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Hänschen klein …


Neulich kam Kurt völlig genervt zum Stammtisch. Wir merkten, dass er am Ende war, weil er schon vom Eingang aus nach unserer Lieblingsbedienung schrie:
"Bier, Christine, ich brauch Bier, viel Bier!"
Als er sich auf seinen Stuhl fallen ließ, sagte keiner etwas, bis es aus ihm herausbrach:
"Ich sag' nur ein Wort, Leute: Kindergeburtstag!" Mitleidige Laute erklangen. "Ja, ja, und das mir! Meine Frau, diese …, diese … hat mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zum Kindergeburtstag ihrer Freundin geschleppt!"
"Deine Frau hat ein Kind zur Freundin?", fragte Paul und blickte verstört.
"Depp. Natürlich zum Geburtstag von dem Blag der Freundin. Peggy Holsten-Wahrsteiner. Mit 45 hat sie noch geworfen, stellt euch das mal vor! Aber sie ist ja die beste aller Mütter und macht alles richtig. Ich weiß nicht, in wie viel Mütterseminaren die war. Deshalb die Geburtstagfeier für Frederic. Da lädt dieses Kalb ihre ganze Freundinnenclique nebst deren völlig ahnungslosen Männern zum ersten Geburtstag ihres Balgs ein. Da sollen schätzungsweise 1475 Jahre das Einjährige von dem Frederic feiern. Das arme Kind, Schock fürs Leben! Mann! Na ja, wir Männer haben uns mit Maik, ihrem Gatten, in die Garage verzogen, wo er in weiser Voraussicht ein paar Erdinger versteckt hatte und dort über Gott, die Welt, die Frauen und die alte Horex Regina und die NSU Max philosophiert, die Maik hütet, wie seine Augäpfel. Ja, lacht nur, ihr Ignoranten! Man kann sehr wohl darüber philosophieren, warum ein Motorrad einen Frauennamen hat und das andere einen Männernamen. Aber irgendwann bekam Maik doch Muffensausen, und wir mussten wieder ins Haus zurück. Horror, sag ich euch. Das standen alle Mädels um das arme Blag herum und sangen Fritzchen klein. Es war zum …"
"Hänschen klein!"
"Hä?"
"Ich meine, sie haben wohl Hänschen klein gesungen", sagte Dietmar, der Besserwisser.
"Fritzchen, Hänschen, mir doch egal! Ich kenn nur Hühnerklein."
"Du Banause!", meldete sich Ewald zu Wort. "Das ist schließlich ein altes Volkslied, das ist deutsche Leitkultur, äh, ich meine deutsch im guten Sinne …"
"Genau", assistierte Edi, " von einem Lehrer, einem gewissen Franz Wiedemann !"
"Na toller Lehrer, bravo!", ätzte Dietmar. "Da braucht man sich nicht wundern, warum wir bei PISA so schlecht abschneiden. Das soll deutsch sein? Dann braucht's kein denglish mehr für den Untergang der Sprache. Sag' doch mal den Text auf, bitte!" Fatalerweise zeigte Dietmar auf mich, der ich doch gerade das Glas am Mund hatte. Ich verschluckte mich, hustete und krächzte dann:
"Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein …"


"Seht ihr", unterbrach Dietmar meinen Vortrag, "schon in der ersten Zeile beginnt die sprachliche Verluderung. Hänschen klein, was soll das heißen? Kurt hat es schon angesprochen, es gibt Hühnerklein, Gänseklein, aber doch wohl kein Hänschenklein. Oder Klein ist sein Nachname, aber dann müsste er groß geschrieben werden. Bei uns in Bayern dreht man die Reihenfolge ja um, was auch die preußischen Behörden übernommen haben, also Klein Komma Hänschen. Aber wie gesagt, klein ist klein geschrieben, soll also wohl kleines Hänschen heißen, was aber ein schwarzer Rappe wäre, eine Tautologie. Denn Hänschen ist schon ein Diminutiv. Entweder also nur Hänschen ohne klein oder Hans klein, aber dann stimmt wieder die Stellung der Adjektivs nicht, also kleiner Hans, klar? Darüber könnte man noch hinwegsehen, aber es geht grammatisch falsch weiter. In die weite Welt hinein …

Man kann in die Welt hinausgehen, aber nicht hinein, es sei denn, man wäre ein Maulwurf oder ein Speläologe. In eine Wirtschaft kann man hineingehen."
Wir nutzten das Stichwort, um bei Christine eine neue Runde zu bestellen, während Dietmar weiterdozierte:
"Stock und Hut, steht ihm gut, ist gar wohlgemut.

Fällt euch was auf? Nein? Was sagt ihr zu: Marmor, Stein und Eisen bricht, abgesehen davon, dass Marmor auch ein Stein ist, na? Ich bitt' euch, der Sänger Drafi Deutscher ist dafür genug geprügelt worden; es handelt sich beide Male um eine Aufzählung, also müssen die Verben im Plural stehen. Stock und Hut stehen ihm gut. So wäre es richtig, zumindest, was das Verb betrifft, und man muss nicht überlegen, wer gar wohlgemut ist, der Stock, der Hut oder doch das Hänschen. Aber der geniale Dichter wechselt auch noch abrupt die Zeitform. Die erste Zeile steht im Indikativ Präsens, die zweite im Präteritum. Von der Aussage will ich gar nicht erst reden. Was hat der Kerl dabei? Stock und Hut? War er gehbehindert oder handelt es sich um einen Nordic-Walking-Stecken, aber die treten immer paarweise und meistens in weiblichen Händen auf. Und wo ist das andere Equipment, das man in der weiten Welt so braucht? Funktionswäsche, Multi-Tool, Erste-Hilfe-Pack, Travellerschecks? Fehlanzeige. Doch es wird immer schlimmer. Aber Mama weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr …

Warum? Ist das Hänschen gestorben? Und warum weinet? Was ist das denn für eine Form? Später heißt es auch: eilet heim geschwind. 'Dichterische Freiheit' könnte man einwenden, aber dann müsste der liebe Lehrer konsequent sein und auch ginget und stehet und besinnet schreiben! Also, die Mutter plärrt, und deshalb dreht der Bengel um. Hat sie so laut geplärrt, dass man es in der weiten Welt gehört hat, oder hatte Hans doch ein Handy dabei und die Mutter hat ins Handy geplärrt, war Hänschen ein Hellseher oder ist er etwa nur bis zur Wohnungstür gekommen? Fragen über Fragen."
Endlich nahm Dietmar einen tiefen Schluck und hielt kurz die Klappe, was Kurt ausnutzte:
"Ja genau, und diesen Scheiß singen Mütter Einjährigen vor! Da braucht man sich nicht zu wundern."
"Na dann macht es doch besser, ihr Klugscheißer", warf Ewald ein.
"Moment, Moment, lasst mich mal!", rief Claus, und wir warteten.
"Also:
Der kleine Hans ging von zuhaus' in die
weite Welt hinaus.
Stock und Hut waren dabei
und auch noch viel Allerlei
Doch die Mutter drohte laut,
dass sie ihn ganz arg verhaut …"



"Nein, bitte, Gnade, Gnade!", winselten wir alle, und jeder wollte eine Runde ausgeben, wenn er nur aufhörte.
"Dann vielleicht so", versuchte sich Wolfgang:

"Der kleine Hans riss plötzlich aus,
ging in die weite Welt hinaus.
Walkingstöcke, Regenhaut, hatte er zuvor geklaut.
Mutterwut auf die Brut,
tat Hänschens Zukunft gar nicht gut.
Denn der Staat, wie gemein,
steckte ihn ins Jugendheim …"




Also Leute, ich kann nur sagen, dass es noch viele Gnadenrunden an diesem Abend wurden.


©Garlin141010

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.11.2010

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Widmung:
Noch 'ne Glosse (18)

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