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Der Werwolf von Arsita



Ein

 

feuchter Keller, nach Moder und Verwesung riechend, diente als Abstellkammer und Waschküche, zwei niedere Zimmer bildeten das Erdgeschoß mit Wohnzimmer und Küche, und eine steile Treppe, die eher an eine Leiter erinnerte, führte nach oben. Dort befanden sich zwei Schlafräume und ein Bad. Alles war irgendwie saniert und renoviert, aber völlig dilettantisch. Die Farbe platzte großflächig ab, die Türstöcke waren so niedrig, dass man sich ständig den Kopf stieß, die Fliesen lagen teilweise hohl, und die Duschwanne aus dem Billigbaumarkt war schlichtweg ein schlechter Witz. Nein, eine Luxusherberge war das Ferienhaus wahrlich nicht. Aber es hatte den morbiden Charme des alten italienischen Bauernhauses bewahrt, das es ursprünglich einmal gewesen war. Die Besitzer hatten es umgebaut und vermieteten es an Feriengäste, die entweder zu wenig Geld für ein gutes Hotel hatten, hoffnungslose Romantiker waren, oder seltsame Spinner. Aber es lag traumhaft am Rande des Nationalparks der Abruzzen, einsam hoch über dem Tal des Fiumo Fino an den Berg geschmiegt, und von der Terrasse aus blickte man auf das auf der anderen Seite gelegene 400-Seelen-Dorf Arsita, in dem die Urlauber das Nötigste einkaufen konnten.
Die zwei Brüder, die diese ‚Villa Rustica’ für drei Wochen gemietet hatten, gehörten zu der Sorte ‚seltsame Spinner’. Sie wollten vor allem eines: Ruhe. Keine Menschen, die um sechs Uhr früh mit Handtüchern Liegestühle blockierten, am Buffet drängelten, halbvolle Teller stehen ließen, nach Pitralon und Tosca stanken und dummdreist daher redeten. Kein Lärm von Motorbooten, Musikmaschinen und plärrenden Kindern um sich, keine Ehefrauen, die sie misstrauisch beäugten und gängelten und schon gar keine Animateusen. Einfach nur Ruhe. Hier konnten sie Motorradfahren, unrasiert herumlaufen, trinken, soviel und was sie wollten und dummes Zeug daherreden. Und keiner weit und breit, der sie maßregelte, oder vor dem sie sich schämen müssten. Irgendein rezessives oder eher dominantes Steinzeitgen sagte ihnen, dass sie das einmal im Jahr brauchten.
Die Schluchten, Wälder und Hochebenen des ‚Gran Sasso’ des ‚Großen Steins’, wie die höchsten Berge der Apenninenhalbinsel genannt wurden, waren ein ideales Gebiet, um diese Ruhe auch zu bekommen. Wenig Tourismus, nur vereinzelt in die Landschaft getupfte Dörfer und Gehöfte und enge, miserable Sträßchen ließen noch Platz für die Natur, und sogar Bären und Wölfe griffen hier ab und zu die einsamen Schafherden an.
Peter und Paul – so hießen die beiden Brüder aufgrund des sehr einfallsreichen Namensfindungsprozesses ihrer Eltern - fuhren mit ihren betagten Motorrädern durch die Gegend, wanderten zu Wasserfällen, über Saumpfade zu verborgenen Seen oder saßen einfach nur herum, je nach Lust und Laune. Nur ein Zwischenfall trübte ihre Stimmung.
Paul war auf dem Campo Imperatore einer Schafherde zu nahe gekommen und sah sich plötzlich einem wütend bellenden Hirtenhund gegenüber. Die schwarze Bestie war wie aus dem Boden gezaubert plötzlich aufgetaucht und biss zu, als Paul sich nach einem Stein bücken wollte, um ihn zu verscheuchen. Dann war er, so unversehens wie er gekommen war, auch wieder verschwunden. Der Biss hatte eine nicht sehr tiefe Wunde am Hals verursacht, und die abgrundtiefe Erleichterung, dass nicht mehr passiert war, ließ den Schmerz rasch vergessen. Auch das Bluten hörte nach kurzer Zeit auf, doch das Entsetzen blieb lange in den Knochen. Der schwarze Teufel hatte Kiefer gehabt, die mühelos einen Arm durchtrennt hätten, wenn er nur gewollt hätte. Jesusmariaundjosef – wir danken euch auf den Knien, dachten die Beiden, als sie sich auf den Heimweg machten.
Pauls Wunde war wieder aufgebrochen, und Peter säuberte sie im Haus mit einem Küchentuch, wobei er angewidert das Gesicht verzog. „Der Scheißköter hat mit seinem Gesabber deinen ganzen Hals versaut, Paul, das ist ja ekelhaft, ich krieg’s kaum ab. Und meine Finger kleben wie Pattex!“
Er verband die Bisswunde und schrubbte sich dann die Hände wie besessen. „Eines sag ich dir“, bemerkte er noch, „das war nie und nimmer ein Hirtenhund.“
„Was dann?“, fragte Paul, doch Peter gab keine Antwort.
Noch lange saßen sie am Abend auf der Terrasse, tranken Peters gekühlten Weißwein und Pauls eiskalten Rotwein, stritten über Sinn und Unsinn der Gourmetvorschrift, dass Weißwein gekühlt werden dürfe, Rotwein dagegen atmen müsse, wie Peter vehement argumentierte, blickten über die Schlucht zum Dorf hinüber, das im Licht des Vollmondes in einem traumlosen Dämmerschlaf dahin torkelte und verloren kein Wort mehr über den Vorfall. Alles schien friedlich, doch irgendetwas war anders. Paul fröstelte, holte sich einen zweiten Pullover, was allerdings gegen die Kälte, die sich in seinen Knochen breit machte, nichts half. Erst langsam sickerte in sein Bewusstsein, was anders war: Es lagen seltsame Geräusche in der Luft. Erst fast unbemerkt, dann immer lauter kam ein Heulen, Knurren, Winseln, Bellen aus allen Windrichtungen, als hätten sich die Hunde der Welt um das einsame Haus versammelt. Dass Hunde den Mond anheulen, hatte Paul früher immer als Redewendung betrachtet, aber jetzt bewirkten gewisse namenlose Geräusche, unheilige Dissonanzen, schauerliche Kreszenzen, dass sich die Härchen knapp über dem Steiß aufrichteten. Er würgte den letzten Schluck hinunter und verabschiedete sich von seinem Bruder, der stumm ins Tal hinunter starrte.
Ohne sich die Zähne zu putzen oder auszuziehen warf sich Paul in seinem Zimmer aufs Bett. Der Schmerz an seinem Hals war dem Alkohol und einem unbestimmten Entsetzen gewichen, und trotz des Geheuls der Hunde verfiel er in einen komatösen Schlaf.
Etwa um Mitternacht schreckte er hoch. Das Mondlicht fiel direkt auf sein Bett, und trotz seines Alkoholpegels konnte er sich problemlos orientieren. Was war los? Er lauschte in die Stille. Das nervige Hundegeheul war völlig verstummt und der Wind abgeflaut. Es lag eine stickige, beängstigende Dumpfheit in der Luft. Pauls Herz klopfte seltsam unrhythmisch, und er fragte sich, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Da war es wieder: ein schlurfendes, schabendes Geräusch an der Zimmertür. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Hatten sie vergessen, die Haustür abzuschließen? Waren Einbrecher eingedrungen? Hier, in dieser gottverlassenen Gegend? Unwahrscheinlich. Die Zeiten, als sich sogar Pfarrer aus Not den Räuberbanden angeschlossen hatten, waren lange vorbei. Aber was sonst? Paul tastete nach dem Tankrucksack, fingerte das Victorinox-Multitool heraus und klappte das Sägemesser auf. Wenn der Einbrecher in sein Zimmer käme, würde er ihn gebührend empfangen! Dachte er. Doch dann kam alles anders.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall sprang die Zimmertür auf und knallte an den Rahmen, dass der Putz rieselte. Und das, was herein sprang, war das Abscheuliche an sich. Es lähmte Pauls Reaktion wie ein Herzanfall, der Schweiß schoss aus den Poren wie aus Millionen Wasserfällen, und sein Verstand stand davor, durchzubrennen wie eine Feinsicherung. Es war sein Bruder Peter. Und er war es auch nicht. Größe, Statur und Gesichtszüge stimmten, doch wie hatte er sich verändert! Das Gesicht war zu einer grotesken Maske verzerrt, lange, gelbe Zähne schoben sich vor blutige Lippen, schaumiger Speichel tropfte aus den Winkeln des Mauls. Die Nase war bizarr vergrößert zu einer wolfsähnlichen Schnauze, und die Augen, groß wie Tomaten, schienen in Blut zu schwimmen. Das Hemd war aufgerissen, und ein grauer Pelz drängte ins Freie. Aber das Schlimmste waren die Hände: Furchterregende Krallen an knotigen Fingern hoben sich drohend, während ein dumpfes Grollen aus der Kehle der grauenhaften Kreatur drang.
Paul packte ein abgrundtiefes Gefühl der Verzweiflung, ein namenloses, uraltes, aus Äonen geborenes Entsetzen umfasste sein Herz und drohte, es zu zerquetschen. Er taumelte zurück an die Wand als die Bestie angriff. In einem letzten Reflex der Verzweiflung riss Paul die Hand hoch, die noch immer das Messer umkrampft hielt und traf das Monster direkt in die Kehle. Es stockte und stieß aus dem Loch einen Schwall aus Luft, Blut und grauenhaftem Gestank aus, der Paul den letzten Funken Verstand zu rauben drohte, schwankte und kippte nach hinten, wobei es Paul, der das Messer nicht los ließ, mit sich zog. Sie landeten auf dem Fußboden, und das Adrenalin, das durch Pauls Adern tobte, ließ ihn das Messer quer durch die Kehle des Biestes ziehen. Knorpel, Adern und Sehnen zerrissen, und das Blut spritzte fontänenartig weiter, als er das Messer wieder und wieder in die Kehle des Monsters, das einmal sein Bruder gewesen war stieß, bis es aufhörte.
Keuchend richtete sich Paul auf und starrte auf die tote Bestie hinunter. Aber erst als er sich langsam umdrehte und im bleichen Mondlicht sein eigenes Spiegelbild im Schlafzimmerschrank erblickte, brach er ohnmächtig zusammen, bevor er den Verstand völlig verlor. Das, was mit bluttriefenden Augen aus dem Spiegel zurückstarrte, war er selbst, und auf dem Boden lag mit zerfetzter Kehle sein Bruder, so, wie er ihn gekannt hatte.


Es war schon heller Mittag, als Paul erwachte. Er trat mit fürchterlichen Kopfschmerzen ans Fenster, sah seinen Bruder auf der Terrasse sitzen, lesen und Bier trinken, und er schwor sich nie, nie, nie wieder Rotwein aus einem Fünf-Liter-Pappkarton für 1,80 Euro zu trinken.


(C)Garlin28910

Impressum

Texte: Cover: M.E./pixelio
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2010

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