Und Steffen? Vermutlich hatte er das Steigen des Wassers bemerkt, hatte Panik bekommen, da er ja von der Höhle nichts wusste und war zurückgetaucht. Steffen, der große Tauchlehrer und Panik? Taucht zurück, ohne seine Partnerin zu warnen? Bei Höhlentauchgängen kann alles passieren, wer weiß, wie ich reagiert hätte? Nun gut. Jetzt hieß es nur noch warten. An den Ablagerungen erkannte sie, dass das Wasser nicht weiter steigen würde. Sie knipste ihre Kopflampe aus und schaltete den Kowalski-Strahler ein. Und wieder überwältigte sie die phantastische Welt, die aus dem Nichts auftauchte. Eine Kathedrale der Schönheit, ein Glitzern und Funkeln, unterbrochen von strahlenden Säulen, die von oben und unten auf einander zustrebten. Hier war gut warten. Lange konnte es ja nicht dauern, bis Steffen sich zusammengerissen hatte und mit einer Reserveflasche hier auftauchte, und alles wäre gut. Sie hatte Wasser, sie hatte Luft, man verhungert nicht so schnell, und ihr Anzug hielt sie warm. Beruhigt löschte sie die Lampe um Strom zu sparen und lauschte in der Dunkelheit dem Plätschern, Wispern, Tropfen und Raunen der Höhle – es war, als würde sie ihr Mut zusprechen.
Erstaunlich, was alles zu hören ist, wenn der Sehreiz wegfällt. Und welche blöden Gedanken mir durch den Kopf gehen. Warum sitze ich eigentlich hier? Weil Steffen wieder einmal seinen Willen durchgesetzt hat. Ich hasse Höhlentauchen! Warum hast du das nie deutlich zu ihm gesagt? Hab ich doch! Er hat das nur beiseite gewischt, wie er es immer macht. Auch die blöde Ostwand am Starnberger See, wo's außer ein paar Ästen nichts zu sehen gibt, oder der kalte, finstere Walchensee nerven mich. Ich will warmes Wasser, helle, lichtdurchflutete Korallenfelder mit tausend bunten Fischen und nicht immer diese dunklen Mückenweiher hier. Aber da nimmt er mich ja nie mit. Nach Bali, ans Rote Meer, in die Karibik fährt er nur mit seinen Tauchschülern. Das ist Arbeit, sagt er, kein Vergnügen. Pfff. Und ich sitze im Labor und koche Lavabrocken aus!


Klickerdiklickerdiklick drehten sich Caros Gedanken im Kreis, bis plötzlich ein leiser Verdacht in ihr harmloses Gehirn sickerte: Waren Steffens Klienten nicht vorwiegend Tauchschülerinnen? Vielleicht habe ich nicht aufgepasst, war zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt?



In ihrem Institut verfolgte Carolin eine Theorie, nach der alle Magmaströme im Erdinneren untereinander verbunden waren, eine Hypothese, auf die sie bei den Karstwasseruntersuchungen gekommen war. In jedem Lavabrocken waren winzig kleine Gasbläschen eingeschlossen, die Hinweise auf die Magmaströme gaben. Und wenn es ihr gelang, sozusagen eine Karte dieser glühenden Flüsse zu erstellen, könnte das die Vorhersage von Erdbeben und Eruptionen revolutionieren. Und deshalb war sie auf allen Kontinenten, in aller Herren Länder unterwegs, um die Lava der Vulkane zu studieren. Sie war am Vatnajökull auf Island, am Stromboli in Italien, am Arenal in Costa Rica und am Pinatubo auf den Philippinen – überall, wo es gefährliche, aktive Vulkane gab. Aber sie war nie wirklich

dort gewesen, nur in Gedanken. Was sie hatte, waren nur Lavabrocken, die in ihr Institut geschickt wurden. Plötzlich dämmerte ihr, dass sie eigentlich noch überhaupt nichts von dieser Welt gesehen hatte, auch von Palaiseau und Bristol kannte sie nur die Studentenwohnheime und Hörsäle. Dabei hatte sie doch Geologie studiert, um reisen zu können, Feldforschung zu betreiben, die Welt zu sehen. Stattdessen hockte sie im Keller und kochte Lavabrocken aus. Super. Ein entsetzliches Fernweh überfiel sie. Und warum war alles so gelaufen? Weil sie immer auf Leistung und Effizienz getrimmt worden war. Reisen ist uneffizient. Von wegen schöne Kindheit, von wegen liebevolle Familie!

Wie das Wasser durch das Karstgestein sickerte, sickerten ketzerische Gedanken in ihre Gehirnwindungen, Gedanken, die ewig tief in ihr geschlummert hatten und sorgfältig verborgen und verriegelt gehalten worden waren. Die Höhle mit ihrer seltsam bedrohlichen und gleichzeitig Geborgenheit vermittelnden Umgebung und der Mantel der Nacht lösten die Riegel und sprengten die Schlösser.
Liebevoller Vater? Du hast mich doch nur mit Geld zugeschissen und mir deinen Willen aufgedrängt! Das alberne Ballett, die Klavierklimperei, der Debütantinnenball, Mann, ich habe diesen Käse gehasst, wusstest du das nicht, Papa? Und du, Mutter, du warst doch auch nur ein willenloses Opfer deines ehrgeizigen Mannes. Ein Vorzeigeobjekt. Du hast ihn angehimmelt und schafsköpfig alles abgenickt, was er wollte. Und du hast keinen Finger krumm gemacht, als er mich in das Nobelinternat abgeschoben hat. Ja, abgeschoben! Nein, ich bin nicht ungerecht, endlich mal ehrlich zu mir selbst! Wie sollte ich da echte Freundschaften finden unter diesen bornierten Hohlbirnen mit ihrem affektierten Getue? Dir war das doch egal! Und dann habe ich mich von den Professoren einspannen lassen, habe Karriere gemacht, weil andere das wollten! Ich bin so eine gottverdammte Memme, eine Versagerin mir selbst gegenüber, ihr könnt mich alle mal kreuzweise am Arsch lecken!


Ein heftiger Weinkrampf schüttelte Caro, als sie an ihr Leben dachte. Nur Steffen war anders. Steffen wird mich hier rausholen und alles wird gut werden, dachte sie und schlief mit diesem tröstenden Gedanken erschöpft ein. Als sie wieder erwachte schlug sie erst panisch um sich, bis sie sich erinnerte, wo sie war. Sie schaltete die Lampe ein und las auf dem Computer die Uhrzeit ab. Verdammt, sie hatte fast 10 Stunden geschlafen! Wo blieb Steffen nur? Ihr war kalt. Der semi-trockene Tauchanzug schützte zwar gut, doch auf Dauer kroch die Kälte unaufhaltsam hinein.
Aber Steffen liebt mich, das Wasser ist gesunken, ich sehe den Strand wieder, er kommt und holt mich hier raus, er liebt mich! Wirklich? Wie ist das mit seinen Schülerinnen? Ist es nicht so, dass ich alles für ihn tue und er nur das, was er will? Liebt er mich oder doch eher das Geld meines Vaters? Verdammt! Die ganze Welt steht Kopf! Ich habe nur nach Schema V gelebt, V wie Vater. Klischeehaft. Die Sprüche stimmen alle nicht. What goes up, must come down. Steter Tropfen höhlt den Stein, alles bullshit! Schau dir doch die Tropfsteine an, Caro, steter Tropfen baut sie auf! Sie leugnen das Gesetz der Entropie, sie stellen auch mein ganzes Weltbild auf den Kopf. He, Höhle, was machst du mit mir? Langsam fühle ich mich hier wohl, wie im Mutterschoß, hihihi. Oh mein Gott, ich werde verrückt! Steffen, wo bleibst du, verflucht noch mal?


Plötzlich erstarrte ihr Gedankenfluss zu einem zähen Brei, und kaltes Entsetzen umklammerte ihr Herz. Nur ganz langsam erfasste sie die Tragweite der Erkenntnis: Steffen - wird - nicht - kommen! Das Sicherungsseil! Sie hatte es nicht finden können, weil - weil - weil es nicht mehr da war! Steffen hatte es zurückgezogen, er hatte sie nicht in Panik allein gelassen, sondern mit voller Absicht!
Ich blöde, blöde Kuh! Klar, nur er hat angeblich mit Professor Benedikter geredet, ich habe gar nicht gefragt, wo die Sonde ist, den Tauchauftrag gibt es überhaupt nicht! Er hat es auf meine Lebensversicherung abgesehen, auf mein Erbe, und du, du alleswissender, alles planender Vater hast mich nicht einmal zu einem Ehevertrag gedrängt. Ja, er schafft die Autos wieder heim, gibt eine Vermisstenanzeige auf, und das war's. Hier findet mich keiner. Na bravo.


Carolin begann lautlos zu weinen. Ihre Tränen tropften auf die Mondmilch und klangen wie das kalkhaltige Wasser, das von den Stalaktiten perlte. Im Takte einer unhörbaren Musik bewegte sie ihren Oberkörper vor und zurück, vor und zurück und sang dabei Teile aus einer Pink Floyd-Platte, die ihr in den Sinn kamen.
And when you loose control, you'll reap the harvest you have sown.
And as the fear grows, the bad blood slows and turns to stone …


Schließlich fasste sie einen letzten Entschluss. Sie würde den Anzug ausziehen, ins Wasser steigen und die Kälte ihre Arbeit machen lassen.
So have a good drown, as you go down, all alone
Dragged down by the stone …


Mit tränennassen Augen starrte sie auf die Oberfläche des Sees und beobachtete die leichten Wellen.
Wieso kann ich die Wellen sehen? Was – was ist das? Ein Licht! Luftblasen! Steffen!


Sie sprang auf und kletterte zum Strand hinunter. Das Licht wurde heller, die Luftblasen stärker, und schließlich tauchte ein Kopf mit einer Stirnlampe auf, nahm den Regulator aus dem Mund und rief: "Gott sei Dank, do bisch ja, Mädle!"
"Wer – wer sind Sie?"
"I bin Rettungstaucher von der Ulmer Feuerwehr, es isch vorbei, wir holen dich g'schwind hier raus, mein Kollege kommt gleich nach, keine Angst, jetzt wird alles gut!"

Und es wurde gut.
Als Caro am Ufer des Quellgumpens vom Notarzt untersucht und für körperlich fit befunden worden war, als sie einen Kanne heißen Tee und zwei Wurstsemmeln intus hatte, und als sie endlich ihre Gedanken wieder ordnen konnte, fragte sie den Rettungstaucher: "Wie habt ihr mich gefunden? Warum habt ihr mich überhaupt gesucht?"
"Na dei Mann hat uns verständigt, zum Glück isch der ja noch rauskommen!"
Caro schaute zum Parkplatz. Ihr Bus stand da, aber der BMW war weg.
"Und wo ist mein Mann jetzt?"
"Koi Ahnung, den musst scho selber fragen. Aber das größte Glück war die Sicherungsleine – sonst hätten wir dich nie g'funden."
"Die Leine war noch da?"
"Ja klar, Gott sei Dank! Durch den Gewitterregen hat's allerdings ziemlich Sediment d'rübergeschwemmt, wir ham erst danach suchen müssen."
Der Notarzt trat näher und sagte: "Sollen wir Sie doch nicht lieber sicherheitshalber mit ins Krankenhaus nehmen?"
"Nein danke, ich fühle mich wie neu geboren. Nein, falsch, ich bin

neugeboren, so als wäre die Höhle ein zweiter Uterus gewesen, wenn Sie verstehen." Der Arzt nickte nur.

Sie schüttelte allen die Hände, küsste und umarmte jeden ihrer Retter, ging zu ihrem Bus und winkte der abrückenden Helferschar noch einmal nach. Dann warf sie alles, was an Steffen erinnerte aus dem Auto und schleuderte mit einem gewaltigen Wurf ihr Handy in den Quellteich.
Jetzt fängt ein neues Leben an. Das richtige. Ohne Steffen, ohne Vater, ohne all die Arschlöcher, die mich bisher manipuliert haben. Ich bin frei, endlich frei! Danke Höhle!


Sie startete den Transit und nahm den nächsten Weg zur Autobahn, die nach Süden führte. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie einen echten Vulkan besteigen.
Leise sang sie eine weitere Textzeile des Liedes vor sich hin, die sie durch den Zusatz 'not' leicht veränderte:

And it's not too late to loose the weight you used to need to throw around …





©BRieser27711


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Impressum

Texte: Textzitate von Pink Floyd auf 'Animals' Bilder: pixelio/Schröder,Salzer
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
31. Schreibarena Murkele vs. Garlin Thema (danke dafür, Monirapunzel): "Ergründe das Geheimnis der Tropfsteinhöhle, öffne deinen Geist, höre auf dein Herz und entscheide weise."

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