Der Herr aber sprach zu dem Satan: Wo kommst du her?
Hiob 1.6
VATERSCHAFT
München.
Am 21. September 1991 verschwand Dimitrios Dramalidis spurlos. Er hinterließ seine deutsche Frau Eva in völlig verzweifeltem Zustand und seinen eben geborenen Sohn. Die Vermisstensuche verlief erfolglos und war von den zuständigen Stellen auch nur lustlos geführt worden.
Typischer Fall von 'mal eben Zigarettenholen'. Außerdem, was ist er von Beruf? So ein Zirkusmann, ein Artist, Feuerschlucker, nein, ein Hellseher oder so. Man kennt diese verantwortungslosen Typen ja. Und Zigeuner ist er noch dazu. Oder Grieche? Egal. Eindeutiges Motiv jedenfalls. Will sich vor der Verantwortung für sein Kind drücken, ist doch klar. Der hat doch in jeder Stadt ein anders Flittchen. Kennt man ja.
Akte geschlossen.
Autonome Mönchsrepublik Athos. 30 Jahre später.
Mit einem spektakulären Feuerwerk wie so oft über der Halbinsel Chaldiki beendete die Sonne ihr Tagwerk und tauchte den Gipfel des heiligen Berges Athos in das Licht blutiger Endzeitahnung. Über das aufgegebene Kloster Agíou Nikoláou zogen düstere Schatten, verstärkt durch die blau-grauen Blätter eines verwilderten Olivenhains, der die alten Gemäuer wie ein Heer von archaischen Kriegern umstellte. Durch die blinden Fenster des Katholikons, der alten Abteikirche, fiel kaum noch Licht; die Kerzen vor der Ikonostase warfen ein gespenstisches Treiben an die mit uralten Fresken überzogenen Wände. Der in eine schmutzig-braune Kutte gehüllte Mönch, der auf einem Betschemel kniete, hob sich von seiner Umgebung kaum ab. Er schien verschmolzen, eins mit dem düsteren Raum, in dem nur beim Flackern der Kerzen ab und zu goldglänzende Reflexe von den zahllosen Ikonen blitzten. Und ebenso wie die Heiligenbilder reagierte er nicht, als ihn eine Stimme aus dem dunklen Kirchenschiff hinter ihm ansprach:
"Kalí spéra, kírie patéra mou." Die Worte verhallten, und einige Atemzüge vergingen, bevor der Mönch antwortete, ohne sich dabei zu bewegen.
"Jetzt hast du mich also endlich gefunden, mein Sohn. Und du hast Griechisch gelernt, wie ich höre."
"Als Säugling habe ich schon auf Griechisch geweint, Vater, als ich spürte, dass du mich und Mutter verlassen hast." Das Nicken des Mönches konnte man nur erahnen.
Plötzlich flammte das grelle Licht einer Hochdruck-Petroleumlampe auf, und die Stimme sagte:
"Sieh mich an, Vater, sieh mir ins Gesicht! Du hast mir nur ein einziges Mal in die Augen geblickt, vor dreißig Jahren, und dann nie wieder. Warum? Warum hast du Mutter das angetan? Warum mir? Warum hast du uns wirklich verlassen, warum hast du dein Geschäft im Stich gelassen, deine Freunde, alles? Alle haben gedacht, du wärst tot. Alle außer mir. Und dann finde ich dich hier in dieser seltsamen Mönchsrepublik, wo du als Einsiedler haust. Obwohl ich gewöhnlich alles erreiche, was ich will, habe ich sehr lange gebraucht, dich zu finden. Sag es schon, angesichts deiner schmalzigen Heiligen und deines seltsamen Gottes, sag mir, warum du verschwunden bist! Antworte!"
"Du kennst die Antwort."
"Ach ja?" Die Gestalt eines hageren, blonden Mannes hatte sich aus der Dunkelheit gelöst und bewegte sich im Flutlicht der Lampe, die er mit dem Fuß vor sich her schob, ganz langsam an der Wand entlang nach vorn. Mit den Fingernägeln schnalzte er dabei rhythmisch gegen den Kalkputz, während er den noch immer knienden Mönch fixierte, wie die Schlange die Maus. "Ach ja?", wiederholte er. "Sag es mir dennoch, Vater und sieh mich dabei an, verflucht! Sag es mir ins Gesicht!" Der Mönch bewegte sich immer noch nicht, sondern starrte weiter auf die Ikonen, als flehe er um ihren Beistand. Im grellen Lampenlicht hatten sie ihre besondere Ausstrahlung verloren. Matt und blass sahen sie aus, das ganze Gold und Silber wirkte stumpf und leblos.
"Ich habe deine Mutter abgöttisch geliebt. Als sie mit dir schwanger war, fühlte ich unbeschreibliches Glück. Ich war eins mit Eva, mit dir, mit der ganzen Welt, mit dem Universum. Nie hätte ich geglaubt, dass unser unendlich scheinendes Glück nur eine Schimäre war." Er schwieg lange, bis der Hagere mit der flachen Hand gegen die Wand schlug.
"Und was ist passiert?"
"Als die Wehen einsetzten, fuhr ich deine Mutter sofort zur Klinik. Alles war gut geplant und vorbereitet, und die Geburt war komplikationslos und schnell vorbei. Weißt du, ein griechischer Mann ist eigentlich bei der Geburt eines Kindes nie dabei, aber deine Mutter ist eine typische Deutsche und hat darauf bestanden. Und ich habe es ihr zuliebe getan. Für sie hätte ich alles getan." Einen Moment war es so, als würde der Mönch lächeln. "Als du dann da warst, ach ja, du hast geatmet, du hast dich bewegt, aber du hast nicht geschrieen, keinen Ton hast du von dir gegeben, sondern nur mit deinen riesigen, hellblauen Augen in die Welt gestarrt. Endlich dufte ich dich dann auf den Arm nehmen – und dann hast du mit diesen hellblauen Augen direkt in meine gesehen."
Der Blonde lachte höhnisch.
"Und dann war es um dich geschehen, weil ich so ein süßes Baby war. Du konntest meine Schönheit nicht ertragen und bist abgehauen, stimmts, Väterchen?"
"Ja, ich bin – geflohen. Aber nicht, weil du so süß warst."
"Nein? Wie schade. Warum dann? Sag es mir endlich!"
Der Mönch holte tief Luft, sah zur Kuppel mit dem Abbild des Christus Pantokrator hoch und schrie dann:
"Sei verflucht, du Satan, das weißt du doch selbst! Es gibt diesen Spruch, dass man in den Augen eines Menschen nicht das erkennen kann, was sie gesehen haben, sondern das, was sie sehen werden. Nur ein dummer Spruch, sollte man meinen, aber auf mich trifft er zu. Ich habe die Gabe, das wirklich zu sehen. Meine Shows in den Theatern waren keine Tricks, keine Zauberkunststücke. Ich kann die Gedanken der Menschen erahnen. Schwach nur, aber doch so, dass ich damit sehr gut unseren Lebensunterhalt verdienen konnte. Aber bei dir – bei dir konnte ich es glasklar sehen, klarer als in einem Film. Und ich wusste schlagartig und zweifelsfrei, als ich in deine Augen blickte: Du wirst mich töten!"
Der jüngere Mann nahm die fauchende Lampe, stieg die drei Stufen zum Altarraum hoch und stellte sich direkt vor die mittlere Tür der Ikonostase. Das grelle Licht warf harte Schlagschatten auf sein Gesicht, als er den Brenner vor sich abstellte.
"Sieh mich endlich an, Papa, schau mir noch mal in die Augen, bevor ich dich wirklich töte. Aber sag mir vorher noch: Was glaubst du wohl, warum ich dich umbringen werde?"
Der Mönch erhob sich ächzend, suchte schwankend Halt und sah seinem Sohn endlich direkt ins Gesicht. Dann sagte er leise:
"Weil du abgrundtief böse bist, mein Sohn. Ich habe gesehen, dass du mich töten wirst. Und jetzt ist die Zeit dafür gekommen."
"Hört, hört!", antwortete der Hagere und lehnte sich provozierend an ein Heiligenbild. "Mein Herr Papa blickt dem Baby in die schönen, blauen Augen, sieht, dass es ihn killen wird und ergreift das Hasenpanier."
Dann lachte er grell auf.
"Der weltbekannte Hellseher Dramalidis - lassen Sie ihn Ihre abgrundtiefsten Gedanken lesen!
Ich habe die alten Plakate auf dem Dachboden gesehen. Wenn du voraussehen konntest, dass ich dich töten werde, warum hast du mich dann nicht gleich erstickt? Hey, das wäre doch ein Fressen für die Presse und die Justiz gewesen: Postnatale Kindstötung aus Notwehr! Dafür wärst du für ewig in die Klapsmühle gekommen – dahin, wo Mutter heute ist. Hast du es deswegen nicht getan?"
"Nein", antwortete der Mönch und blickte seinem Sohn wieder in die eisblauen Augen. "Ich konnte dich nicht töten, weil du mein Sohn bist, mein eigen Fleisch und Blut."
"Hehehe, ach Alterchen, wie kommst du denn darauf, dass ich dein Fleisch und Blut bin?"
"Eva hat mich nie betrogen, hat nie auch nur daran gedacht. Ich hätte es in ihren Augen sofort gesehen."
Der Hagere schnippte verächtlich mit den Fingern.
"Tja, zur Ehrenrettung meiner Mutter muss ich sagen, dass sie dich zumindest nicht willentlich und nicht wissentlich betrogen hat."
"Was meinst du damit?"
"Das verstehst du doch sicher, Mönchlein. Deine heilige Mutter Gottes war nicht die Einzige. Und – ", er deutete auf ein Bild der heiligen Familie an der Südwand, "- sieh doch nur, wie belämmert der Josef schaut. Der wusste Bescheid. Anyway. Du hast also gesehen, dass ich dich töten werde. Hast du sonst noch etwas gesehen?"
"Oh ja", antwortete der Mönch mit rauer Stimme, "ich habe noch etwas gesehen. Und deswegen bin ich Mönch geworden, ich dachte Gott wird mir verzeihen, wird mich verstehen. Denn ich habe schwere Schuld auf mich geladen. Du sollst nicht töten lautet das 6. Gebot, im hebräischen steht: Du sollst nicht morden, also aus Heimtücke töten. Viele Gelehrte haben sich den Kopf zerbrochen, ob eine Tötung erlaubt ist, um einen anderen zu retten, viele verneinen das. Man kann Leben nicht gegeneinander aufrechnen, sagen sie. Ich dagegen bin hier in meiner Einsamkeit mit Gott und mit meiner Qual zu der Überzeugung gelangt, dass ich größte Schuld auf mich geladen habe, weil ich dich als Säugling nicht sofort umgebracht habe. Denn ich habe Entsetzliches geschaut. Ich habe Gräuel überall auf der Welt gesehen, ich habe in deinen Augen die Massenmorde von Srebrenica gesehen, den Völkermord in Ruanda, ich habe die Twin- Towers in New York einstürzen sehen, und ich habe gesehen, dass du immer die treibende Kraft im Hintergrund warst. Du bist das Böse, der Antichrist, du bist Satan, kein Wunder, dass deine Mutter den Verstand verloren hat!"
Der Blonde grinste verächtlich.
"Zu viel der Ehre, Väterchen, aber ich gestehe gerne, dass ich mein Bestes tue, um diese verrottete Welt zu zerstören. Es macht Spaß, ungeheuren Spaß sogar, verstehst du? Nein? Nun ja. Irgendwann werdet ihr verstehen. Du als Mönchlein kennst ja die Offenbarung des Johannes, weißt, was Armageddon ist. Ich habe noch viel zu tun, aber es dauert dennoch nicht mehr lange. Allerdings habe ich viel Zeit verloren, um dich zu suchen, wobei ich nicht einmal weiß, warum. Du bist unwichtiger als ein Staubkorn. Aber bevor ich es zu Ende bringe, sag mir doch noch, was ich als nächstes vorhabe, wenn ich mit dir fertig bin. Schau mir in die Augen, Väterchen, und gönne uns den Spaß!"
"Das habe ich schon getan", sagte der Mönch und straffte sich. Aber lass mich dich vorher noch einmal umarmen. Das zweite und letzte Mal in meinem Leben. Bitte!"
Mit der linken Hand zog er den Blonden sachte zu sich her, legte den Arm um ihn, und mit der rechten rammte er ihm mit voller Kraft einen langen, scharfen Dolch, den er aus seiner Kutte gezogen hatte, in die Brust. Der Mann stieß ein entsetztes Keuchen aus, taumelte zurück und sank zu Boden. Blutiger Schaum trat aus seinem Mund, und mit hasserfüllten Augen suchte er den Blick seines Richters.
"Ich habe gesehen, was du als nächstes geplant hast", sagte der Mönch, kniete neben dem zuckenden Körper nieder und nahm dessen rechte Hand fast tröstend. "Ich habe Jerusalem gesehen, die Heilige Stadt. Und ich habe den Atompilz darüber gesehen. Und weiß du, im Laufe der Zeit habe ich erkannt, dass du nicht unfehlbar bist. Das Attentat auf den Vatikan ist missglückt, das, was in deinen Augen zu sehen ist, ist nicht unabwendbar. Und die letzte Gewissheit war, dass du mich so intensiv gesucht hast, obwohl ich angeblich nicht dein Vater bin. Aber ich war zumindest der erste Mensch, der dir in die Augen gesehen hat. Das zeigte mir, dass du nicht Satan bist, sondern nur sein Diener. Ein abgrundtief böser Diener, mit einer gewaltigen, teuflischen Gabe, aber doch nur ein Mensch und deshalb sterblich. Und seit Tagen habe ich gespürt, dass du in der Nähe bist. Darum das Messer. Es musste sein. Und deshalb wirst du jetzt vor deinen einzigen, wahren Richter treten, mein - Sohn."
Der Sterbende versuchte sich aufzurichten, sank aber stöhnend zurück.
"Ich …", stammelte er und spuckte Blut. "Ich habe vorhin gelogen. Mutter war dir niemals untreu, auch nicht, ohne es zu wissen. Was glaubst du, von wem ich die teuflische Gabe geerbt habe?" Er hustete und spuckte wieder. "Du - du bist wirklich mein Vater, Mönchlein. Und deshalb wirst du mich auf meinem letzten Weg begleiten. Endlich werden wir vereint sein, Papa
!"
Bevor der Mönch reagieren konnte packte sein Sohn mit einem letzten, gewaltigen Aufbäumen die Petroleumlampe und warf sie mit aller Kraft an die uralte, hölzerne Ikonostasenwand.
Süddeutsche Zeitung
23. September –dpa-
In der autonomen Mönchsrepublik Athos hat am Wochenende ein verheerendes Feuer das in byzantinischer Zeit gegründete Kloster Agíou Nikoláou völlig zerstört. Obwohl verlassen, barg es doch unersetzliche Kunstschätze. Seit Jahren versuchen Experten das Staatsoberhaupt Bartholomäus und das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel dazu zu bewegen, internationale Hilfe für die Konservierung anzunehmen, allerdings vergeblich. Die Klöster auf der Halbinsel sind seit dem Mittelalter autonom und praktisch von Griechenland abgeschottet. Ein Eremit, der als Wächter des Klosters dort lebte, wird vermisst.
Eva Dramalidis ließ die Zeitung sinken und starrte aus dem Fenster der Heilanstalt, bis ein Pfleger sie zum Mittagessen führte.
©BRieser13711
Tag der Veröffentlichung: 14.07.2011
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Widmung:
Beitrag zum Wortspiel 32
Thema von Murkele:
"Man sieht in den Augen der Menschen das, was sie sehen werden und nicht das, was sie gesehen haben" (Alessandro Baricco)