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Der Teufel muss des Herrgotts Henker sein.
Was er ergreift, das nimmt er hinweg.
                                           Martin Luther



I.




Rudolf Reichert glaubte nicht an das Böse. Er hatte während seiner Laufbahn bis zum Hauptkommissar bei der Kripo in München viele böse Menschen kennengelernt, viele böse Verbrechen bearbeitet, und er hatte oft an seinem Verstand gezweifelt angesichts der Scheußlichkeiten, zu denen Menschen fähig waren. Aber er glaubte nicht an das Böse im metaphorischen Sinne. Alle Gewaltverbrechen, die er bisher bearbeitet und gelöst hatte, waren irgendwie motiviert gewesen. Habgier, Eifersucht, Rache, Wut steckten dahinter. Verkorkste Kindheiten, traumatisierende Ereignisse, mittelalterliche Ehrbegriffe, verletzte Eitelkeiten. Es gab immer einen Grund, auch wenn es eine Geisteskrankheit war. Aber DAS BÖSE schlechthin, sozusagen der Satan, der Antichrist, Beelzebub in persona war ihm noch nicht begegnet. Das war etwas für Hollywood-Filmchen wie 'Der Exorzist' oder 'Das Omen'. So dachte er. Bis zu jenem Montag.
Er kam in Hochstimmung ins Büro, weil er das ganze Wochenende lang über die Vermisstenfälle nachgedacht hatte und anfangs keinen Schritt weitergekommen war. Die beiden Aldi-Tüten, die er mit Akten gefüllt mit nachhause genommen hatte, ergaben für ihn keine neuen Erkenntnisse, und er hatte sie am Sonntagabend wieder wütend zusammengepackt. Um Luft zu schnappen war er auf den Balkon getreten, hatte in den Himmel gestarrt und den tiefstehenden Mond betrachtet, der wie ein überdimensionaler, angeknackster Golfball sein bleiches Licht über die Dächer der Stadt schickte. Und dieser noch nicht ganz volle Mond in seiner seltsamen Unsymmetrie brachte ihn auf einen sonderbaren Gedanken.
Er und seine Kollegen von der SoKo hatten sich die Köpfe zerbrochen ohne Ende und ohne Ergebnis. Und geschimpft über diesen neuen Polizeichef und seinen Spezi, den neuen leitenden Staatsanwalt, die sich seit Berliner Studententagen kannten und gegenseitig protegiert hatten, bis sie plötzlich an der Spitze der Münchner Exekutive standen. Zwei Preußen! Wie dieses Malheur hatte passieren können wusste keiner genau, aber es gab zahlreiche Spekulationen und Verschwörungstheorien. Und als neue Besen wollten sie besonders gut kehren. Und sie wollten ihre Karriere beschleunigen, indem sie die Aufklärungsquote der Münchner Polizei noch steigerten.
'Mir san bundesweit Spitze' , so die zornigsten Stimmen, 'und jetzt kemman de Saupreissn daher, un wolln uns was verzähln.'

Jedenfalls sollte sich Hauptkommissar Reicherts Abteilung die ungelösten Vermisstenfälle der letzten fünf Jahre nochmals vornehmen und untersuchen, ob sich unter den Zigarettenholern, ausgerissenen Kindern und Ehefrauen, herzinfarktgefährdeten Pilzsammlern und untergetauchten Kleinkriminellen nicht doch Opfer von Gewaltverbrechen befanden.
Reichert war Beamter und Profi genug, um sich nicht vor Zorn in den krankheitsbedingten Ruhestand zu ärgern. Er stellte eine SoKo zusammen, die innerhalb weniger Tage die fraglichen Fälle noch einmal akribisch durcharbeitete, nachdem sich ihr Schrecken über mehr als 8000 als vermisst Gemeldete gelegt hatte. Über 7500 waren nämlich bereits nach wenigen Stunden oder Tagen wieder erschienen. Es blieben dennoch genug übrig, aber es wurde überschaubar. Und sie konnten durch ihre Arbeit die Zahl deutlich reduzieren. Manche Meldung hatte sich erledigt, weil die Gesuchten wieder aufgetaucht waren, das aber nicht gemeldet wurde, einige saßen im Ausland im Knast und in ganz traurigen Fällen war nur ihre Leiche gefunden worden, was einen Kollegen zu der makaberen Bezeichnung Karteileiche inspirierte. Ein Erfolg im Sinne der Aufgabenstellung ohne Zweifel, auch wenn noch genügend offene Fälle übrig blieben.
"D' Preissn wer scho z'friedn sei, Rudi", meinte Reicherts Partner, Kommissar Angermaier. Aber Reichert war nicht der Typ, der Preußen per se als blöde und Erbfeinde betrachtete. Vielleicht steckte etwas dahinter, vielleicht hatten sie einen Verdacht, auf den noch keiner gekommen war. Also hatte er die noch offenen Fälle mit nachhause genommen, um sie noch ein weiteres Mal durchzuarbeiten.
Und dann war da dieser Mond erschienen. Zünder für einen neuen Gedanken .
Hastig ging er zurück ins Wohnzimmer, schüttete den Inhalt der Alditüten wieder über den Couchtisch und notierte alle Zeitangaben, an denen die Vermissten zum letzten Mal gesehen worden waren. Dann rief er von seinem Laptop eine Internetseite auf, nach der esoterikgläubige Müslitanten ihre Zahnarzt- und Hundefriseurtermine planen konnten und verglich die dort aufgelisteten Mondphasendaten mit seinen Zahlen. Reichert hatte auf der Polizeifachhochschule in Fürstenfeldbruck genug von Statistik mitbekommen, dass er eine Signifikanz erkennen konnte.


II.



"Morgen Alois", sagte Reichert zu seinem Partner Angermaier, der schon missmutig hinter seinem Schreibtisch und der obligatorischen Kaffeetasse saß, auf der "I'm a cop's cup" stand. "Gibt's was Neues?"
"Mmn", war die zweideutige Antwort.
"Aber ich hab' was. Schau dir das mal an". Reichert schob Angermaier ein Diagramm vor die Nase, das er noch in den frühen Morgenstunden ausgedruckt hatte. "Schau her", sagte er und deutete auf die Kurven. "Bei unseren Vermissten sind welche dabei, die eine Gemeinsamkeit aufweisen!"
"Eine Gemeinsamkeit?" Angermaier war plötzlich hellwach. "Die haben wir doch nie gefunden, das sind alte Opas, junge Penner, Hausfrauen, Beamte, Kinder aus allen Ecken und Schichten, sogar Säuglinge sind dabei. Was haben die gemeinsam?"
"Das Datum. Sie sind alle am Tag vor einem Vollmond verschwunden."
"Was?"
"Ja, exakt vor Vollmond. Seit fünf Jahren jeden Monat einer. Nicht zwei oder drei Personen, nicht einen Tag danach oder fünf Tage vorher, sondern immer genau eine Person und immer genau am Tag vor Vollmond. Und wenn wir in den Akten weiter zurückgehen, werden wir auf dasselbe Ergebnis stoßen, darauf verwette ich meinen Arsch!" Angermaier starrte Reichert mit offenem Mund an.
"Ja leck mich doch …", murmelte er und studierte wieder das Diagramm. "Ich glaub's nicht!"
"Und du, was hast du Neues?", fragte Reichert. "Dein 'Mmn' vorhin klang so vielsagend."
"Ja, äh, Doktor Bellini hat vorhin angerufen. Da können wir deine Theorie gleich testen."
"Miranda?" Doktor Miranda Bellini war seit vielen Jahren Chefpathologin bei der KTU und mit Reichert auf eine seltsame, beiden nicht ganz klare Art befreundet.
"Ja sicher doch Miranda. Oder kennst du noch eine Doktor Bellini?" fragte Angermaier sarkastisch und fuhr fort: "Also, du weißt schon, der letzte Fall, vorigen Monat."
"Mann Alois, nerv mich nicht. Ja, das Baby, das vor'm Karstadt aus dem Kinderwagen verschwunden ist, während die Rabenmutter sich in der Kantine mit Bier vollgeschüttet hat. Und ja, verdammt noch mal, das Datum passt. Das Kind steht auf meiner Liste! Einen Tag vor Vollmond."
"Wow! Und das Baby hatte ein goldenes Kreuz an einem Kettchen um den Hals. Das war in allen Zeitungen abgebildet. Und jetzt hat laut Doktor Bellini ein Förster das Kettchen mit dem Kruzifix gefunden, zusammen mit ein paar Fetzen von den Babyklamotten."
"Herrgottnochmal, und wo?"
"Im Bernrieder Wald, nahe bei Kottgeisering. In einem Krähennest. Mir hat einmal jemand weismachen wollen, dass ein Uhu Fohlen weggeschleppt hat, aber dass Krähen Babys stehlen, toppt den Blödsinn noch."
Reichert hörte kaum noch zu, sondern wählte die Nummer der Pathologie und verlangte Doktor Bellini. "Was ist das für ein Schmarrn mit dem Baby, Doc?", raunzte er in den Apparat.
"Erst einmal ciao und guten Morgen, mein lieber ragazzo , wie war dein Wochenende? Danke, meins war schön, und, um auf deine Frage zu kommen, von wegen Schmarrn, imbecille ! Beim dem Sturm vorige Woche ist im Bernrieder Wald eine Buche umgeknickt. Ein Krähennest war drauf, und ein Förster hat's gefunden. Das Nest war mit blutigen Fetzen von Babykleidung ausgepolstert und eine Kette mit Kruzifix eingearbeitet. Sorgfältig, wie Krähen nun mal sind. Und der Förster hat das Kreuz erkannt. Kannst du mir folgen, bello? Im Gegensatz zu dir habe ich mir das Wochenende um die Ohren geschlagen und die Sachen analysiert. Die DNA ist eindeutig: Es sind die Sachen von dem Baby. Aber ich habe auch andere DNA-Spuren gefunden, Reichert. Hallo, bist du noch da?"
"Im Gegensatz zu mir? Ich fass' es nicht, Doc, aber sag' schon, habt ihr die Fremd-DNA in der Datenbank?"
"Negativ, Reichert. Es ist keine menschliche DNA".
"Sondern?"
"Canoidea. Familie der Hundeartigen. Und um deiner Frage zuvorzukommen: Die Familie des Babys hat keinen Hund."


III.



Der 'Bluthof' war ein verfallenes Gemäuer mitten im Bernrieder Wald. Er hatte seinen Namen aus der Zeit, als der Räuber Mathias Kneißl noch sein Unwesen in dieser Gegend trieb. Hier, in diesem Gehöft, südwestlich von Fürstenfeldbruck hatten sich er und seine Bande ein letztes blutiges Gefecht mit den Gendarmen geliefert.

"D' Woch' fangt scho guad o!"An diese Worte des Räuberhauptmanns auf dem Weg zum Schafott erinnerte sich Reichert, als er vom Waldrand aus auf das heruntergekommene Anwesen starrte. Die Pathologin Miranda Bellini kniete neben ihm. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, direkt vorne mit dabei zu sein, und Reichert hatte keine Einwände vorgebracht, weil er wusste, dass das zwecklos gewesen wäre. Sein Partner Angermaier nahm das Fernglas von den Augen und sagte:
"Sieht alles ruhig aus, wahrscheinlich keiner da. Gehen wir?"
"Vielleicht sollte ich erst mal allein …", antwortete Reichert, was energische Widerworte hervorrief. "Ich mein ja nur, das ist ein alter Bauer mit seinem behinderten Bruder, die da leben. Die im Dorf haben zwar gesagt, dass die nicht ganz richtig sind, aber was sagt das schon? Wir haben doch überhaupt nichts gegen die in der Hand! Das Einzige ist der Umstand, dass Krähen zur Materialsuche für den Nestbau nicht weit fliegen, und dass dieser Hof das einzige Gebäude in der Gegend ist. Aber der Entführer könnte auch die Sachen hierher gebracht und weggeworfen haben."
"Und die Leiche auch", sprach Angermeier aus, was die anderen nur dachten. "Trotzdem gehst du nicht allein dort hin!" Reichert nickte.
"Aber ihr bleibt erst mal hinter mir, damit wir die Alten nicht unnötig erschrecken."
Je näher sie dem Anwesen kamen, desto unheimlicher wurde es. Die Gebäude waren in einem desolaten Zustand. Scheunen mit eingestürzten Dächern, windschiefe Remisen und zerfallene Schuppen standen wie scheinbar willkürlich hingeworfen um das Haupthaus herum. Die Anordnung schien keinem Plan, sondern nicht-euklidischen Gesetzen zu folgen, ein Sammelsurium scheußlicher Unordnung. Alles war schief, krumm und verzogen und das nicht nur wegen der 300 Jahre, die die Hofstatt alt war, sondern scheinbar so gewollt. Unkraut überwucherte verzogene Wellblechbahnen, rostige Ackergeräte und Mauerreste, und auch das Haupthaus, zu dem ein morastiger Fahrweg führte, sah aus, als würde es bald im Sumpf versinken.
Die Sonne begann unterzugehen, und die langen Schatten, die auf die Ermittler zufingerten, wurden von immer dichter werdenden Nebelschwaden begleitet. Und mit dem Nebel kam der Gestank. Unwillkürlich hielt sich Miranda Bellini die Hand vors Gesicht und schimpfte:
"Porco dio, was für ein scheußlicher Ort! Lieber würde ich unter einer Isarbrücke hausen, als hier!"
"Da hast du wirklich Recht, Doc", sagte Reichert. Was stinkt denn hier so grauenhaft? Landluft ist das nicht!"
"Nicht umsonst heißt das hier Bluthof!", bemerkte Angermaier. "Volksmund tut Wahrheit kund. Aber wenn das zu Räuber Kneißls Zeiten so gestunken hätte, wäre der freiwillig aufs Schafott gestiegen."
Sie hämmerten an die verrottete Tür, versuchten durch die erblindeten Scheiben ins Haus zu blicken, riefen "Hallo!" und "ist da jemand?" – ohne Erfolg. Schließlich umrundeten sie das Gebäude und gelangten auf einen gekiesten Hof. Auch hier niemand. Sie blickten in diverse Schuppen, riefen wieder und sahen sich ratlos um. Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Hinter einem Mauerrest auf der anderen Seite des Hofs war ein Mann aufgetaucht und starrte sie feindselig an. Er war alt, sehr alt und genau so heruntergekommen, wie die Gebäude rings herum. In der Hand schwenkte er drohend einen gewaltigen Prügel. Bevor einer der Polizisten etwas sagen konnte schrie er:
"Verschwindet von meinem Grundstück, oder ich hol den Hund!"
"Herr Thalhofer?", rief Hauptkommissar Reichert, "Herr Franz Thalhofer? Oder sind Sie Eberhard Thalhofer? Der Bruder? Mein Name ist Hauptkommissar Reichert, das sind Doktor Bellini und Kommissar Angermaier. Wir sind von der Kriminalpolizei und hätten nur ein paar Fragen an Sie, wenn sie so freundlich wären …"
Der Alte riss die Augen auf, stand kurz wie eingefroren, dann schob er zwei Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus.
Was dann geschah dauerte nur wenige Sekunden, erschien aber den Beamten wie ein stundenlanger Alptraum des Grauens.
Aus dem Nichts erschien ein riesiger Hund, eine wahre Bestie, wie direkt aus der Hölle materialisiert. Schaum tropfte aus seinem monströsen Maul, die Lefzen waren hochgezogen und entblößten ein mörderisches Gebiss mit teuflischen Fangzähnen, die Haare auf dem baumdicken Nacken standen wie gefährliche Stacheln ab, der muskulöse Körper zitterte vor unverhüllter Wut und Mordlust, und aus seiner Kehle drang ein markerschütterndes Grollen. Dann tobte er los. Miranda stolperte rückwärts und fiel auf den Rücken, Reichert starrte gelähmt auf den heranrasenden Teufel, doch Angermaier reagierte instinktiv. Später würde er sagen, dass er keine Ahnung hätte, wie er das geschafft habe. Alles sei reflexartig abgelaufen, so als hätte er für diesen Moment jahrelang trainiert, wobei er sich doch immer um das vorgeschriebene Schießtraining gedrückt habe.
Jedenfalls riss er seine alte P7 aus dem Schulterholster, Entsichern, Zielen, Spannen und Abdrücken waren eine fließende Bewegung, und wie ein Automat gab er Schuss um Schuss ab und drückte noch weiter den Abzug, als das 7-schüssige Magazin längst leer war. Er traf mehrmals, was den Hund zumindest stoppte. Die Bestie heulte auf, schüttelte den riesigen Kopf, dass Blut und Schleim meterweit spritzten und hinkte zurück zu seinem Herrn.
"Fass!", schrie dieser wütend. "Pack sie, mach sie fertig, Eberhard!" Und als der Hund nicht sofort reagierte, schlug er mit seinem Knüppel brutal auf das Monster ein. Noch mal und noch mal und noch mal. Ein Schlag war anscheinend zu viel gewesen, was dem Alten offenbar plötzlich klar wurde. Die Bestie hatte sich zu voller Kalbesgröße aufgerichtet und knurrte seinen Herrn furchterregend an. "Stop!", schrie dieser, "weg mit dir, du Missgeburt, dort sind deine Feinde, Eberhard!" Und gleichzeitig zerrte er mit vor Furcht wahnsinnigen Bewegungen eine Pistole aus seinem Arbeitskittel.
Eine der vielen seltsamen menschlichen Eigenarten ist, dass in selbst lebensgefährlichen, unmöglichen, blitzlichtartigen Situationen Details wahrgenommen werden können, die für die Bewältigung der jeweiligen Situation völlig unerheblich sind. So bemerkte Reichert, - und er konnte sich später auch daran erinnern - dass es sich um eine Luger 08 Parabellum aus dem 1. Weltkrieg handelte, eine absolut marginale Tatsache. Weniger marginal war der Umstand, dass Thalhofers Reaktion ein Sekundenbruchteil zu spät kam. Der Hund sprang ihm mit einem gewaltigen Satz an die Kehle, ein Schuss wie eine Explosion krachte, und dann sahen die Polizisten nur noch ein in Staub gehülltes Tohuwabohu aus Hund, Herrn, Dreck und spritzendem Blut. Und plötzlich erstarben die Bewegungen, und es wurde totenstill. Nichts rührte sich mehr.
Nach schier endlosen Sekunden löste sich Reichert aus seiner Erstarrung, ergriff eine rostzerfressene Gewindestange, die im Unkraut vor sich hin rottete und näherte sich vorsichtig den reglosen Leibern. Angermaier folgte ihm, die leergeschossene P7 sinnlos im Anschlag. Auch Miranda Bellini hatte sich wieder aufgerappelt und sagte mit trockener, krächzender Stimme:
"Vorsicht, das Biest ist vielleicht nur bewusstlos!" Jetzt erinnerte sich Angermaier und schob ein neues Magazin in den Pistolengriff. Er zielte direkt auf den Kopf der Bestie, während Reichert sie vorsichtig mit der Gewindestange anstupste. Nichts. Das Monster war tot. Dann fiel ihr Blick auf den Alten, und vor Entsetzen versagten ihre Stimmen. Bellini war zu ihnen getreten, und auch sie als erfahrene Pathologin kämpfte mit ihrer Fassung. Thalhofer hatte die Augen so weit aufgerissen, dass sie völlig unnatürlich, fast wie nicht zu ihm gehörend, auf seinem Gesicht zu liegen schienen. Auf dem, was von dem Gesicht noch da war. Von unterhalb der Nase bis zum Brustbein klaffte eine riesige, blutige Höhle, aus der die Stümpfe der Luft- und Speiseröhren wie offene Hydraulikschläuche ragten. Wangen, Unterkiefer und Kehlkopf waren weggefetzt und der Kopf nur noch über einen Wirbelsäulenrest mit dem Körper verbunden. Stöhnend wandten sie sich ab und gingen zum Haupthaus zurück. Sie setzten sich auf die modrige, von Pilzen und Moos überwucherte Holzbank und starrten stumm auf den Waldrand, der vom Vollmond hell bestrahlt wurde. Schließlich sagte Miranda:
"Er hat seinen Hund Eberhard genannt, wie seinen Bruder."
"Stimmt", sagte Angermaier. "Solche Marotten gibt’s. Ich hatte mal einen Chef, der hieß Andreas. Und sein Riesenschnauzer auch. Es war immer lustig zu hören, wie er sozusagen sich selbst beschimpfte: ' Fuß, Andreas! Obsd jetzt her gehst, Andreas?! Pfui, Andreas!" Reichert ließ ein gequältes Lachen hören und sagte dann:
"Also Leute, lasst uns die 'Infanterie' holen,"


IV.



Es dauerte nicht lange, und die 'Infanterie' krempelte den Hof um. Zwei Generatoren knatterten, große Scheinwerfer tauchten die Ruinen in grelles Licht, und es herrschte reges Treiben aus KTU-Leuten in ihren durchsichtigen Schutzanzügen, Polizeifotografen, Hilfstruppen der Pathologie, Sanitätern, uniformierten Beamten zur Tatortsicherung und zwei Führern der Hundestaffel mit ihren Tieren. Und diese wurden sofort fündig. Der Gestank kam aus einer großen, schlampig mit Planen und Brettern abgedeckten Grube hinter einem Schuppen und war so bestialisch, dass die Hundeführer ihre Tiere nicht gebraucht hätten. Und das, was im Licht ihrer Lampen auftauchte, gab Reichert, Angermaier und Bellini den Rest. Von jetzt ab glaubten sie an das personifizierte, real existierende Böse. Nur der Teufel konnte Menschen zu Taten treiben, wie sie in Ruanda, Srebrenica, Kambodscha und Auschwitz geschehen waren. Und südlich von Fürstenfeldbruck auf dem Bluthof. Wahllos durcheinander lagen Kleidungsstücke und menschliche Körperteile in der Grube, vor allem große Oberschenkelknochen, die, wie Miranda Bellini auf einen Blick erkannte, Nagespuren von einem mörderischen Gebiss aufwiesen. Ebenso wie der zersplitterte Schädel eines Kindes, der obenauf lag. Das überforderte auch die abgebrühte Pathologin, die weiß Gott schon genug Scheußlichkeiten gesehen hatte. Lautstark würgend erbrach sie sich minutenlang in die Grube und mit ihr alle, die um sie herum standen.
Und dann, wie ein Wunder, das das Grauen etwas abmilderte, fand eine junge Polizistin, die sich in einen schulterhohen Erdtunnel gewagt hatte, dessen Eingang sich unter einer versteckten Klappe in einem zerfallenen Schuppen befand, einen Menschen. Eine Frau um die dreißig, und sie lebte. Mit einem Kälberstrick an einen Pfosten gefesselt lag sie am Ende des Ganges und konnte vor Angst, Entsetzen und schließlich Erleichterung kaum ein Wort herausbringen. Ein Krankenwagen brachte sie direkt in die psychiatrische Abteilung des Großhaderner Klinikums.


V.



Mehrere Tage waren vergangen, und Reichert stellte bei der morgendlichen SoKo-Besprechung die übliche Frage:
"Was haben wir Neues?" Einer der Ermittler antwortete:
"Also, mittlerweile konnte die KTU 34 Opfer anhand der DNA identifizieren, aber es sind sicher noch viel mehr. Der Bruder steht auf der internationalen Fahndungsliste, aber wir haben noch keine Spur. Aber jetzt der Hammer, Leute: Gestern Abend kam das Gutachten der Psychologen, die das Tagebuch des Alten ausgewertet haben. Man fasst es kaum, dass der alles akribisch aufgeschrieben hat! Dieser wahnsinnige Waldschrat, dieser perverse Schizo, dieser …"
"Zur Sache, Kollege", mahnte Reichert.
"Ja also, dieser … Franz Thalhofer hat anscheinend tatsächlich geglaubt, dass sein Bruder sich an jedem Vollmond in einen Werwolf verwandelt. Und um die Menschheit vor größeren Attacken von ihm zu schützen, hat er ihm – Menschenfreund, der er war – zu jedem Vollmond einen Menschen spendiert, den er willkürlich irgendwo entführt hat. In seinem Wahn hat er die Opfer wahrscheinlich seinem Monsterköter bei lebendigem Leib zum Fressen gegeben und die Reste einfach in die Grube geschmissen. Die Krähe, durch die wir gottlob auf ihn aufmerksam wurden, hat die Stofffetzen und die Kruzifixkette vermutlich irgendwo auf dem Hof gefunden und stibitzt. Und einen Bruder Eberhard gibt es wahrscheinlich gar nicht."
"Doch", entgegnete Reichert. "Die Leute im Dorf haben von ihm gesprochen, und er ist auch seit Ewigkeiten als wohnhaft auf diesem Hof gemeldet. Sonst noch was?"
"Na ja, die Psychologen schreiben dann noch einiges unverständliches Zeugs, Lykanthropismus, Metamorphosen, zitieren Plinius und Herodot, schreiben über – wie spricht man das aus? – Loupsgaroux und so weiter. Jedenfalls hätte der Alte schon vor Jahrzehnten in die Klapse gehört, aber da draußen hat das keiner gemerkt. Also, wie sollen wir jetzt weitermachen, Chef? Chef?"
Reichert schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er konnte die Bilder noch immer nicht aus dem Kopf bekommen. Auch konnte er sich nicht vorstellen, wie ein Mensch so wahnsinnig war, dass er über wer weiß wie viel Jahre präzise jeden Monat einen gnadenlosen Mord begehen und gleichzeitig ein unauffälliges Leben führen konnte. Oder ist jeder Mensch potentiell und auch essentiell ein Ungeheuer? Dieser Fall sprengte alles, was er in seiner Laufbahn erlebt hatte.
"Also Kollegen, wir haben viel scheußliche Arbeit vor uns. Wir müssen die Angehörigen der bisher identifizierten Opfer benachrichtigen, wir müssen den Zeitraum unserer Nachforschungen um mindestens dreißig Jahre erweitern, soweit, bis keine Mondphasenrelation bei den Vermissten mehr auftritt, wir brauchen Details zu den Entführungen, müssen das Umfeld checken, Bezüge zu anderen Straftaten prüfen, eventuelle Mittäter ausschließen, wir müssen die blutrünstige Presse im Zaum halten und wir müssen den verdammten Bruder finden. An die Arbeit!"


VI.



Müde, erschöpft und psychisch angeschlagen beschloss Reichert, heute früh nach Hause zu gehen, obwohl er wusste, dass er auch dort keine Ruhe finden würde. Die Bilder der zerfetzten Kehle und die grauenhafte Leichengrube ließen keinen erholsamen Schlaf zu. Und die Ursache? Ein Werwolf! Was für ein hirnrissiger, mittelalterlicher Blödsinn, der sich irgendwann und irgendwie in einen Kopf gefressen hatte und in solch einem grauenhaften Irrsinn endete! War die Menscheit wirklich mehr als nur einen Wimpernschlag von solch archaischen Vorstellungen entfernt?
Das Telefon schreckte ihn mitten in der Nacht aus wilden, aberwitzigen, gewalttätigen Alpträumen hoch. Doktor Bellini war in der Leitung.
"Reichert, entschuldige, aber ich musste dich sofort anrufen. Wie geht's dir?"
"Hi Doc, beschissen wäre geprahlt, aber du hörst dich auch nicht gerade gut gelaunt an. Was ist los?"
"Ja also, ich weiß nicht, aber ich glaube, ich werde langsam verrückt. Wir sind doch die ganze Zeit mit den Analysen der Knochenreste beschäftigt, und ich habe mir erst vorhin die Zeit genommen, mir den Hund anzuschauen. Bissprofil und so, du weißt schon. Also, wie soll ich sagen? Ich ziehe die Kühlwanne raus, und, äh, also der Hund ist weg. Das heißt, es lag nur ein Haufen Staub in der Wanne. Und mitten in dem Staub – und jetzt halt dich fest, Reichert, – lag eine selbstgegossene Pistolenkugel. Eine Silberkugel."


ENDE




BRieser14411

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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2011

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