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Die Nachricht vom Ableben meiner Tante erreichte mich im Hafen von Santos. Die Evelyn Hamann hatte ihre Fracht gelöscht und nahm im Gegenzug Sojamehl auf, das deutsche Bauern als Kraftfutter an ihre Rindviecher verfüttern würden, die wiederum von deutschen Kids in Form von Hamburgern vertilgt werden würden. So ist der Zyklus nun mal. Tropischer Regenwald für verfettende Teenager, und von den Steuergeldern gehen ein paar Euro als Entwicklungshilfe zurück an die vertriebenen Indios, die den zu Soja-Monokulturen verarbeiteten Regenwald mal bewohnt hatten.
Wie auch immer. Ich hatte eine Auszeit von meiner Menschheit gebraucht und deshalb eine lange Seereise gebucht. Die Reederei Hanszen & Hanszen in Bremerhaven vermietet ab und zu auf ihren Frachtern gegen Bezahlung darr eingerichtete Kabinen. Natürlich kein Vergleich zu Kreuzfahrtschiffen, aber so etwas hätte sich für mich sowieso verboten, da ich zweitausend blasierte Knalltüten auf engstem Raum nicht ertragen kann und außerdem das Geld nicht gehabt hätte. Bei der Buchung hatte ich erzählt, dass ich Kfz-Elektrikermeister sei, was dazu führte, dass man mir das Angebot machte, kostenlos mitfahren zu können, wenn ich dem Schiffsingenieur zur Hand gehen würde. Ich schlug natürlich ein. Anfangs skeptisch beäugt und eher als Störfaktor betrachtet, gewann ich in Genua die Achtung der Crew und des Kapitäns, indem ich eine Einspritzpumpe auf sehr unkonventionelle Art reparierte.
Im Hafen von Santos also brachte mir der Funker das Telex der Reederei mit der Nachricht vom Ableben meiner Tante. Zugleich wurde ich aufgefordert, wegen der Erbschaft umgehend persönlich eine gewisse Kanzlei aufzusuchen. Meine Tante und Erbschaft! Ich lachte trocken, als ich das las.
Sie hatte in einem bayerischen Kaff gelebt, und ich hatte sie nicht besonders gemocht. Als Dreizehnjähriger hat man so seine eigenen Vorstellungen. Tante Mildred war zehn Jahre älter als meine Mutter gewesen, hatte sich aber wie hundert verhalten. Und auch so gerochen.
Mein Vater war gestorben, als ich vier war, und ab da fuhr meine Mutter mit mir jedes Jahr zweimal für einige Wochen in dieses elende Kaff zu ihrer Stiefschwester. Warum war mir unklar, denn auch die beiden mochten sich herzlich wenig.
Meine Tante war unnahbar. Sie betrachtete mich wie ein lästiges Haustier, das meine Mutter immer mitbrachte, um sie zu ärgern. Ich kann nicht sagen, dass ich sie direkt gehasst hätte, aber leiden konnte ich sie ganz bestimmt nicht. Und, wie gesagt, sie roch ungut wie das ganze Haus. Es war eine alte Bude mitten im Dorf und hatte keinen Kanalanschluss. Der Abtritt war einfach ein an das Haus angebauter Verschlag, darin eine Art Kiste mit einem Loch. Da setzte man sich drauf, und ab ging die Post nach unten. Die Grube wurde meines Wissens nie geleert, und wohin sich die Fäkalien verkrümelten, fragte niemand. Jedenfalls stank das ganze Haus danach. Der einzige Tost war, dass ich so etwa mit sechs oder sieben einen Freund fand, Fritz, mit dem ich die Wälder durchstreifte, Hühner scheuchte, Kirschen klaute und allerlei Unsinn trieb.
Als ich gerade dreizehn Jahre alt geworden war, muss zwischen meiner Mutter und ihrer Stiefschwester etwas Gravierendes vorgefallen sein. Jedenfalls war es von da ab Schluss mit den Fahrten nach Bayern, und der Kontakt zu meiner Tante war beendet. Gott, was war ich froh! Nur um Fritz, meinen Freund, tat es mir leid. Was damals vorgefallen war, hat mir meine Mutter bis zu ihrem Tod nie erzählt. Wir sind einfach Knall auf Fall, ohne uns zu verabschieden, abgereist und nie wiedergekommen.
Warum sollte mich Tante Mildred jetzt als Alleinerben einsetzen? Und was sollte sie zu vererben haben? Meine Mutter hatte immer Lebensmittel und anderes Zeug mitgebracht und ihrer Stiefschwester auch noch Geld zugesteckt, währen mein Taschengeld gegen Null ging. Was konnte also an Wert da sein? Die alte Bruchbude? Ich vermutete, dass meine Tante schon aus Geiz kein Testament gemacht und das Nachlassgericht mich als einzigen Angehörigen ermittelt hatte. Aber jetzt die Reise abbrechen, einen teuren Rückflug buchen? Die sollten mir alle den Buckel herunter rutschen! Ich bat Björn, den Funker, eine Nachricht an die Kanzlei abzusetzen, dass wir auf See wären und ich mich nach der Ankunft in Bremerhaven bei ihnen melden würde.

Die Kanzlei Röder, Röder & Röder war tatsächlich vom Nachlassgericht beauftragt worden, etwaige Erben ausfindig zu machen. Der Kanzleichef Röder I. hatte mich auch gleich darauf aufmerksam gemacht, dass ich die Kosten für die Nachforschung zu tragen hätte. Na prima, danke Tante Mildred.
Jetzt stand ich vor ihrem Haus in diesem üblen Kaff und wusste nicht, was ich tun sollte. Dunkle, verschmutzte Fenster blickten mich abweisend an, ein düsteres Ahnen lag über dem grauen Gemäuer und ich meinte fast, den Geruch aus meiner Kindheit wieder zu riechen. Der Anwalt hatte gesagt, dass der Schlüssel bei der Gemeinde hinterlegt sei, und so suchte ich das kleine Rathaus des Dorfes auf.
Er war zwar dreißig Jahre älter geworden, aber ich erkannte Fritz sofort. Mein alter Freund aus Ferienzeiten war inzwischen Bürgermeister des Ortes und freute sich sichtlich, mich zu sehen. Es war, als wäre die Zeit zurück gedreht worden. Wir ratschten und ratschten, tauschten unsere Lebensgeschichten aus, und erst nach mehreren Stunden und mehreren Bieren, die wir im Roten Ochsen zu uns genommen hatten, kamen wir auf meine Tante zu sprechen.
"Weißt du", sagte Fritz, "es sind zwar dreißig Jahre vergangen, aber deine Tante blieb so, wie du sie gekannt hast. Mürrisch, verschlossen, nicht ins Dorf integriert. Jetzt ist sie tot, der Nachbar hat sie im Garten liegen gesehen, und sogar im Ableben hat sie Abstand zur Gemeinde gehalten. Sie hat schon lange vor ihrem Tod beim Mebert, du weißt doch, dem Totengräber, eine anonyme Bestattung bezahlt und letztendlich auch bekommen. Sie liegt auf einem Friedhof in Nürnberg in einem namenlosen Gräberfeld." Mir fiel ein Stein vom Herzen. Wenigstens für ihre Beerdigung musste ich nicht aufkommen. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag, und ich mietete ein Zimmer im Roten Ochsen, das wahrscheinlich während der napoleonischen Kriege zum letzten Mal bezogen worden war und fürchterlich nach Mottenkugeln stank. Trotzdem fiel ich sofort in einen schweren, traumlosen Schlaf.


Um acht Uhr morgens wartete schon Fritz vor dem Haus meiner Tante. Er hatte seine Sekretärin, Fräulein Neumann, dabei, an die ich mich noch aus meiner Kindheit erinnerte. Damals war sie eine junge Lehrerin an der längst geschlossenen Dorfschule gewesen, und ich glaube, ich war ein bisschen verliebt in sie gewesen. Heute sah sie noch fast genauso aus, was mich einigermaßen verwirrte. Wir begrüßten uns, Fritz riss den versiegelten Umschlag auf, entnahm einen Schlüssel und reichte ihn mir. Ich schloss auf, trat durch die knarrende Tür und vollführte eine mehr oder weniger elegante Verbeugung.
"Hereinspaziert, meine Dame, mein Herr, ins verwunschene Reich von Tante Mildred." Und da war er wieder, der Geruch. Als wäre ich nie weg gewesen. Mehr als Geräusche oder Bilder können Gerüche unser Erinnerungsvermögen wachrufen. Mich schauderte.

Ich hatte Fritz gebeten mitzukommen, weil ich unsicher war, ob ich das Erbe überhaupt annehmen sollte. Fritz war hauptberuflich Bauunternehmer und hatte mir versprochen, sich das Gebäude kritisch anzusehen. Wir gingen durch die Räume, stiegen die Leiter zum Dachboden hoch, Fritz klopfte die Wände ab, schüttelte den Kopf und diktierte Fräulein Neumann, die immer die Nähe eines Fensters suchte um Luft zu bekommen, ab und zu ein paar Stichworte. Der Versitzgrubengeruch war überall, obwohl sich unsere Nasen etwas daran gewöhnten. Ich schaute in Kästen und Schränke aus denen die Motten wie kleine Vampire flatterten, schob Schubladen auf und zu und hatte ständig das Bedürfnis, mir die Hände zu waschen. Es war alles Dreckszeug, Schrott, nichts wert. Kurzzeitig schoss mir der Gedanke durch den Kopf, alles anzuzünden, um wenigstens die Versicherung zu kassieren. Doch Tante Mildred hatte garantiert keine Versicherung abgeschlossen. Alles Müll. Und als ich Fritz anschaute, schüttelte er wieder betrübt den Kopf.
"Sei mir nicht böse, aber vergiss es. Schimmel, Schwamm, Moder. Dachstuhl verrottet, Installation marode oder nicht vorhanden, keine Toilette, kein Bad, Wände verzogen, die Böden … du siehst ja selbst. Da hilft nur Sanierung mit der Abrissbirne. Aber der Abbruch kostet dich soviel, wie der Grund wert ist. Mindestens!"
Ich schluckte, aber ich wusste, dass Fritz Recht hatte. Schon vor dreißig Jahren war das Gebäude marode gewesen.
"Lass' mich nur noch kurz in den Keller schauen, Fritz", sagte ich und öffnete eine Luke, die in ein finsteres Loch hinab führte. Dummerweise hatte ich keine Taschenlampe dabei und nahm eine der dicken, roten Kerzen, die neben der Tür gestapelt waren. Ich erinnerte mich genau. Damals hatte Tante Mildred ab und zu verschrumpelte Lageräpfel aus dem Keller geholt, die mit roten Wachstropfen gesprenkelt waren, wie mit geronnenem Blut. Mich schauderte wieder. "Gibst du mir dein Feuerzeug?", fragte ich Fritz, der sich gerade eine Zigarette angezündet hatte.
"Klar", sagte er und reichte mir sein Zippo. "Aber wir warten draußen." Ich konnte das verstehen.
Mit der brennenden Kerze stieg ich vorsichtig die schier endlose Treppe hinunter in die Finsternis, immer bedacht, auf den feuchten, modrigen, abgewetzten Stufen nicht auszurutschen. Wie konnte so ein Haus einen so tiefen Keller haben? Endlich endete die Treppe und ich fragte mich, was ich hier wollte. Doch nun war ich schon mal hier. Kurz umsehen und schnell wieder weg, hinauf in die Sonne! Vom Fuß der Treppe führten zwei niedere Gänge ab. Ich wählte den linken, weil ich mit der rechten Hand die Kerze hielt und mich mit der linken an der feuchten Wand entlang tasten konnte. Der Gang endete nach wenigen Schritten, wurde breiter und höher, und ich konnte mich wieder aufrichten. Ich hob die Kerze und…
Mir blieb fast das Herz stehen. Ich bin wirklich nicht ängstlich, ich habe Respekt vor Haien, Hunden oder Ratten, aber ich fürchte sie nicht. Und Spinnen sind kein Grund, in Kreischen auszubrechen. Aber was ich da im flackernden Licht der Kerze erblickte, sprengte alles Maß an Vorstellungskraft. Pilzüberwucherte Ratten, groß wie fette Katzen huschten über meine Füße, handtellergroße, haarige Spinnen verkrochen sich mit klickenden Geräuschen ins Dunkel und seltsam blasses, wusliges Geschmeiß am schimmligen Ziegelgewölbe ließ meinen Magen Richtung Kehle wandern. Ich stand erstarrt wie in Agonie, während mein Herz raste. Rotes Wachs rann über meine zitternde Hand, und der Gestank hatte ein unerträgliches Ausmaß erreicht. Dann fiel mein Blick auf einen Haufen in einer Ecke, und meine Beine begannen nachzugeben. Es war das Grauen. Geschwärzte Totenschädel lagen übereinander gestapelt, dürre, gebleichte Knochen waren zu grotesken Scheiterhaufen geschichtet, aber das Schlimmste waren daumendicke, weiße Maden auf gewissen dunklen Gebilden, die im Flackerlicht nach mir fingerten. Ich bekam kaum noch Luft, wollte fliehen und war doch wie gelähmt, obwohl meine Hände immer stärker zitterten. Ein Wachstropfen spritzte mir ins Auge und ich stieß einen Schrei aus, der doch nur ein trockenes Krächzen wurde.Die Kerze glitt mir aus der Hand und sofort umhüllte mich die gnadenlose, grausame Finsternis des ewigen Todes. Doch der Schmerz brachte mich wieder zur Besinnung. Ich drehte mich um und taumelte in die Richtung, in der ich den Ausgang vermutete. Nur weg, weg, weg von dem Grauen. Dumpf schlug meine Stirn an die Ziegelwand, aber vor Entsetzen spürte ich es kaum. Ja, das musste der niedere Gang sein. Ich bückte mich und hastete mit vorgestreckten Armen weiter, die Augen weit aufgerissen und doch blind in der schwärzesten Dunkelheit meines Lebens. Da war die Treppe, und hoch oben leuchtete das kleine, graue Viereck des Tageslichtes. Ich weiß nicht mehr, wie ich die glitschigen Stufen nach oben geschafft habe und wie ich durch den Flur nach draußen gekommen bin. Aber ich erinnere mich noch an die entsetzten Gesichter von Fritz und Fräulein Neumann. Fritz hatte einen Flachmann mit Selbstgebranntem dabei, den ich in einem Zug leerte. Dann ging es mir besser, und ich konnte, wenn auch stammelnd und stotternd, von den schrecklichen Dingen erzählen, die ich gesehen hatte.
Fritz sah mich ungläubig an.
"Mach mal langsam, mein Freund. Leichen sagst du? Skelette? Bevor wir jetzt die Polizei holen und das ganze Dorf scheu machen, will ich erst mal selbst nachschauen. Ich bin schließlich der Bürgermeister." Er zog sein Handy aus der Tasche und trommelte einige Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr zusammen, die in einem roten VW-Bus auch kurze Zeit später eintrafen. Fritz überließ mich der Obhut von Fräulein Neumann und ging mit den Feuerwehrmännern, bewaffnet mit starken Handlampen, ins Haus. Es dauerte nicht lange bis sie zurückkamen. Ich hatte mich unter dem Einfluss Fräulein Neumanns und des Selbstgebrannten etwas beruhigt und starrte Fritz an. Er setzte sich neben mich und beobachtete die Feuerwehr beim Abrücken. Erst dann begann er zu sprechen:
"Also, mein Freund. Da unten ist … nichts. Das heißt nichts Schreckliches. Ich glaube, du warst etwas überfordert. Denk doch, wie viel Bier wir gestern geleert haben, von den Schnäpsen gar nicht zu reden. Und dann der Geruch! Du hast bestimmt ein Kindheitstrauma davon."
"Fritz. Was … ist … da … unten?"
"Nichts! Ja, klar, Ratten, Spinnen, Moder und Dreck. Dürre Äste zum Anfeuern, ein Haufen alter Zuckerrüben, halb verfault und ein paar Zentner vergammelte Kartoffeln, aus denen schon fingerdicke Triebe wuchern. Sonst nichts."
Ich blickte ihn an und sah, dass er die Wahrheit sagte. "Tut mir leid, Fritz, aber ich glaube, meine Nerven waren schon mal besser gewesen."
Fritz sah mich an, grinste dann plötzlich, schlug mir auf die Schulter und antwortete:
"Macht doch nichts, alter Kumpel, lass uns zum Roten Ochsen gehen und den Schreck runterspülen."


Ich folgte Fritz' Rat, schlug das Erbe aus, und das Grundstück fiel somit gesetzesgemäß an den Staat. Erst vor kurzem, auf dem Oktoberfest, traf ich zufällig Fritz wieder, und wir tranken ein paar Maß auf die alten Zeiten.
"Was ist eigentlich aus dem Haus meiner Tante geworden?", fragte ich ihn schließlich.
"Oh das!", antwortete er. "Das ist gut für unser Dorf. Wir haben die Bruchbude eingerissen, planiert und einen Kinderspielplatz daraus gemacht."
"Und … und damals, ich meine … wart ihr wirklich da unten, und da war wirklich nichts?"
"Himmel noch mal, ich schwör's dir! Wir sind da runter, rechts den Gang hinter und haben nur die dürren Äste, die verfaulten Rüben und Kartoffeln gefunden und ein paar Ratten, wie ich dir gesagt habe!"
"Moment mal …" Mir verschlug es fast die Sprache.
"Ihr seid … rechts gegangen?"
"Ja, klar. Links war zwar auch ein Gang, aber warum hätten wir da auch noch reinschauen sollen? Du weißt ja, wie's da gestunken hat. Wir waren froh, wieder an die frische Luft zu kommen."
Ich sagte nichts mehr, sondern bestellte noch eine Maß. Die brauchte ich jetzt dringend …

Garlin14810



Impressum

Texte: Cover: Arnold/pixelio
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2010

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