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VISIO


Vision

(lat. visio Sehen, Sicht) f:
(engl.) visual hallucination;
optische Halluzination mit vorwiegend
religiösen Inhalten (z.B. als
Marien- oder Christuserscheinung);
Vork. u.a. beim Delir. Vgl.
Sinnestäuschung

Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage


I




Kloster Rupertsberg, A.D. 1158

"Er kommt nicht mehr, Mutter Äbtissin. Jetzt ist es kurz vor dem Komplet, es wird bald dunkel. Lasst uns in die Kirche gehen."
"Er kommt, ich weiß es", antwortete Hildegard von Bingen, die Äbtissin des Klosters Rupertsberg. "Die Nachricht, die Volmar erhalten hat, war eindeutig. Er kommt heute."
Volmar war der Sekretär der Äbtissin und ihr gegenüber absolut loyal. Aber heute hatte sich der Benediktinermönch mit einer fadenscheinigen Ausrede schon unmittelbar nach der Prim vom Kloster absentiert. Er scheute das Zusammentreffen mit dem angekündigten Besucher wie der Teufel das Weihwasser.
Benno von Einstätten, ein Zisterzienser, war überall gefürchtet. Und auch gehasst. Die Zisterzienser, besonders die mit dem Titelzusatz O.C.S.O. – der 'Strengen Observanz' - sahen sich seit ihrer Gründung als die besseren Benediktiner an, was ihrer Beliebtheit beim Klerus nicht gerade förderlich war. Benno war vom Kloster Vaucelles aufgebrochen und auf dem Weg nach Rom. Zwar läge der Rupertsberg auf seiner Route, aber sein Besuch habe einen besonderen Grund. Die Oberin möge also gefälligst persönlich anzutreffen sein - so etwa hatte es der Bote übermittelt. Das verhieß nichts Gutes. Benno war ein Einzelgänger, ein Fanatiker, der aber dennoch über beste Verbindungen in der Heiligen Stadt und darüber hinaus verfügte. In den Komtureien der Templer ging er ein und aus, obwohl die beiden Orden nicht gerade befreundet waren. Benno hatte seine Mittelsmänner überall, selbst in unmittelbarer Nähe des Papstes. Unter der Hand nannte man ihn 'Papstmacher', obwohl sich Hadrian IV. noch bester Gesundheit erfreute. Eine ambivalente Persönlichkeit war dieser Mönch, fromm bis zum Wahnsinn und gleichzeitig hart und skrupellos. So war es Hildegard wenigstens zu Ohren gebracht worden. Und noch viel mehr … Was wollte nur dieser Benno von Einstätten von ihr?
"Lasst uns gehen, Mutter", sagte die Nonne noch einmal zu Hildegard, die angestrengt über die Zinne des Torhauses spähte.
"Da ist er", antwortete die Äbtissin und deutete auf den Weg, der sich vom Waldrand auf das Kloster zuschlängelte. Es war eine kleine Gruppe, nur der Mönch in seiner Kutte auf einem Pferd, gefolgt von zwei Knechten auf Mauleseln und noch zwei Tragtieren.

"Empfangt ihn und seine Begleiter wie es sich geziemt, versorgt sie und die Tiere und führt Seine Eminenz dann unverzüglich in mein Offizium. Ich hoffe, die Kerzen brennen!"
"Natürlich, Mutter", antwortete die Nonne und eilte die Treppen hinunter, um das Tor zu öffnen.

II



"Meine verehrte Äbtissin", begann Benno von Einstätten vorsichtig und vermied dabei, Hildegard anzublicken. "Ihr seid hierzulande angesehen wie eine Heilige. Man glaubt fast, die tanzenden Feuerzungen des Heiligen Geistes auf Eurem Haupt lodern zu sehen." Er schielte aus den Augenwinkeln, um eine Reaktion der Äbtissin einzufangen, aber sie regte sich nicht, sondern blickte nur weiter auf das Kreuz an der Wand. Also fuhr er fort: "Ihr predigt dem Volke, Ihr heilt seine Gebrechen mit Eurer Kräuterkunst, die Klöster der Umgebung jammern schon, dass der Zustrom der Mühseligen und Beladenen, der Kranken und Siechen bei ihnen deutlich abnimmt. Und damit natürlich auch die Einnahmen. Wisst Ihr das?"
"Was wollt Ihr, Eminenz?" Hildegard hatte sich aufgerichtet und sah den Mönch scharf an. "Sagt es frei heraus!"
"Sprecht mich nicht mit Eminenz an, ich bin nur ein kleiner, unwürdiger Diener unseres Herrn. Aber wenn Ihr es so wollt, Meisterin: Uns ist vielerlei zu Ohren gekommen, das uns mit Sorge erfüllt."
"Wen meint Ihr mit uns, Pater?"
"Alle. Mich, den Erzbischof, die Kurie und nicht zu vergessen, den Heiligen Vater."
Hildegard lag eine Erwiderung auf der Zunge, schwieg aber, um sich die Vorwürfe anzuhören.
"Ihr habt die Prinzipien des Mönchstums aufgeweicht, die Askese. Die Speisevorschriften in Eurem Kloster entsprechen nicht den Regeln des heiligen Benedicts, wovon ich mich in Eurem Refektorium eben überzeugen konnte. Ihr predigt – als Frau! Ihre reist umher, sprecht und schreibt über theologische Themen, Ihr häuft Reichtümer an, was dem Armutsgelübde widerspricht. Die Töchter der Adeligen, die in Euer Kloster strömen, bringen eine gewaltige Mitgift mit. Wie viele Eurer Novizinnen sind Töchter von Tagelöhnern? Ich sage es Euch: keine einzige! Wir sind in tiefer Sorge, ehrwürdige Mutter, dass Ihr über Eurem weltlichen Einfluss Eure Seele an den Widersacher verliert. Ihr korrespondiert mit Bernhard von Clairvaux, mit einflussreichen Adeligen, Kaiser Friedrich soll Euch um Euren Rat befragt haben, so hört man und sogar der Heilige Vater Eugen, Gott sei seiner Seele gnädig. Ihr führt ein Leben in Saus und Braus, das sagt auch Meisterin Tengswich von Andernach. Ihr benehmt Euch arrogant, selbstbewusst, und ihr redet und schreibt sogar fast wie ein Mann!"
Hildegard schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel und bat alle Heiligen um Beistand, um nicht aus der Haut zu fahren.
"Ihr wisst, Pater", sagte sie nach einem tiefen Atemzug, "dass ich alles zur größeren Ehre Gottes tue. Ihm habe ich mein Leben geweiht, sein Sohn ist mein Gemahl, und der Reichtum des Klosters kommt einzig unserer Mutter, der Sancta Ecclesia Catholika zugute. Und meinen Weg zeigt mir Gott selbst. Die verirrten Seelen kommen zu mir, nicht weil ich zu ihnen spreche, sondern der HERR durch mich. Ich bin indocta et illiterata, eine Frau eben, nur ein unwürdiges Werkzeug Gottes, gelobt sei Jesus Christus."
"Inewigkeitamen, jaja. Ich glaube ja, dass Ihr überzeugt seid, das Richtige zu tun, aber könnte Euch das nicht auch der Satan eingegeben haben? Ich meine es nur gut mit Euch, Schwester im Herrn. Aber lasst ab von Eurem Stolz, lasst ab vom Hochmut, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet!"
"Hochmut? Durch mich spricht Gott, der Allmächtige! Haltet Ihr Gott für hochmütig?"
"Im Namen Christi, natürlich nicht! Aber Euch, Euch halte ich für hochmütig! Kommen wir jetzt auf den Kern unseres Disputs, auf Eure sogenannten Visionen. Ihr behauptet, sie kämen direkt von Gott. Das ist Blasphemie, Häresie!"

Hildegard antwortete wütend:
"Was untersteht Ihr Euch? Papst Eugen hat mich als Seherin anerkannt. Er hat verfügt, dass meine Visionen göttlichen Ursprungs sind. Er wusste, dass ich Gottes Werk tue, indem ich Gottes Wort aufschreibe!"
"Ja, diese Synode von Trier, 1147", sagte Benno süffisant. "Aber auch ein Papst kann sich irren. Bisher hat wenigstens noch keiner von sich behauptet, unfehlbar zu sein, und das wird auch niemals geschehen, hahaha. Und seine Heiligkeit Eugen ist seit 1153 tot. Anastasius hat dann den Stuhl Petri auch nicht gerade lange besetzt, und unser jetziger Papst, Hadrian IV. – ich weiß nicht, ob er Eure Ansichten teilt. Verlasst Euch nicht so sehr auf diese sonderbare Synode."
"Ob unser Papst meine Ansichten teilt, weiß ich nicht, aber ich werde mich circumposita mit ihm in Verbindung setzen."
"Das könnt ihr auch bleiben lassen, meine Liebe, er ist ein gottverdammter Engländer. Man glaubt es nicht, ein Engländer! Er würde Euch und Eure Visionen ebenso wenig verstehen, wie ich. Da könntet Ihr ihm gleich in der lingua ignota schreiben, Eurer Geheimschrift." Jetzt musste Hildegard lachen.
"Ihr wisst davon? Ihr seid gut informiert. Kennt Ihr dann auch die litterae ignotae?"
"Eure sonderbaren Buchstaben? Natürlich. Glaubt Ihr etwa, diesen Unsinn hätte Euch ebenfalls Gott eingegeben?"
"Nein. Aber, Bruder in Christo, zweifelt Ihr daran, dass meine Visionen, die in den Büchern Liber Scivias und Liber vitae meritorum aufgeschrieben habe, von Gott kommen?"
"Ach Hildegard", seufzte Benno von Einstätten, " homo sum; humani nil me alieno puto. Nichts Menschliches ist mir fremd. Selbstverständlich zweifle ich daran und nicht nur ich! Das ist ja der Kern des Problems. Wie kommt Ihr zu der Behauptung, dass Eure sogenannten Visionen von Gott stammen?"
"Weil, wie Ihr sicherlich wisst, Pater, alles und jedes göttlichen Ursprungs ist."
"Das ist Sophisterei, also etwas genauer, bitte."
"Nun denn." Hildegard lehnte sich in ihrem hölzernen Stuhl zurück und blickte auf die neblige Nahelandschaft. "Lange", sagte sie dann mit leiser Stimme, "lange habe ich selbst gezweifelt. Ich sah die Worte förmlich in mir, hörte sie nicht nur. Ich war mir erst nicht sicher, aber dann wurde mir klar, dass nur Gott sie mir eingeben konnte. Niedergefällt von der Last der Erkenntnis fiel ich aufs Krankenlager. Ich wollte, nein konnte Gottes Worte nicht niederschreiben, ich armselige, unwürdige Frau. Erst nach vielen Krankheiten, Prüfungen des Herrn, überwand ich mich und ließ meiner Hand freien Lauf. Und so brachte ich die Werke zustande, nicht aus der Empfindung meines Herzens, nicht aus einer Laune, einer Einbildung heraus, sondern durch das Mysterium Gottes, das wir nicht verstehen, sondern nur glauben können. Und immer sprach die Stimme zu mir, all die Jahre hindurch. Sie sagte: Erhebe also deine Stimme und schreibe also! Und das tat ich."

Sie schwieg und betrachtete wieder das Kruzifix.
"Ja, so ähnlich habt Ihr es im liber scivias beschrieben. Aber diese Stimme vom Himmel, wessen ist sie? Eines Propheten, eines Engels, oder seid Ihr gar so vermessen zu behaupten, Gott selbst habe zu so einem nichtsnutzigen Wurm gesprochen? Hat ER das nötig? Gott ist allmächtig! Würde ER seinen Willen durch den unwürdigen Leib einer Frau kundtun? Könnte ER sie nicht gleich in die Gehirne aller Menschen pflanzen? Haltet Ihr Gott für einen Narren? Oder ist es nicht eher so, dass sein ewiger Widersacher
Euch diese Narreteien in Eueren Kopf gesetzt hat?"
"Wie redet Ihr denn, Benno? Da könntet Ihr doch gleich behaupten, dass meine Visionen nicht von Gott kommen, weil es gar keinen Gott gibt! Versündigt Euch nicht! Und ich bin doch nicht der erste Mensch, durch den Gott gesprochen hat; kennt Ihr Eure Bibel nicht?"
"Willst du dumme Gans dich mit den Propheten vergleichen? Du bist nur eine lächerliche Frau, durch dich und deine Geschlechtsgenossinnen ist der Satan in die Welt gekommen, ihr seid seine Eintrittspforten, ihr unwürdigen … Frauen." Es wurde eisig im Raum. Schließlich räusperte sich Benno und sagte: "Entschuldigt, Äbtissin, ich vergaß mich."
"Das tut Ihr öfter, wie man hört", antwortete Hildegard. "Nun, ich weiß, dass ich eine Frau bin. Wir Frauen haben nicht die Geistesgaben, uns zu theologischen Themen zu äußern. Und Satan hat kein Zutrittsrecht zu unserm Kloster. Schon deshalb müssen meine Visionen göttlichen Ursprungs sein. Und die Menschen fühlen, nein, wissen, dass ich die Worte unseres Herrn wiedergebe, und deshalb kommen sie zu uns in unser Kloster. Wäre es nicht so, würde Gott sie abhalten."
"Ach was", schnaubte der Mönch, "diese vorgeblichen Visionen sind doch nur Schutzbehauptungen. Sie sind eine Lüge, eine gotteslästerliche Lüge! Wenn Ihr Eure Predigten, Eure Vorstellungen der Schöpfungsordnung etc. nur so daherreden würdet, nur so, als Nonne, sie aufschreiben würdet, bekämt Ihr doch nur den Spott der Menschen zu hören. Eine Frau, die über Theologie schwätzt – das ist so, als würden Hühner darüber gackern. Mulier taceat in ecclesia hat schon Paulus gesagt, die Frau soll in der Kirche das Maul halten! Ich gestehe, nur so zwischen uns, dass einiges, was Ihr geschrieben habt, auch mein Wohlgefallen findet. Ich bin sogar beeindruckt von Eurer Intelligenz, von Eurer Weitsicht. Aber ich würde nie zugeben, dass das auf Eurem Mist gewachsen ist. Und dass das von Gott kommt, das werde ich niemals glauben, Papst Eugen hin oder her. Ein Dilemma, ich weiß."
"Und was schlagt Ihr vor, Pater?" Hildegard war jetzt ganz ruhig und sah Benno direkt in die Augen. Dieser hielt ihrem Blick stand.
"Ganz einfach", sagte er nach einer langen Pause, "Ihr tretet ab. Ihr geht zusammen mit Euren Mitschwestern zurück ins Inclusorium im Kloster Didisbodenberg und überlasst den Rupertsberg den Benediktinern."
Erst schüttelte Hildegard ungläubig den Kopf, dann lachte sie schallend auf.
"Jetzt verstehe ich. Daher weht also der Wind! Abt Kuno steckt dahinter – er hasst uns schon, seit wir aus seinem Kloster ausgezogen sind und unser eigenes gegründet haben. Und Ihr, mein Bruder in Christo, Ihr seid mit ihm verbandelt. Er gehört zu Euresgleichen! Er hat Euch auf mich gehetzt, weil er sich mein Kloster einverleiben will. Didisbodenberg hat er durch seine maßlose Dummheit und Impertinenz heruntergewirtschaftet aber Rupertsberg ist wohlhabend - bei Gott, er will mein Kloster! Und deshalb erniedrigt Ihr Euch dazu, das Wort Gottes zu verleumden? Schämt Ihr Euch nicht? Ich werde meinem Brief an den Papst diese Begebenheit hinzufügen!"
"Eurem Brief an Hadrian, den gottverdammten Engländer? Ach Hildegard, macht Euch nicht lächerlich. Hadrians Tage sind gezählt, das kann ich Euch versichern. Der Engländer wärmt mit seinem Arsch schon viel zu lange den Stuhl Petri. Aber lasst uns doch nicht vom Thema abschweifen, höchstverehrte Äbtissin. Wir waren bei Gottes Worten, die angeblich in Euren Griffel, in Eure Wachstafeln geflossen sind. Warum Gott schon aus logischen Gründen nicht der Urheber sein kann, habe ich schon angedeutet. Einen weiteren theologischen Diskurs werde ich mit einer, wie ihr selbst vorhin gesagt habt, ungebildeten und unbelesenen Frau nicht führen, auch wenn das dumme Volk Euch den Titel Prophetissa Teutonica verliehen hat."
"Das war Kaiser Friedrich, aber was genau meint Ihr, Eure hochwohlgeborene Excellenz?"
"Euer Sarkasmus wird Euch nicht helfen, Oberin. Haltet Ihr mich für einen idiótes? Glaubt Ihr, ich komme hierher, ohne mir über Zuträger gewisse Informationen verschafft zu haben? Ja, auch in Nonnenklostern hat – im Gegensatz zu Eurer Meinung – Satan seine Gehilfen. Und manchmal sind sie auch der Heiligen Kirche dienlich. Also: Sagen Euch die Namen Amanita muscaria, Datura stramonium, Hyposcyamus niger oder Atropa belladonna etwas? Ach, entschuldigt bitte, ich vergaß. Auch das liber simplicis medicinae ist von Euch, Ihr habt tausende von Pflanzen und ihre Wirkungen auf den menschlichen Organismus beschrieben; selbstverständlich kennt Ihr Fliegenpilz, Stechapfel, Bilsenkraut und Tollkirsche, nicht wahr?"
Hildegard war schneeweiß geworden. Der Mönch genoss kurz diesen Anblick, zog dann eine Elfenbeindose aus seiner Kutte und hob sie anklagend zur Decke. "Hier in diesem Gefäß ist das Pulver, von dem Ihr eine Prise in Euren Wein streut, bevor Ihr Eure Visionen bekommt, stimmts?" Die Äbtissin hatte sich wieder gefasst und schnauzte Benno an:
"Das ist Medizin. Und sie ist, wie alles, von Gott. Sie hilft mir, Seine Botschaften besser zu verstehen, und sie …"
"Ja, ja, ja, ich weiß!", unterbrach sie Benno. "Wir Mönche haben, vor allem in der Fastenzeit, auch unser Mittel, um zu höherer Einsicht zu kommen. Aber es ist viel harmloser. Wir nennen es Bier. Davon bekommt man im Übermaß auch Visionen, aber beileibe keine göttlichen!" Und dann lachte er, dass die Butzenscheiben im Offizium wackelten und die Kerzen flackerten.
"Eminenz, Ihr versteht nicht …"
"Oh doch, meine Schwester, ich verstehe sehr wohl. Aber ich denke, ich werde diese Sache für mich behalten können. Ich gehe im Gegenzug davon aus, dass ich Abt Kuno einen positiven Bescheid bezüglich des Klosters überbringen kann."
"Ach ja, Ihr geht davon aus?" Hildegard war abrupt aufgestanden und auf Benno zugegangen. Diesem blieb nichts anderes übrig, als zu ihr hochzustarren. Zum Aufstehen war es zu spät. "Deine Verbindung zu Abt Kuno ist eine Verwerfliche, mein lieber Bruder im Herrn!", schrie sie auf den Zisterziensermönch hinunter. "Ein vitum contra naturem, ein Laster wider die Natur! Ein todeswürdiges Laster! Du hast meine Visionen, meine Predigten gelesen. Du hast auch gelesen, was ich über die Verfehlungen wider die Natur weiß. Ich erkenne einen Sodomiten sofort. Du bist einer von ihnen, ebenso wie Kuno, dem du, um seine widerliche Gunst zu behalten, mein Kloster, meine Reputation, ja sogar Gottes Worte opfern willst. Du kennst die Lehrmeinung der Kirche, du scheinheiliger Heuchler. Was werden die Kurienkardinäle sagen, was der Heilige Vater? Du hältst mich für eine ungebildete Frau, aber ich habe mehr Verbindungen, mehr Zuträger, als du dir in deinem dummen Hirn ausmalen kannst. Und mehr Zeugen. Glaubst du, ich weiß nicht, warum du dein Stammkloster verlassen hast? Ich mag ungebildet sein, aber nicht dumm. Wenn du mich erpressen willst, dann kann ich das auch. Doch deine Verfehlungen werden mit dem Tode bestraft, während meine Visionen auch in ferner Zukunft noch als von Gott gegeben anerkannt sein werden. Und nun hinaus aus meinem Kloster!" Hildegard drehte sich um und ging zur Tür. Jetzt, nachdem es an Benno gewesen war, bleich zu werden, überzog wieder Zornesröte sein Gesicht. Er sprang auf und schrie:
"Du bist eine Metze, eine Hure, du bist eine schlimmere Häretikerin, als alle Manichäer, Waldenser und Katharer zusammen. Ich verhänge das Anathema über dich, du seiest verflucht! Und jetzt habe ich eine Vision: In nicht allzu ferner Zukunft, wenn der neue Papst auf dem Stuhl Petri sitzt, werden die Häretiker und Weiber wie du im Feuer brennen!" Hildegard drehte sich um und sagte spöttisch:
"Ob ich wohl das noch erleben werde, dass ein sodomitisches Mönchlein den Kurs des Kirchenschiffes bestimmt?"
"Das ganz sicher nicht", antwortete Benno kalt und riss einen langen Dolch aus seiner Kutte. "Da wirst du schon lange im Höllenfeuer schmoren!" Doch als er sich auf Hildegard stürzen wollte, flog die Tür auf und knallte scheppernd an die Mauer. Mehrere Nonnen strömten ins Offizium und schwenkten drohend Knüppel, Bratspieße und Pfannen. Vorneweg die dicke Schwester Adelgunde, bewaffnet mit einem gewaltigen Küchenbeil.
Benno von Einstätten wankte zurück und ließ vor Schreck das Messer fallen.
"Danke, dass ihr heimlich gelauscht habt, meine Schwestern, deo gratias!", sagte Hildegard und atmete tief durch. "Aber unser Bruder im Herrn und ich verstehen uns. Lingua sile; non est ultra narrabile quicquam, nicht wahr, Eure Exzellenz? Vade in pace. Necessitas est lex temporis et loci. Begleitet unsere Gäste zum Tor."





III



'Die Notwendigkeit ist das Gesetz der Zeit und des Ortes. Ja, an dieses Gesetz wirst du noch denken, du Miststück', dachte Benno von Einstätten, als er mit seinen Knechten vor dem Torhaus des Klosters Rupertsberg aufsaß und in die Dunkelheit ritt. Immerhin hatten die Nonnen ihnen hell leuchtende Fackeln mitgegeben, die auch im Nieselregen nicht erloschen. 'Auch so ein Teufelswerk', dachte Benno. 'Doch das zeigt nur wieder Gottes Größe. Er verwandelt Hexenwerk in Gutes. Aber Hildegards Visionen bleiben Hexenwerk.
Wenn ich erst einmal in Rom bin und diesen Engländer vom Heiligen Stuhl vertrieben habe, dann wird diese Nonne verschwinden und für ewig schweigen, das schwöre ich!'


IV



Anno domini MCLIX erreichte Benno von Einstätten Rom, die Ewige Stadt.

Es war eine strapaziöse Reise gewesen, und in den verschneiten Alpen, wo sie sich mühsam über schier unwegsame Pässe gequält hatten, war sein Hass auf Hildegard fast verschwunden. Mehrfach hatte er mit sich gekämpft, wenn er nachts in einer eisigen Hütte, allein mit seinen Gebeten und schnarchenden Knechten den Morgen herbeisehnte, Hildegards Pulver zu probieren. Zu testen, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit hinter den Visionen stecken könnte. Wie würde es sich anfühlen, auch Gottes Sprachrohr zu sein, teilzuhaben an seiner Weisheit und Gnade? Aber jedes Mal hatte er widerstanden. Teufelswerk! Gott spricht nicht mit Hilfe pfeffrig riechender Pulver! Und als sie endlich Rom erreichten, war der Hass wieder voll da. Überall Weiber! Sogar zu Hadrians Privatgemächern hatte Nonnen Zutritt. Widerlich! Und mehr denn je war er davon überzeugt, dass er das Richtige tat. Der gotteslästerliche Engländer musste weg.
Er spann seine Fäden, knüpfte alte Verbindungen neu, schmeichelte, drohte erpresste, wie es seine Art war. Er stellte die Figuren neu auf für das nächste Konklave. Und als klar war, dass sein Wunschkandidat Rando Bandinelli an der Spitze der wählbaren Kandidaten eines etwaigen Papstnachfolgers stand, beschloss er zuzuschlagen. Zumindest konnte er sich der Zustimmung der Bevölkerung Irlands sicher sein. Hadrian hatte schließlich dafür gesorgt, dass die Insel von den Engländern erobert worden war.
Nein, töten wollte er Hadrian IV. nicht. Er wollte ihn der Lächerlichkeit preisgeben, er wollte, dass er wie ein Narr durch die Lande hüpfte und über göttlichen Visionen kreischte, er wollte, dass jedermann sah, dass göttliche Visionen Ausbrüche eines wahnsinnigen Hirns waren. Auch die Bücher seiner Erzfeindin Hildegard. Als sein Beichtvater begleitete er Hadrian auf einer Reise nach Anagni und mischte am Abend des 1. Septembers 1159 einen guten Löffel der 'Hildegardsmedizin' in dessen Weinbecher.
Mag sein, dass Benno noch nie etwas von der Regel gehört hatte, dass die Dosis das Gift mache, wie auch, hatte das doch erst Paracelsus 400 Jahre später erkannt, jedenfalls verstarb Hadrian IV. unmittelbar nachdem er seinen Becher geleert hatte.

Göttliche Visionen verkündete er vorher nicht.


Epilog




Weit entfernt davon, sich zu bescheiden, gründete Hildegard noch das Tochterkloster Eibingen. Und sie veröffentlichte weiter göttliche Visionen wie das liber divinorum operum, eine gewaltige Betrachtung der Natur im Licht des Glaubens und mehrere medizinischen Werke. Sie reiste und predigte weiter, auch gegen den maßlosen Klerus, über den sie wörtlich schimpfte: "Ihr seid eine Nacht, die Finsternis ausatmet und wie ein Volk, das nicht arbeitet ..."

Doch am meisten erboste den Zisterziensermönch Benno von Einstätten, dass sie immer wieder aufs Heftigste sexuelle Praktiken geißelte, die ihrer Meinung nach gegen die göttliche Schöpfungsordnung verstießen.
Täglich zitterte er, dass Hildegard seine verwerflichen Neigungen doch noch bekannt machen würde. Deshalb konnte er nicht direkt gegen sie vorgehen und ihre Visionen nicht als von Gott gegeben, sondern als Folgen der Einnahme teuflischer Zauberpulver anprangern.
Trotz aller seiner Bemühungen dauerte es noch bis zum Jahre 1179, als sein Wunschpapst Rando Bandinelli als Alexander III. auf dem 3. Laterankonzil 27 Kanones verkünden ließ.


Benno war inzwischen so vom alten Hass zerfressen, dass er sich über die Beschlüsse kaum noch freuen konnte, obwohl doch Canon Nummer 11 vorschrieb, dass Klerikern der gesamte Verkehr mit Frauen untersagt sei, und dass Nonnenklöster von Männern des Glaubens nicht mehr betreten werden durften. Canon 27 schließlich befahl, dass Häresie mit allen Mitteln, also auch mit weltlicher militärischer Gewalt zu unterdrücken sei. Zwar dachte er noch, dass er jetzt endlich Hildegard vernichten könne, doch dann erreichte ihn die Nachricht, dass sie, 82-jährig, genau einen Tag, bevor die Nachricht über die neuen Dogmen das Kloster erreichten, friedlich entschlummert war.
Was hatte ihm das Leben noch zu bieten, jetzt, nachdem ihm Gott seine Rache genommen hatte? Seinen Neigungen hatte er unter der ständigen Beobachtung im Lateran sowieso nicht mehr nachgehen können, und so entschloss er sich schließlich zum ultimativen Experiment, zum experimentum crucis.

Er ging in die Lateranbasilika, schüttete den gesamten Rest der 'Hildegardmedizin' in einen mit Wein gefüllten Messkelch, bekreuzigte sich und trank ihn aus.


Zeugen berichteten, dass er laut psalmodierend, mit Aposteln redend und den Untergang der Welt, das Armageddon prophezeiend durch die Kathedrale rannte und schließlich mit Schaum und Blut vor dem Mund tot vor dem Hochaltar zusammenbrach.

ENDE




Nachwort



Hildegard von Bingen, Abt Kuno, Volmer, der Sekretär, die Päpste sind geschichtliche Personen, ebenso die erwähnten Orte. Man kann sie, wenn auch in Ruinen, noch heute besichtigen. (Die Orte natürlich, nicht die Personen). Hildegards sterblichen Reste ruhen in Eibingen und warten noch immer auf ihre Heiligsprechung. Die Stellung der Frau, speziell in der Kirche des frühen Mittelalters, ist bekannt. Der Mönch Benno von Einstätten ist meiner Phantasie entsprungen, ebenso seine Behauptung, die Visionen Hildegards entsprängen dem Missbrauch psychogener Pflanzenwirkstoffe. Somit ist auch der Schluss, dass der Tod Hadrians und die spätere Inquisition mit ihren Verfolgungen der Katharer, Templer und Hexen letztendlich auf die 'Hildegardmedizin' zurückzuführen sei, reiner Unsinn. Der Begriff 'Hildegardmedizin' selbst ist reiner Unsinn. Sie ist ein Produkt des 20. Jahrhunderts, das in gewissen Dingen zum Rückfall ins Mittelalter neigt.
Ich persönlich bin allerdings von gewissen – in Maßen genossenen – Drogen der mittelalterlichen Mönche überzeugt. Lieber Leser, wandere einmal von Herrsching am Ammersee aus den 'Heiligen Berg' zum Kloster Andechs hoch, trinke ein, zwei Maß Andechser, blick' über das oberbayerische Land, und du wirst verstehen, was ich meine...



                                                                                                     *****

 

Impressum

Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet Monirapunzel für ihren unermüdlichen Einsatz

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