Die Weisheit der Welt
Nun denn, ich will euch eine Geschichte erzählen, zu eurer Erquickung und aufdass ihr etwas lernen möget, so ihr sie denn verstehen solltet …
Es
war einmal ein junger Prinz, der hieß Thalisuah. Er lebte ziemlich einsam im Palast seines Vaters zwischen den zwei Strömen, wo es immer warm war und bunt und friedlich und schön. Nicht so kalt und grau, wie bei euch. Er hatte viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken und viele, viele Bücher darüber gelesen, wie die Welt funktioniert und vielen weisen Männern aus seinem Land zugehört, aber er war unschlüssig, wer Recht hatte. Danach las er auch noch die Bücher der Griechen, die einst die gesamte Welt beherrscht hatten, die Schriften, der Inder mit den seltsamen Buchstaben, das Gekrakel der gelben Männer, und dann beschloss er schließlich, sich nach keinem Buch, nach keinem Glauben und nach keiner Vorschrift mehr zu richten. Er meinte erkannt zu haben, dass alle wichtigen Bücher, Vorschriften und Religionen in ihm selbst waren. Sein eigener Wille sollte künftig die einzige Richtschnur seines Handelns werden.
Eines Tages hörte er aber von einem weisen Buch, das alle Klugheit der ganzen Welt enthalten würde und das von einem Händler in der großen Stadt im Nachbaremirat zum Verkauf angeboten würde.
"Das will und das werde ich besitzen! Das ist mein fester Wille!", schrie er in die Dunkelheit des Gartens hinaus und machte sich am nächsten Morgen sofort auf den Weg, obwohl er doch eigentlich kein Buch mehr lesen wollte.
Ohne jemandem etwas zu sagen warf er das Gepäck auf sein Pferd und trieb es auf den weiten Weg durch die heiße Wüste in Richtung der großen Stadt. Und er wollte schnell sein, bevor Konkurrenten das Buch kaufen würden. Er trieb sein Pferd zu Höchstleistungen an, quälte es mit der Reitpeitsche, knallte ihm die Hacken in die Flanken, und das Tier rannte und rannte, bis es in der höchsten Mittagshitze tot zusammenbrach.
"Ich will, dass du läufst, du verdammte Mähre", schrie Thalisuah und schlug auf den Kadaver ein, während ihm der Schweiß aus allen Poren schoss.
Ein Kamelzug kam schließlich entgegen, und der Karawanenführer blickte verwundert auf das seltsame Schauspiel.
"Willst du das Tier zum Leben peitschen?", fragte er schließlich.
"Wenn es gehen würde, ja.", antwortete der Prinz. "Aber der Zosse hat seinen eigenen Willen!"
"Da irrt Ihr Euch, Herr! Das Tier hatte keinen festen eigenen Willen. Ihr habt ihm Euren Willen aufgezwängt." Missmutig starrte Thalisuah in die Ferne und fragte schließlich:
"Wie komme ich jetzt in die Stadt?"
"Ihr könnt mir den Esel abkaufen", antwortete der Karawanenführer, "für zwanzig Goldstücke."
"Das will ich wirklich nicht", sagte der Prinz empört. "Mein freier Wille führt mich auch so in die Stadt!"
Der Karawanenführer wartete grinsend ab, und nach kurzer Zeit schon konnte er die 20 Goldstücke einstecken und den Prinzen beobachteten, wie er auf seinem Esel in Richtung Stadt ritt.
Der Wasserschlauch war fast leer, als Thalisuah ein dringendes Bedürfnis verspürte.
"Ich will das nicht, ich will weiter, ich habe einen freien Willen, ich will, ich will nicht …" quäkte der Prinz, mit der Folge, dass er seinen Kaftan vollpisste. Er biss die Zähne zusammen und ritt weiter. Doch plötzlich wurde der Esel langsamer und blieb schließlich stehen. Thalisuah tobte wie ein Dschinn auf seinem Rücken herum, hieb ihm die Fersen in die Seiten, aber es nutzte nichts. Der Esel ging keinen Schritt weiter und schnaubte nur unwillig.
"Du blöder Esel!", schrie Thalisuah "Mein Pferd ist wenigstens gerannt, bis es tot war!"
"Da siehst du mal, wer da dumm ist", sagte eine Alte, die plötzlich des Weges kam und zahnlos lachte. "Der Esel hat seinen eigenen freien Willen. Der nützt ihm zwar nichts, wenn du ihn zu Tode prügelst, weil er dann ebenso tot ist wie dein Pferd, aber er quält sich wenigstens vorher nicht so blöd. Und dir nützt sein Tod gar nichts!"
Zähneknirschend stieg Thalisuah von dem bockigen Reittier, funkelte die Alte böse an und fragte dann: "Wie weit ist es bis zur Stadt?"
"Das musst du schon selbst herausfinden, du dummer Tor!", antwortete die Alte und ging ihres Weges. Ein unbändiger Zorn erfasste Thalisuah. Er ergriff seine Reitpeitsche, drehte sie um, sodass der silberne Knauf als Schlagwaffe dienen konnte und rannte der Alten nach, um ihr den Schädel einzuschlagen. Doch plötzlich hielt er inne. "Es ist mein freier Wille, die Hexe zu erschlagen, aber es ist auch mein freier Wille, mich nicht mit ihrem Blut zu besudeln. Verdammt, was mach ich nun?"
Wütend schleuderte er die Peitsche Richtung Esel, der hämisch iiihaaaahiiiihaaah brüllte und das Weite suchte.
Bald erkannte Thalisuah, dass die Stadt nicht mehr weit war. Die Zinnen leuchteten im Abendrot, als er schließlich durchs Stadttor trat. Er dankte Allah, Jehova und Shiva und allen anderen Göttern die ihm so einfielen und fragte sich nach dem Laden des Buchhändlers durch. Bald hatte er das Geschäft gefunden.
Der Händler betrachtete ihn lange und wollte endlich wissen, warum er dieses Buch haben wolle.
"Weil ich es haben will, verdammt noch mal! Es ist mein Wille, es zu besitzen", mein freier Wille!", plärrte der Prinz genervt, "und jetzt nenn mir deinen Preis und fertig!"
"Dein freier Wille?", sagte der Händler und schüttelte den Kopf. "Was hätte dir dein freier Wille gesagt, wenn du nie von diesem Buch erfahren hättest? Mein
freier Wille sagt mir dagegen, dass ich dir das Buch nicht verkaufen werde."
Thalisuah stand vor Zorn wie versteinert. Schließlich wandte er sich um und verließ grußlos den Laden. Doch sein Wille war ein widerborstiger, eherner. Er wollte das Buch, egal wie.
Als die Dunkelheit hereingebrochen war und der Händler seinen Laden versperrt hatte, bestieg der Prinz einen Feigenbaum hinter dem Haus und versuchte von dort auf den Balkon zu gelangen, um das Buch aus dem Laden stehlen zu können. Doch der Ast brach, und Thalisuah landete unsanft auf dem Hintern. Nachbarn, durch die seltsamen Geräusche aufgeschreckt, rannten aus ihren Häusern, hielten ihn fest und übergaben ihn dem Kadi.
Dieser hörte die Geschichte an, die der Prinz ohne Beschönigungen, aber mir den ganzen Gedanken und Erklärungen zu seiner Vorstellung des freien Willens von sich gab, und dann sagte er:
"Junger Mann, wie oft hast du auf deiner Reise erlebt, dass es nichts Falscheres, nichts Dümmeres gibt, als die These vom freien Willen? Du hast mit dieser Prämisse gegen jede Logik dein Pferd zu Tode getrieben, dein freier Wille scheiterte am freien Willen deines Esels, er scheiterte an dir selbst oder den dir eingefleischten Regeln unserer Gesellschaft, als du die alte Frau erschlagen wolltest, er scheiterte an deinem eigenen Körper, der sich seiner Notdurft entgegen deines freien Willens entledigte, er scheiterte am 'Nein' des Händlers und an der mangelhaften Standfestigkeit des Feigenbaums. Deine These des freien Willens scheiterte an allen Ecken und Enden. Und du solltest für deine Dummheit büßen." Der Kadi machte eine lange Pause, während dem Prinzen das Herz in seinen Kaftan rutschte, zumal das Nachbaremirat nicht gerade freundschaftliche Beziehungen zu dem seines Vaters unterhielt. Endlich sprach der Richter weiter: "Aber mein eigener Wille sagt mir jetzt: Lass diesen Narren gehen! Er möge hoffentlich etwas gelernt haben. Mariam, führe diesen 'Weisheitssucher' hinaus!"
Thalisuah hatte nicht gehofft und nicht gewollt, Gnade zu finden, denn er war sich sicher, dass er im Recht war und wollte noch aufbegehren, als ihn Mariam, die Tochter des Kadis, am Arm nahm und ihm in die Augen schaute. Da war es um den Prinzen geschehen. Ohne Widerstand ging er mit nach draußen. Er vergaß alles, was er verkörpert hatte, er vergaß alle Vorsätze, alle Philosophien, alle Einwände, alle Besserwisserei. Er war plötzlich über alle Ohren und unsterblich verliebt.
Vor dem Gerichtgebäude trat plötzlich der Buchhändler an sie heran und sagte:
"Da der Kadi Euch freigesprochen hat, will ich Euch nicht länger das Buch verweigern. Es ist von Aristoteles, und in ihm steht alles, was man braucht, um die Welt zu verstehen und in ihr zu bestehen. Es heißt "Über die Liebe".
Wollt Ihr es noch haben?"
Der Prinz sah erst ihn an, dann Mariam und sagte schließlich lachend:
"Nein, guter Mann, dein Buch kannst du behalten, ich brauche es nicht mehr!"
Dann küsste er Mariam, und sie gingen ihrer Wege.
Letztendlich siegte so die Liebe über alle Philosophie, Psychologie und über den freien Willen sowieso.
So, das war sie, meine Geschichte. War sie gut? Habt ihr erkannt, dass sie vor tausend und tausend Jahren gespielt hat, oder vor hundert und hundert Jahren, oder gestern oder übermorgen? Habt ihr die Wüste gespürt, den Durst? Habt ihr Mitleid gehabt oder wenigstens Verständnis, oder habt ihr über den dummen Prinz den Kopf geschüttelt? Wenn ja, dann habe ich sie gut erzählt. Wenn nein, dann denkt euch doch, verflixt noch mal, selbst eine bessere aus. Ihr habt das Zeug dazu: eure Phantasie!
©BertRieser4111
Texte: Cover: Jerzy, pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2011
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