Der Große Schinkenraub
Der
Winter war hart, sehr hart. Als der Weihnachtsmarkt auf dem Kirchplatz noch geöffnet hatte, war es der Gruppe noch äußerst gut gegangen. Plätzchen, Pommes Frites, Pfefferknacker, Bratwürste, Rahmschnitten, Lebkuchen, Backschinkensemmeln, Eierlikörpunsch und Glühwein – ein Schlaraffenland. Immer, wenn der Markt um 20 Uhr schloss und die Budenbesitzer die Läden versperrt hatten, blieb ein reich gedeckter Tisch zurück für Rufulus, den Clanchef und seine Rattenbande. Der Boden war übersät mit Krumen, Bröseln und großen Brocken der leckersten Nahrung, die man sich nur vorstellen konnte, und von den Glühweinresten in den zu Boden gefallenen Pappbechern schleppte so manches Bandenmitglied einen dicken Kater mit in das labyrinthartige Versteck am Kirchenfundament.
Sogar Pinkus war es gut gegangen. Er war ein Außenseiter. Mehr oder weniger geduldet, weil er noch jung war. Aber er war nicht sehr groß, nicht sehr kräftig, nicht sehr mutig. Aber vor allem: Er war Vegetarier. Eine Ratte, die kein Fleisch frisst! Ja wo gibt's denn so was? Sogar seine Eltern betrachteten ihn als aus der Art geschlagen. Woher das kam? Pinkus wusste es selbst nicht. Er mochte nur kein Fleisch. Wenn sich die Clanmitglieder genussvoll schmatzend über Maden, Käfer, Regenwürmer oder Fleischabfälle hermachten, kam ihm das Frühstück hoch. Mehrfach hatte beim Probieren sein Magen rebelliert, und so ließ er es eben bleiben. Zum Glück hatte Rufulus, der Rattus Rex, irgendwie einen Narren an ihm gefressen, was sich einfach so äußerte, dass er ihn in Ruhe ließ und andere Ratten zurückpfiff, wenn sie anfingen, Pinkus wegen seiner Abartigkeit zu piesacken. Andererseits: Eine Ratte, die kein Fleisch frisst? Prima. Bleibt mehr für die anderen übrig.
Obwohl beim Fressen jeder erst mal auf sich schaute, waren sie doch eine verschworene Gemeinschaft. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, schlugen sich durch und behaupteten ihr Revier um die Kirche auch gegen die anderen Rattenbanden. Obwohl – so richtig scharf waren die wohl nicht darauf, denn nicht umsonst hieß es: "Arm wie eine Kirchenratte." (Oder war es –maus? Egal, was sind schon Mäuse!)
Nur bei den seltenen Kirchenfesten wurden sie von den anderen Banden beneidet und natürlich, wenn der Christkindlmarkt stattfand.
Doch jetzt war Weihnachten längst vorbei, die Buden waren verschwunden, der letzte Krümel vertilgt, und alles lag unter einer dicken Schneedecke verborgen.
Natürlich hatte Rufulus die Vorratskammer füllen lassen. Mit Körnern, weil die nicht verdarben. Das kam zwar Pinkus entgegen, aber die Portionen waren streng rationiert und gingen trotzdem langsam zur Neige. Der Hunger zwickte und zwackte. Genauer gesagt, er nagte in den Gedärmen wie eine hungrige Ratte. Welch ein Vergleich!
Alle waren geschwächt und dösten vor sich hin, als Pinkus erwachte, weil sich Unruhe in der Höhle breit machte. Einer ihrer Späher, die in regelmäßigen Abständen durch die Gegend streiften und nach Beute und Nahrung Ausschau hielten, war zurückgekehrt, und hatte Erstaunliches zu berichten.
Ein neuer Pfarrer war eingezogen. Einer aus Südtirol.
"Ja und? Was weckst du uns deswegen auf? Wen interessiert das? Geh lieber Futter suchen…"
"Jetzt haltet doch einmal eure verdammten Schnauzen!", brüllte Herakles, der trotz des Hungers noch so aussah, wie er hieß. "Lasst Sisyphos doch mal berichten!"
Rufulus starrte Herakles erbost an, war es doch nicht dessen Aufgabe, für Ordnung zu sorgen, schrie dann aber nur:
"Jetzt rede endlich, Sisyphos!"
Der Späher begann zu berichten:
"Ihr kennt doch die Speisekammer des Pfarrhauses. Unser Waterloo."
Rufulus knurrte gereizt und rief: "Weiter!"
"Na ja, damals haben wir versucht, den weißen Tresor des alten Pfarrers zu knacken, wie ihr wisst."
Unwilliges Gemurmel erhob sich.
"Ja, wir hatten viele Opfer zu beklagen. Der weiße Tresor, der unseren Zähnen so heftigen Widerstand entgegen gesetzt hat, dass Remus, Abakus und Paris daran starben. Und dann der komische, graue Wurm, der von der Wand zum Tresor führte. Als Hector und Priamos daran knabberten, wurden sie verkohlt."
"Ja, ja, wir wissen. Unser Waterloo. Friede ihrer Asche."
"Aber jetzt ist alles anders! Jetzt hängt ein riesiger, geräucherter Schinken in der Speisekammer. Einfach so. Nicht im Tresor".
Gemurmel erhob sich wieder. Zum Beweis warf der Späher ein paar rauchig riechende Fetzen in die Gruppe, die sich gierig darauf stürzte.
"Schinken, Freunde, Südtiroler Schinken!"
Wüstes Geschrei brach los, aus den Schnauzen troff Speichel, und die Schwänze peitschten über den Boden.
"Los, auf, nichts wie hin, Schluss mit der ewigen Körnerfresserei, scheiß auf den Hunger!" Alles schrie durcheinander.
Nur Pinkus rollte enttäuscht den Schwanz ein. Schinken. Bääh.
Mit einem gellenden Pfiff brachte Rufulus seine aufgeregte Bande zum Verstummen.
"Es nützt uns wenig", begann er seine Rede, "wenn wir an dem Schinken nagen, bis uns die Bäuche platzen. Wenn das Teil so groß ist, wie Sisyphos berichtet, können wir nur wenig davon essen. Aber das merkt Frau Steinbrück und der Schinken ist weg. Wir sind zwei Tage satt und der Hunger ist wieder da. Und schließlich: Vergesst Kater Karlo nicht."
Ängstliches Schweigen breitete sich aus. Frau Steinbrück war die Haushälterin der Pfarrei und Karlo ihr Kater. Ach was, Kater. Karlo war ein Teufel! Schwarz wie die Hölle, hinterhältig wie Dschingis Khan und riesig wie King Kong. Einer von der Sorte, die früher den Hexen auf den Schultern saß. Ein Monster. Eine Mordmaschine. Auch ein Grund, warum andere Rattenbanden kein gesteigertes Interesse am Kirchenterrain hatten.
Mit anderen Katzen kam der Clan ganz gut zurecht. Wenn Rufulus sich auf die Hinterbeine stellte und die gefährlichen Nagezähne bleckte, zog jede Mieze den Schwanz ein und trollte sich. Nicht umsonst war er Rattus Rex. Rufulus war ein harter Kämpfer, aber auch ein geschickter Verhandler und Taktierer. Ein Abkommen, so war sein Wahlspruch, ist besser als ein Kampf. Und so waren sie mit einigen wild lebenden Katzen schon öfters Bündnisse eingegangen und hatten gemeinsam nicht wenige erfolgreiche Raubzüge durchgeführt.
Aber mit Kater Karlo verhandeln? Undenkbar. Eher friert die Hölle zu.
"Also, Leute", sagte er in die Stille hinein, "wir brauchen den ganzen Schinken. Das hilft uns viele Wochen über die Runden. Wir brauchen ihn. Unser Korn ist bald alle."
Und dann erklärte er ihnen seinen Plan.
In der nächsten Nacht ging's los. Lukretia und Sokrates hielten an der Hintertür des Pfarrhauses mit der Katzenklappe Wache, für den Fall, dass Kater Karlo unverhofft von seinen allnächtlichen Streifzügen zurückkehren sollte. Philosophia, Rußwurm, Luzifer, Nietzsche und Madonna (Na ja, sie hieß nicht wirklich so, aber jeder nannte sie Madonna) und noch ein paar andere drangen unter Rufulus' Führung in das alte Pfarrhaus ein.
Pinkus hatten sie zuhause gelassen. Er war jung, klein, ängstlich und Vegetarier. Ein Versager. So jemand konnte die Aktion höchstens gefährden. Er sollte stattdessen ihr Versteck bewachen. Naja. Heute Nacht würde wohl kein Angreifer kommen.
Im Hausgang herrschte Totenstille, und so huschten sie an den Fußleisten entlang zur Treppe. Vorsichtig witternd prüfte Rufulus die Lage, dann ging's trippeltrappel die Treppe hinunter.
Das Pfarrhaus war ein Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, solide gebaut, aber mit einem Ziegelfundament, an dem der Zahn der Zeit genagt hatte. Und die Zähne der Ratten. Zielsicher hatten sie vor langer Zeit in mühevoller Arbeit einen Riss erweitert und so einen Gang zum Keller gegraben, in der Hoffnung auf fette Beute. Doch sie hatten nur den weißen Tresor gefunden und einige den Tod. Der Gang wurde von den Spähern in regelmäßigen Abständen benutzt, denn manchmal lag in den Regalen ein Glasgefäß so günstig, dass man es über den Rand wälzen und auf dem Ziegelboden zerschellen lassen konnte, um an den Inhalt zu gelangen, doch diese Glücksfälle waren sehr selten. Aber jetzt ging es um mehr.
Als Jungratte war Rufulus an der Erforschung des Pfarrhauses beteiligt gewesen, eine bittere Expedition, die einigen Clanmitgliedern durch Kater Karlos Krallen und Zähne das Leben gekostet hatte. Aber Rufulus war entkommen, und die Räumlichkeiten hatten sich in sein Gehirn eingebrannt. Am Fuß der Treppe führte eine Tür zu dem Raum, in dem der weiße Tresor stand. Und in dem der Schinken wartete. Diese Tür hatte keine Klinke, sondern einen Knopf, und war deshalb nur mit einem Schlüssel zu öffnen, was die Sache sehr erschwerte. Die jeweiligen Pfarrer hüteten ihre Weinvorräte sehr sorgfältig.
Es war die Aufgabe des Außentrupps, durch den engen Gang im Fundament vorzudringen und zu versuchen, die Tür von innen zu öffnen. Dort war nämlich aus Sicherheitsgründen eine Klinke vorhanden. Dann die Schnur abbeißen, an der der Schinken hing und mit vereinten Kräften die leckere Beute durch den Gang zur unter dem Haus befindlichen Garage schleppen. Hoffentlich war sie nicht abgesperrt. Mit normalen Türen hatte die Rattenbande keine Probleme. Ein Seil über die Klinke werfen, zwei ziehen an, fertig.
Die Garage, so hatte sich Rufulus erinnert, besaß innen einen elektrischen Toröffner. Eine rot-weiße Plastikkette, die von der Decke baumelte.
Rufulus konnte aus dem Stand eineinhalb Meter hoch springen, das hatte ihnen auch damals das Leben gerettet, als sie vor Kater Karlo geflohen waren. Und sein Gewicht reichte aus, um den Öffnungsmechanismus in Bewegung zu setzen.
Alle hatten sich leise um die magische Tür versammelt. Rufulus schaute forschend in die Runde und sog prüfend die Luft ein. Ja, da war er, der Geruch, der alle Sinne benebelte. Er kroch unter der Tür heraus und direkt in ihre Schnauzen. Die Schwänze begannen zu peitschen, die Speicheldrüsen zu tropfen. Geräucherter Schinken!
Der wunderbare Duft überdeckte allerdings dummerweise einen anderen Geruch, einen Geruch, der von einem monströsen Schatten ausging, welcher vorsichtig, lautlos, Pfote für Pfote hinter ihnen die Treppe herunter geschlichen kam…
Hinter der Tür hörte die gespannt wartende Rattenbande ein Schleifen, Zerren, Schlagen – dann gab es einen Klack, und die Tür war auf. Leise kichernd fielen sich die Clanmitglieder in die Arme, klopften sich auf die Schultern und starrten zu dem riesigen Schinken hoch, auf dem schon Hannibal saß und an dem fettigen Seil knabberte.
Ein Fauchen und höhnisches Lachen ließ die ganze Bande herumfahren und erstarren. Kater Karlo! Der Killer! Er war gar nicht außer Haus gewesen wie es sonst seine Art war, sondern hatte heimtückisch ihr Eindringen beobachtet.
Nach der ersten Schrecksekunde gingen alle in Kampfstellung, obwohl sie wussten, dass sie gegen diese Mordmaschine keine Chance hatten. Aus und vorbei. Ade, du schönes Leben. Doch eine Ratte geht niemals kampflos unter, auch wenn es aussichtslos ist.
Kater Karlo ließ sich Zeit. Er genoss die Situation. Der einzige Fluchtweg war der enge, alte Gang durchs Fundament, aber den zu erreichen, und einer nach dem anderen durchzukriechen, konnte nicht klappen. Lediglich Hannibal hätte von seinem Schinkenplatz aus eine Chance gehabt, aber Ratten sind nicht feige. Ratten ziehen kämpfend ins Rattenwalhall ein.
Karlo dehnte und streckte sich, fuhr die Krallen aus und ein, weidete sich am Entsetzen der Rattenbande. Dann spannte er die Muskeln an und wollte angreifen.
Plötzlich ertönte von der Treppe ein schriller Pfiff. Zwar war es dunkel, aber die Ratten konnten deutlich sehen, dass es Pinkus, der Schwächling war, der da herumhüpfte und schrie:
"He, du hässliches schwarzes, schleimiges Ungeheuer, du stinkender Scheißbatzen, schleich zurück in dein verpisstes Körbchen, bevor ich dich in der Luft zerreiße!"
Der Rattenclan starrte sich entsetzt an. War Pinkus verrückt geworden, warum war er nicht im Versteck geblieben? Was war in ihn gefahren? Er würde mit ihnen untergehen! Aber vielleicht war das auch besser so.
Der Kater drehte den Kopf und starrte die kleine, unaufhörlich schimpfende Ratte wütend an.
"Stinkendes Schmusekätzchen, willst du ein Leckerli, komm und hol es dir, du faulendes Madenfutter, geh zu Frauchen, du weicheiiger Fußwärmer!"
Ein tiefes Grollen drang aus Karlos Kehle. Sollte er die Rattenbande angreifen oder erst den kleinen, lebensmüden Scheißer zu Brei machen? Der Rattenclan war wichtiger. Ruckartig drehte er wieder den Kopf zur Speisekammer und fixierte Rufulus. Das war der Anführer. Eindeutig. Ihn würde er zuerst erledigen.
Plötzlich drangen mehrere schmerzhafte Stiche durch sein Fell. Der kleine, graue Mistkerl hatte begonnen, mit einer Zwille Büroklammern auf ihn abzuschießen. Als ein Geschoss sein Ohrläppchen zerfetzte, war es genug.
Fauchend drehte er sich um und sprang mit einem gewaltigen Satz auf die Treppe zu. Noch im Flug erstarb sein Kampfschrei. Mit einem lauten Knall schlug er auf die Treppe auf und kollerte zum Boden zurück, wo er reglos liegen blieb.
Die Rattenbande hielt den Atem an. Was war geschehen? So scharf wie Katzen können Ratten in der Dunkelheit nicht sehen, aber der alte Kämpfer Rufulus reimte sich schnell alles zusammen.
Pinkus war heimlich mit Abstand der Bande gefolgt und hatte bemerkt, wie Kater Karlo hinter ihr die Treppe hinab schlich. Sie zu warnen wäre zu spät gewesen, und so hatte er panikartig nach einem Ausweg gesucht. Er fand ihn in Gestalt eines losen Brettes in der morschen Deckenverkleidung der Kellertreppe. Aus dem groben Teppich im Hausgang knabberte er eine Schnur heraus und bastelte nach McGuiver-Manier seine Falle.
Er hatte den Angriff des Katers provoziert und vorhergesehen. Beim Ausweichsprung nach oben riss er gleichzeitig mit Hilfe der Schnur das Brett von der Decke, das unglaublich zielsicher auf Karlos Schädel krachte. Volltreffer!
"Mein Katz is dick, mein Katz is fett,
ich brat sie mir als Katzolett"
sang Pinkus und tanzte auf Karlos betäubtem Körper herum, während die anderen schnell den eroberten Schinken auf ihre Schultern luden und nach vorhergesehenem Plan durch die Garage das Weite suchten.
Und der Vegetarier, Versager, Schwächling Pinkus war plötzlich ein Held. Während die Rattenbanditen sich die Bäuche mit Schinken voll schlugen, überließen sie Pinkus gerne die Körner. Und immer wieder ließen sie ihn hochleben.
Ein Mythos war geboren: "Der Große Schinkenraub".
Und Karlo? Tja, der Kater machte fortan immer einen großen Bogen, wenn er einen aus der Rattenbande auch nur roch…
Garlin211208
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010
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