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Für alle Zeiten




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ischlermeister Gropius trat zurück, ging in die Hocke und warf einen prüfenden Blick über sein Werkstück.
Er benötigte keine Messlatte, kein Streichmaß, keinen Präzisionswinkel, um festzustellen, ob es gelungen war. Er brauchte nur seine Augen und seine Fingerkuppen. Vorsichtig fuhr er an einer Kante entlang und fand bestätigt, was er im schrägen Lichteinfall schon gesehen hatte: Eine leichte Unebenheit war noch zu glätten, dann würde seine Arbeit perfekt sein. Seufzend nahm er einen Putzhobel und machte sich noch einmal an die Arbeit.

Gropius war ein Meister der alten Schule. Nie wäre er an diese Nacharbeit mit Schleifpapier gegangen oder etwa gar mit einem Schwingschleifer. Undenkbar. Nicht bei einer Arbeit für Frau von Sättingen, seiner ältesten und treuesten Kundin. Und seiner kritischsten. Sie erwartete immer Perfektion. Und Dauerhaftigkeit. Ja, eigentlich war Haltbarkeit das Wichtigste für sie. Egal, was es kostete. Nicht etwa, weil Qualität sich letztendlich immer auszahlt, sondern weil sie länger hält, nicht so schnell kaputt geht. Sie hasste es zutiefst, wenn etwas kaputt ging. Das machte sie regelrecht krank.
Mit Engelszungen hatte Gropius sie einmal überreden müssen, einen schönen, alten Stuhl mit einer gebrochenen Hochstrebe reparieren zu lassen, anstatt ihn sofort im Kamin zu verfeuern. Die Restaurierung war perfekt gelungen, der Stuhl sah aus wie neu, und die Bruchstelle konnte auch ein Fachmann nicht mehr erkennen.
"Ich weiß aber, dass sie da ist!", sagte sie danach etwas quenglerisch, ließ die Sache dann jedoch auf sich beruhen.

Kennengelernt hatte Gropius Frau von Sättingen, weil sie auf der Suche nach einem neuen Gartentisch völlig entnervt zu ihm in die Werkstatt gekommen war. Sie hatte zuvor eine Odyssee durch diverse Möbelhäuser, Gartencenter und Baumärkte hinter sich gebracht und war entsetzt, welch mindere Qualität man ihr hatte zumuten wollen. Gropius hatte ihr zur Beruhigung erst einen richtigen Mokka gebraut, keinen neumodischen Mochaccino oder Espresso aus Tüte, Glas oder Pad, und sie hatte sich dann mit dem Tässchen in der vornehmen Hand vorsichtig in der Werkstatt umgesehen und die in Arbeit befindlichen Stücke kritisch betrachtet. Erst nach aufmunternden Worten des Meisters wagte sie es, die Hölzer zu befühlen, ihre Oberfläche zu betasten, die komplizierten Verzapfungen genauer in Augenschein zu nehmen.
Was sie sah, gefiel ihr sehr. Und als Gropius dann von seiner Arbeitsanschauung sprach und von seiner Bewunderung für die Philosophie der Shaker

, war sie begeistert.
Die Shaker waren eine puritanische Religionsgemeinschaft, von der vor allem ihre Möbel berühmt geworden waren. Ihr Glaube gebot ihnen so zu arbeiten, dass es Gott gefällig war. Gott sah alles, also mussten auch die versteckten, nicht sichtbaren Details perfekt gearbeitet sein. Die zweckmäßigen, schlichten, aber unglaublich funktionellen und stabilen Möbel wurden weltweit bekannt.
Diese Perfektion hatte es Gropius schon als Lehrling angetan.
Er wusste natürlich, dass das heute nicht mehr zeitgemäß und für eine normale Tischlerei betriebswirtschaftliches Harakiri war, aber er verabscheute das lieblose Spanplatten-stumpf-aneinander-Gespaxe und Umleimer-Herumgepappe zutiefst. Doch da er einige Kunden hatte, die das genauso sahen und über eine Engelsgeduld bis zur Fertigstellung, sowie entsprechend dicke Brieftaschen verfügten, konnte Gropius ganz gut von seiner Arbeit leben.
Frau von Sättingen war die schwierigste, aber auch die treueste und letztendlich dankbarste Kundin geworden, die er hatte.
In vielen Gesprächen über die Jahrzehnte hin, die sie sich kannten, gelang es Gropius nie herauszufinden, woher ihre Obsession, ja geradezu Manie kam, immer die dauerhaftesten Objekte zu besitzen. Und auch nicht, woher ihr Vermögen kam. Aber letzteres interessierte ihn eigentlich auch nicht.
Dabei war Frau von Sättingen nicht verschwenderisch, nicht protzig, wie so manche seiner neureichen Kunden, die im geleasten Phaeton vorfuhren und mit seinen Möbeln bei ihren versnobten Freunden angaben. Vielen waren seine Arbeiten auch zu schlicht, zu einfach, machten nichts her, sahen nicht teuer genug aus. Doch diese Art von Kundschaft fand sich schneller vor seiner Werkstatttür wieder, als sie "geil" sagen konnte.

Gropius ging wieder um sein Werkstück herum, blies vorsichtig die kaum mehr sichtbaren Späne des Putzhobels weg und überlegte, wie er in diesem besonderen Fall die Oberfläche behandeln sollte.
Lacke waren ihm eigentlich ein Graus. Ein Holzstück nur mit dem Hobel zu bearbeiten, dass es samtig spiegelte und es dann unter einer Schicht 2K-Lack zu ersäufen, ging fast gegen seine Natur. Er bevorzugte Firnisse, Beizen, Wachse, die er selbst in seiner Giftküche zubereitete. Einige Naturfarben und Schleiflacke, die eine immense Arbeit erforderten, hatte er in seiner Sammlung, und die hatten nichts mit den modernen Mehrschichtlacken, die gespritzt und als Klavierlack hochgelobt wurden, zu tun. Aber auch Kunstharzlacke der brutalen Art, wenn das Werkstück es erforderte. Er war Tischler, kein Dogmatiker.
Aber für Frau von Sättingen kam nur eine Oberflächenbehandlung in Frage: Ein spezieller Japan-Lack, Ki-urushi

, aber aus Taiwan, mit einer UV härtenden, modernen Komponente versetzt. Schweineteuer. Wurde vorwiegend im Luxusyachtenbau eingesetzt, weil er extrem widerstandsfähig und haltbar war, aber trotzdem eine schöne Oberfläche ergab. Aber das Universalkriterium für Frau von Sättingen war ja die Haltbarkeit. Nicht Schönheit, nicht Zweckmäßigkeit, sondern Haltbarkeit.
Beispielsweise kaufte sie sich jedes Jahr einen neuen kleinen Japaner und keinen protzigen Benz. Das wäre zu teuer gekommen, denn es ging nicht um das Auto selbst, sondern nur darum, dass es neu war, noch eine lange Lebenserwartung hatte. Aber nach kaum einem Jahr befürchtete sie schon, dass irgendetwas defekt werden könnte. Also weg damit, mit dem alte Gelumpe!
Am liebsten wäre es ihr gewesen, sie hätte ihre Autos nie fahren, ihre Möbel nie benutzen, ihre Kleider nie tragen müssen, denn mit ihrem Gebrauch alterten die Dinge unweigerlich und strebten dem bitteren Ende zu, so wie sie selbst. Sie hasste Alterung. Nie hatte sie geheiratet; die Formel: 'Bis dass der Tod uns scheidet'

war für sie eine völlig absurde Vorstellung gewesen. Liebe würde altern, der Mann reparaturanfällig werden und die Kinder sich schon von Geburt an auf den unausweichlichen Tode zu bewegen.
Deswegen lebte sie auch gesund wie zehn Adventisten, wusste besser als Dr. Spitzbart über Anti-aging Bescheid und mied Ärzte aus Überzeugung. Auch Schönheitschirurgen. Denn die reparierten ja auch nur, und Reparaturen hasste sie.
Sie schaffte es, immer zwanzig Jahre jünger geschätzt zu werden, was ihr aber keineswegs schmeichelte. Mit 75 wie 55 auszusehen erfreute sie nicht. Im Gegenteil. Fünfundfünfzig! 'Das ist auch schon fast im Grab', dachte sie.

Gropius konnte das alles nicht verstehen. Gut, die Pharaonen hatten auch für die Ewigkeit gelebt, aber das war vor 5000 Jahren. Aber heute? Lebe schnell, sterbe jung, hinterlasse einen gutaussehenden Körper – das Motto der Rockstars war ganz und gar nicht seine Einstellung, aber übertreiben wie seine Kundin sollte man auch nicht. Ach Gott, was ist der Mensch? Das, was er aus sich macht, das, wie er sich sieht, und das, wie er sich in seinem sozialen Kontext einbindet. Alles Tand? Und was bleibt zum Schluss übrig? Asche zu Asche.
Sicher, auch er hatte immer die schöne Vorstellung, etwas Bleibendes zu schaffen, etwa ein Möbelstück, das noch Generationen später seinen Dienst verrichten und seinen Besitzer erfreuen würde. Ein 'Echter Gropiusstuhl'

. Das wäre schon was, dann könnte er zufrieden abtreten.

Er schüttelte den Kopf über seine sonderbaren Gedanken. Noch lebte er, und er hatte eine Arbeit fertig zu stellen. Wieder umrundete er kritisch sein Werkstück. Vielleicht sollte er dieses eine Mal doch eine Schicht aus nigerianischem Karnabau-Wachs aufbringen? Das würde so gut mit der Maserung korrespondieren.
Aber nein. Der Kunde ist König, vor allem, wenn er schon im Voraus bezahlt hat.

Sorgfältig entstaubte er die Oberfläche und begann, Quadratzentimeter für Quadratzentimeter, den taiwanesischen Bootslack aufzutragen. Er tat es mit aller Sorgfalt, zu der er fähig war, obwohl er wusste, dass sein Werkstück den Flammen des Krematoriums nur wenige Minuten widerstehen würde. Es war schließlich der letzte Auftrag seiner treuesten Kundin. Es war ihr Sarg.

Frau von Sättingen war vor zwei Tagen gestorben.


©BertRieser121210

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2010

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