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Rückblicke

 

 

Ach wissen Sie, was soll ich sagen? Nein, ich kann nicht klagen, eigentlich geht es mir sehr gut. Nur das Alter … Ich lebe hier in diesem alten Reichsstädtchen Nördlingen, schaue hinüber auf die romantische Stadtmauer, auf den hohen Turm mit dem lustigen Namen 'Daniel' und bin zufrieden. Das Heim ist wunderbar für mich alte Dame, ein schönes Ambiente, wie man so sagt, und es hat etwas, das man heutzutage leider immer seltener findet: liebevolles Pflegepersonal. Am Wochenende, wenn Besuchszeit ist, herrscht ab und zu ein bisschen Trubel, aber unter der Woche ist es ruhig. Zu ruhig, finde ich manchmal und fühle mich dann etwas einsam. Aber ich habe ja meine Erinnerungen, denke an mein vergangenes Leben zurück, wie es alte Leute halt tun und werde oft etwas wehmütig.

 

Ja, ich hatte schon ein interessantes Leben, habe viel erlebt, bin weit herumgekommen, das können Sie mir glauben. Und ich habe viel gesehen, auch einiges, was ich lieber nicht gesehen hätte. Sie als Nachkriegskind können das ja gar nicht nachvollziehen, wie das damals war, als wir schon als junge Hüpfer in den Krieg ziehen mussten. Ich bin ja als junges Mädel 1944 noch zum Einsatz gekommen, gerade mal 14 Jahre alt. Theresia, die Tochter von Josef Gebele, hat mitten in Ludwigshafen in der Anilinfabrik, einem Hauptangriffsziel der englischen Bomber, am Klappenschrank Telefondienst gemacht, während die Herren Offiziere zitternd im Bunker gesessen sind. Wie bitte? Wer Josef Gebele ist? Das erzähle ich Ihnen gleich.

Ich bin 1930 in Allach geboren und habe meine Jugend friedlich in Bayern verbracht. Ach war das schön, auch noch, als der Krieg anfing! Natürlich musste ich von früh an arbeiten, aber das war halt damals so, da dachte man sich nichts dabei. Aber stellen Sie sich den Schock vor, als es plötzlich hieß: Einberufung zur Wehrmacht, marsch, marsch, ab ins Rheinland, von heute auf morgen.

Zwar war die Pfalz bayerisch, gehörte also auch irgendwie zur Heimat, aber es war doch etwas ganz anderes. Allein diese seltsame Sprache! Und dann die dreckige, stickige Luft! Arbeitskräfte wurden ja nicht in den Weinbergen gebraucht, sondern in der Industrie. Und dorthin wurde ich geschickt, dahin, wo sich Stahlkochereien und Chemiefabriken mit Kanonenschmieden und Aluminiumwerken abwechselten. Zum Glück war ich nicht allein. Sechzehn Kolleginnen teilten mein Schicksal, und geteiltes Leid ist ja bekanntlich halbes Leid. Und, so jung wie wir waren, waren wir auch gut drauf. Schließlich ging es um etwas. Für Führer, Volk und Vaterland! Es war uns eine Ehre, so wichtig für das Große, Ganze zu sein. Schon bald erfassten mich Siegestaumel, Euphorie, Begeisterung und Hingabe – was für ein Irrsinn, nachträglich betrachtet. Ich weiß, Sie können das nicht verstehen, und ich bete für Sie, dass Sie nie in eine solche Lage kommen. Und dann sorgte die Vorsehung dafür – auch unser geliebter Führer glaubte ja an die Vorsehung statt an Gott -, dass in Ludwigshafen mein direkter Vorgesetzter Josef Gebele wurde, ja der, von dessen Tochter ich vorhin erzählt habe. Auch er ein Bayer, der ins Rheinland versetzt worden war, was uns gegenseitig natürlich sofort zu Freunden machte. Nein, nicht was Sie denken, das war damals völlig unmöglich, väterlicher Freund trifft's eher. Im Zivilberuf war Josef Oberlokheizer mit Beamtenstatus – worauf er immer sehr stolz gewesen ist. Er wurde also sozusagen mein Vorgesetzter, wenn natürlich auch der eigentliche Chef Alois Thum war, ein Volldepp der Sonderklasse, entschuldigen Sie. Und der war aber auch trotz Parteibuch und eisernem Kreuz nur ein winziges Rädchen in der ganzen Hierarchie – heute wird das nicht anders sein, oder? Sehen Sie.

Wir arbeiteten damals was wir konnten, fast bis zum körperlichen Zusammenbruch. Doch der eigentliche Zusammenbruch, nämlich der des 1000-jährigen Reiches, ließ noch auf sich warten. Aber schließlich wurde es so eng - die Franzosen rückten immer näher -, dass nur noch eines übrig blieb: Absetzen nach Osten. Mit einem zusammen gewürfelten Haufen von Militärs, Zivilisten, bestehend aus alten Männern, halbverhungerten Frauen mit kleinen Kinder und fanatischen SS-Schergen, die jeden Defätisten wegen angeblicher 'Wehrkraftzersetzung' gnadenlos erschossen, rettete ich mich über die letzte noch intakte Brücke zwischen Ludwigshafen und Mannheim über den Rhein. Ich habe das Knallen und Krachen noch im Ohr, als die alten Volkssturmmänner die Brücke direkt hinter uns sprengten. Außer den Arschlöchern der SS glaubte niemand mehr an den Endsieg. Verzeihen Sie einer alten Frau, aber es waren einfach Arschlöcher!

Es war eine verrückte Zeit. Was habe ich für Menschen kennen gelernt, damals! Helden und Heilige, Narren und Mörder, Wahnsinnige und Idioten – das gesamte Spektrum von Gottes kuriosem Tierpark. Aber wenigstens blieb mir das Schicksal einiger Freundinnen erspart, die damals mit mir ins Rheinland versetzt worden waren. Sie wurden in den Balkan geschickt, nach Süditalien, nach Spanien. 'Toll', habe ich damals noch neidisch gedacht, aber als ich dann gehört habe, dass sie von ihrer Aufgabe, die Truppen zu unterstützen, abgezogen worden waren, um unschuldige Menschen nach Auschwitz zu bringen, die dann dort bestialisch umgebracht wurden, da hat mein Herz einen unheilbaren Knacks bekommen. Ich bin von dieser Aufgabe verschont geblieben, aber das ist mir kein Trost. Jeder hat damals gewusst, was da passiert, lassen Sie sich nichts anderes erzählen! Aber sonnen Sie sich nicht in der Gnade der späten Geburt! Hunderttausende sterben heute durch Verhungern. Millionen werden unterdrückt, verhaftet, sogar hingerichtet durch Staatsoberhäupter, die nichts anderes als ekelhafte Massenschlächter sind, aber doch, Gott Mammon zu Ehren, mit militärischen Zeremonien von unseren demokratischen Völkern empfangen werden.

Ach was rede ich denn, ich bin eine alte Frau, und Sie können das täglich im Fernsehen sehen, im Gegensatz zu mir damals. Haben Sie ein schlechtes Gewissen? Was sagen Sie, das darf man nicht vergleichen? Kindchen, das muss man vergleichen!

Aber ich schweife ab. Sie wollten ja wissen, wie es mir ergangen ist. Tja, die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie brennen nicht mehr so schlimm. Trotzdem: Jetzt bin ich so alt, und ich leide noch immer an der Vergangenheit. An der Zukunft werden Sie leiden müssen.

Zurück zur Geschichte, bevor die Besuchszeit zu Ende geht. In den Endwirren des glorreichen Dritten Reiches verlor ich den Kontakt zu Josef Gebele, erfuhr aber später, dass seine Wohnung in der Pfalz zwar von Bomben zerstört worden ist, seine Familie aber überlebt hat und – jetzt halten Sie sich fest – ausgerechnet hier in Nördlingen wieder sesshaft geworden ist. In Bayern! Aber als ich hierher gekommen bin, war er schon lange gestorben. Panta rhei.

 

Die Zeit nach dem Krieg war schlimm. Es gab nichts. Und dann begann das Wirtschaftswunder. Alles vorbei, alles vergessen. Schwob mas obi, wie wir in Bayern sagen. Franz Josef Strauß, (das ist der, der sagte, jedem solle die Hand abfallen, der noch einmal ein Gewehr in die Hand nähme) kabbelte sich mit Herbert Wehner, der NATO-Doppelbeschluss wurde verabschiedet, alles ging weiter wie seit 60000 Jahren.

Ich hatte die Nazibande überlebt, bekam wieder eine Arbeit im bayerischen Wald, 'Zonenrandgebiet', ein neues Wort, dann bekam ich einen Job im Allgäu und durfte schließlich nur noch täglich sechzig Kilometer zwischen Aalen und Donauwörth pendeln. Das tat richtig weh, na ja, nicht wirklich, ist eher zum Kichern. Donauwörth: Bayern. Aalen: Baden-Württemberg. Jaja, der Lokalpatriotismus, Sie verstehen mich doch wohl nicht falsch, oder? Zumal ich immer häufiger bei meiner Arbeit von jüngeren Kolleginnen unterstützt werden musste. Das Alter, Sie verstehen?

Und dann kam dieser Tag, an dem mir mein vorgeschädigtes Herz gänzlich gebrochen wurde. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, von frühester Jugend an. Und dann bekommt man plötzlich den Stuhl vor die Tür gesetzt. Von so einem Krawattenschnösel.

Kam zu mir, im Schlepptau ein Haufen Journalisten, Lokalpolitiker von der hintersten Hinterbank, Klugscheißer aus der Wirtschaft (buchstäblich – sie stanken nach Bier gegen den Wind) und ein paar verbeamtete Trottel von der Bundesbahn. Und dann klappte dieser Schnösel seinen Aktenkoffer auf und verteilte Papierfetzen (Infos nannte er das) an die ganze Mischpoke. Ein Blick reichte mir, und mein geschwächtes Herz brach endgültig. Es war mein Untergang. Wirtschaftsgutachten, Investitionsanalysen, Ergebnisanalysen waren die Geheimnisse, die er seinem blank geputzten Koffer entnahm.

Bitte blasen Sie den Rauch Ihrer Zigarette doch mal in meine Richtung. Aah, danke, das tut gut. Ja, diese Gutachten waren mein Untergang. Es gab zwei Alternativen, und in beiden hatte ich keinen Platz mehr. Entweder die Bahnstrecke wird stillgelegt oder elektrifiziert.

Können Sie nachfühlen, was ich empfunden habe? Ich konnte ja nicht raus aus meinem Gleis, sonst hätte ich alte Dampflokomotive den Kerl unter meinen 26 Tonnen zermalmt. Aber – was soll ich mich beschweren? Wenigstens wurde die Strecke erhalten und damit auch der Weg in mein Altersheim. Ich stehe nun hier mit meinen 90 Jahren im Lokschuppen 3 des Bayerischen Eisenbahnmuseums in Nördlingen, und ab und zu setzen mich meine Pfleger unter Dampf. Ich sage Ihnen, das ist wie Schampus in den Adern!

Besuchen Sie mich doch wieder einmal, ich würde mich sehr freuen!

 

INFO:

www.bayerisches-eisenbahnmuseum.de

 

 

 

Impressum

Texte: Bert Rieser
Cover: Cover: frager/pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Josef und Resi

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