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Dimitrij Jascholenskow blickte auf das Display, als das Telefon läutete. Seltsamerweise waren statt einer Nummer nur Striche zu sehen. Er schnippte mit den Fingern, winkte seinen Bodyguard zu sich, schaltete den Lautsprecher ein und hob ab.
"Ja?"
"Hallo Herr Jascholenskow, schön Sie zu hören. Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen."
Der Leibwächter drückte rasch die Aufnahmetaste, um das Gespräch mitzuschneiden.
"Wer sind Sie", fragte Jascholenskow, "und woher haben Sie diese Nummer?"
"Das spielt keine Rolle. Wie gesagt, ich will Ihnen ein Geschäft anbieten. Ein Geschäft, das Sie auf keinen Fall ablehnen können, zumindest würde ich Ihnen das nicht raten. Ich rufe morgen zur gleichen Zeit wieder an."
"Wer zum…" Aber der Anrufer hatte bereits aufgelegt. "Was, zur Hölle, war das denn?", fragte Jascholenskow in die Stille hinein.
"Das klingt verdammt nach einer Erpressung, Chef. Der weiß was, da können Sie Gift darauf nehmen. Woher hat er sonst die Geheimnummer?"
"Dá, dá. Aber warum sagt er nicht gleich, was er will? Kabán! Egal, das verschafft uns Zeit. Hol' sofort Zettler mit seinem technischen Kram her. Wenn das Schwein wieder anruft, will ich wissen, woher!"
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Am nächsten Tag, exakt zur gleichen Uhrzeit läutete das Telefon wieder. Zettler, der Elektronikspezialist, drückte zwei Schalter und nickte Dimitrij Jascholenskow zu, der schwitzend hinter seinem Schreibtisch thronte. Er hob ab, atmete tief durch und meldete sich:
"Ja?"
"Hallo Dimitrij, ich bin's. Ich habe versprochen, wieder anzurufen."
Zettler machte rotierende Handbewegungen um anzudeuten, das Gespräch möglichst lange hinauszuzögern. Dimitrij Jascholenskow verstand.
"Moment bitte, das Telefon ist gerade auf der anderen… ich muss schnell…" Er legte den Hörer geräuschvoll auf die Tischplatte, raschelt Geschäftigkeit simulierend mit der daneben liegenden Komsomolskaja Prawda, klapperte mit dem Finndolch, den er als Brieföffner benutzte und nahm schließlich den Hörer wieder ans Ohr. "So, Entschuldigung, jetzt bin ich wieder hier. Also. Jetzt sagen Sie mir erst einmal, wer Sie sind und was Sie wollen."
Der Anrufer kicherte heiser. "Namen sind was für Grabsteine, nicht wahr? Aber Sie können mich Willi nennen. Und was ich will, ist ganz einfach. Eine Million. Euro natürlich, nicht Rubel."
"Ach ja", antwortete Jascholenskow gedehnt, "und darf ich vielleicht auch fragen, wofür?" Er blickte zu Zettler, doch der schüttelte den Kopf und machte wieder die rotierende Handbewegung.
"Kommen Sie, mein lieber Dimitrij ", sagte der Anrufer, "sagen wir mal, ich werde Ihr stiller Teilhaber, und als solcher kann ich schweigen, wie ein Grab." Er kicherte wieder mit dieser heiseren Stimme. "Aber lassen Sie mich konkreter werden. Sie besitzen in München die Restaurants Datscha, Moskwa und Novosibirsk. Das ist bekannt. Was aber nicht jeder weiß ist, dass das reine Geldwaschanlagen sind. Weiter ist nicht bekannt, dass Ihnen auch noch das Tantrix, der Bergmannshof und Gerdi's Pub gehören. Und jede dieser Kneipen ist eine illegale Zockerbude. Daneben…", er hob die Stimme, um Jascholenskows Einwand zu unterbinden, "…daneben versorgen Sie noch den ganzen süddeutschen Raum mit allem, was man illegal rauchen, schlucken oder spritzen kann. Sie sind die Nr. 1 im Rotlichtmilieu, regulieren die rumänischen Wohnungsknacker und so weiter."
"So ein Blödsinn! Du kannst verdammt viel behaupten, du stinkende Krísa!"
"Oha, wie unhöflich der Herr sein kann. Ich glaube, ich werde auflegen und meine Informationen gleich an die Albaner verkaufen. Aber eins noch: Ich kann beweisen, dass Sie eigenhändig den zweiten Mann der Albaner, Shkodran Berisha, getötet haben. Leben Sie wohl!"
Jetzt stand Jascholenskow der blanke Angstschweiß auf der Stirn. "Halt, warten Sie!", schrie er. "Wir sollten doch ins Geschäft kommen!" Verzweifelt blickte er wieder zu Zettler hinüber. Der starrte auf seinen Bildschirm, hob langsam die Hand und riss dann den Arm mit gestrecktem Damen nach oben. Unhörbar schnaufte Dimitrij Jascholenskow durch. "Also, ich brauch natürlich etwas Zeit. Eine Million ist kein Pappenstiel. Zwei Wochen mindestens."
"Der Herr Dimitrij, immer zu Scherzen aufgelegt. Sie haben zwei Tage. Ich melde mich.", antwortete der Anrufer kalt und trennte die Verbindung.
"Und, was ist", brüllte Jascholenskow, "haben wir die Drecksau?"
Zettler nickte und legte einen Zettel auf den Tisch. Jascholenskow riss ihn hoch und las laut vor: "Wilhelm Ackermann, Zielstattstrasse 7, 5. Stock rechts. Willi – Wilhelm. Kann ein Mensch noch blöder sein? Labert in aller Gemütsruhe und nennt auch noch seinen Namen!"
"Chef", sagte der Bodyguard, "ich glaube, der blufft. Die Bullen versuchen doch seit Jahrzehnten, uns ans Bein zu pinkeln. Vielleicht hat er von denen was aufgeschnappt, oder es ist einer von ihnen selbst, der ein Geschäftchen machen will. Beweisen kann der nichts, ich hab' das im Urin. Wir sollten abwarten."
"Wer hat denn dich nach deiner beschissenen Pisse gefragt?", blaffte Jascholenskow. "Abwarten? Von wegen, proklétsie! Mich erpresst keiner ungestraft. Mach sie sofort kalt, die Ratte!"
Zettler klemmte das Laptop und seine anderen Gerätschaften unter den Arm und suchte das Weite. "Ich habe nichts gesehen, nichts gehört, nichts gerochen – ich war nicht einmal hier.", plapperte er noch und verschwand durch die Bürotür.
Der Leibwächter nickte. "Geht klar, Chef, ich warte nur noch bis zum Abend", sagte er und folgte Zettler.
- 3 –
Hauptkommissar Reichert griff schlaftrunken zum Telefon. Es war zwei Uhr morgens, und er war nach nur 30 Minuten Schlaf sehr, sehr müde. Und auch etwas angetrunken. Eigentlich hatte er seit heute Urlaub und wollte nicht ans Telefon gehen, sondern seinen Kater ausschlafen, den er sich zusammen mit seinem Freund Richard Forster seit dem frühen Abend herangezüchtet hatte. Richard hatte wieder einmal seine depressive Phase gehabt und Verständnis und Freundschaft gebraucht, und Reichert hatte ihm beides gegeben. Für seinen Freund würde Reichert immer da sein, denn er fühlte sich schuldig an dessen Zustand.
Er rieb die Augen und meldete sich.
Sein Kollege Angermeier war am anderen Ende der Leitung.
"Tut mir Leid wegen dem Urlaub, aber wir haben eine Leiche. Und die wird dich interessieren. Es scheint wieder mal ein Auftragsmord unseres Freundes Dimitrij Jascholenskow zu sein."
"Ich komme!", stöhnte Reichert, legte auf und rief den Taxistand an.
Es war eine erbärmliche Bruchbude in einem schäbigen Haus, Hinterhof, 5. Stock ohne Aufzug. Der Hauptkommissar musste erst zu Atem kommen, nickte dann dem uniformierten Kollegen an der Wohnungstür zu und ging hinein. Nebenbei registrierte er das brachial herausgerissene Schloss.
Direkt neben der Tür befand sich ein verdrecktes Bad, daran anschließend eine verwahrloste Küche, aus der ein säuerlicher Geruch zäh wie Honig kroch. Alle Schränke standen offen, Geschirr lag zerbrochen am Boden – es war Reichert sofort klar: Jemand hatte etwas gesucht. Flach atmend ging er zum letzten Raum weiter. Es war ein kombiniertes Schlaf- und Wohnzimmer, wenn man so wollte. Auch hier unbeschreibliches Durcheinander und ein Geruch, der dem aus der Küche in nichts nachstand. Am offenen Fenster stand sein Kollege Angermeier und versuchte frische Luft zu bekommen. Zu dem säuerlichen Geruch der Wohnung kam noch der scharfe Pulverrauch einer Feuerwaffe.
Die Gerichtsmedizinerin Miranda Bellini kniete neben der Schlafcouch und erhob sich, als sie Reichert bemerkte.
"Hi Reichert.", sagte sie und grinste. "Wie war dein Urlaub?"
"Na ihr zwei, wieder mal ein Tête-à-tête?", antwortete er und nickte Angermeier zu. "Was hast du, Doc?"
Miranda Bellini hielt ihm einen Klarsichtbeutel mit neun Patronenhülsen und einem Projektil vor die Nase. "Eindeutig 9,27 mm Makarov PM– Munition. Hersteller Tula Ammunitions Factory, Russland."
Reichert sah die Leiche auf der Couch an. Sie lag verdreht in einem Blutsee, das Gesicht zur Wand. Im Hinterkopf klaffte ein gewaltiges Loch. "Darf ich raten? Acht Schüsse in den Unterleib und einer durch den Kopf?"
"Richtig, Reichert", bestätigte Miranda, "und du weißt, wessen Handschrift das ist. Dimitrij Jascholenskows."
"Die Nachbarn?"
"Das Übliche. Ein Krach im Treppenhaus, mehrere Schüsse, noch mal Krach und Ruhe. Und gesehen hat natürlich keiner was", antwortete Angermeier.
"Klar. Wer steckt da schon seine Nase aus der Tür." Reichert beugte sich zur Leiche hinunter. " Ich darf doch schon, Doc?", sagte er, zog sich Handschuhe über und drehte den Kopf des Opfers von der Wand. Scharf zog er die stickige Luft ein und richtete sich wieder auf. Plötzlich war er so blass wie die Leiche.
"Das ist Wilhelm Ackermann."
"Ach du heilige Scheiße!", entfuhr es Miranda Bellini.
"Der Ackermann?"
"Ja."
- 4 -
Noch vor wenigen Stunden hatte Reichert mit seinem Freund Richard Forster bei einem Bier nach dem anderen die grausame Geschichte wieder einmal durchgekaut. Der Ackermann.
Richard hatte es in seinem Leben schon schwer genug gehabt. Seine Frau war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Fahrerflucht. Der Schuldige wurde nie gefasst. Und von einer Sekunde auf die andere war das alte Leben von Reicherts Freund zerstört. Er saß alleine da mit seinem Schmerz und mit drei unmündigen Kindern, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Beruf aufzugeben, um sich um sie kümmern zu können. Irgendwie schaffte er es, sich und seine Familie zu stabilisieren, obwohl er seinen Kindern kaum die Mutter ersetzen konnte. Aber er gab sein Bestes, daran gab es keinen Zweifel.
Doch dann, letztes Jahr, schlug das Schicksal, oder besser der Teufel erneut erbarmungslos zu. Richards älteste Tochter Susi, gerade mal 14 Jahre alt, war auf dem Heimweg von der Schule am helllichten Tage im Englischen Garten überfallen worden. Sie wurde ins Gebüsch gezerrt, brutalst vergewaltigt, gnadenlos erwürgt und weggeworfen wie ein Stück Dreck.
Reichert selbst hatte die Fahndung nach dem Täter übernommen – er hätte es besser nicht getan. Seine Sonderkommission hatte schnell Erfolg. Schon nach zwei Tagen nahmen sie Wilhelm Ackermann fest. Reichert war hundertprozentig sicher, dass er der Täter war. Alle Indizien passten, sogar die DNA zeigte hochsignifikante Übereinstimmung. Und Ackermann war schon einschlägig aktenkundig gewesen. Doch Reichert hatte Fehler gemacht, Fehler, die ihm, wenn er nicht so emotional beteiligt gewesen wäre, nie unterlaufen wären. Aber schließlich kannte er die Tochter seines Freundes von ihrer Geburt an. Er hatte in einem Wutanfall Ackermann geschlagen, ein wichtiges Beweisstück war irgendwie verloren gegangen, und eine gelangweilte Richterin zusammen mit einem schmierigen Winkeladvokaten sorgte dafür, dass Ackermann auf freiem Fuß blieb. Seitdem verfolgten Reichert ständig Schuldgefühle, die sich mit Wutanfällen abwechselten, obwohl Richard ihn von aller Schuld frei sprach. Das fiese Grinsen auf Ackermanns Gesicht bei der Urteilsverkündigung würde er nie vergessen.
Lange Zeit war Forster zwischen abgrundtiefem Hass und endloser Verzweiflung fast zerrissen worden. Reichert brauchte alle Kräfte als Freund, um Richard davon abzubringen, sich das Leben zu nehmen, oder Ackermann mit einem Prügel einfach tot zu schlagen. Nur die Tatsache, dass seine beiden anderen Kinder ihn jetzt dringender denn je brauchten, hielt ihn davon zurück.
Es war schon bizarr. Ausgerechnet an dem Abend, an dem er mit Richard wieder einmal das Grauen diskutiert und mit Bier betäubte, hatte der viehische Kinderschänder und Mörder seine gerechte Strafe erhalten. Reichert würde Richard gleich morgen die frohe Botschaft überbringen. Es würde ihn glücklich machen. Doch erst musste er seine Arbeit erledigen. Schließlich war ein Mord geschehen. Auch wenn es Mord an einem perversen Mörder war. Was hatte ein kleiner, schmutziger, Kinderschänder mit der russischen Mafia zu tun, warum war der Topkiller auf ihn angesetzt worden? Eigentlich, so dachte Reichert bei sich, hatte er dieses Mal so gar keine Lust, den Täter zu finden. Er würde die Sache erst einmal zu den Akten legen und seinen Urlaub endlich antreten.
- 5 –
Ungefähr zur gleichen Zeit klemmte ein Mann in blauem Monteursanzug zwei vertauschte Telefonleitungen um und verschloss den grauen Schaltkasten der Telekom an der Reichenbachbrücke mit seinem Universalschlüssel. Er blickte sich um, doch um diese Zeit war niemand auf der Strasse.
Der Mann ging auf die Brücke und starrte lange in das dunkle, rauschende Wasser hinunter.
Schließlich nahm er ein Prepaidhandy aus der Tasche und wählte eine Nummer.
"Gut gemacht, Herr Jascholenskow.", sagte er, als die Verbindung stand. "Erschrecken Sie nicht, dass ich noch lebe. Manchmal ist man einfach falsch verbunden. Ihr Mann hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Vergessen Sie die Million, Sie haben was gut bei mir." Dann kicherte er heiser, warf das Handy in die schäumende Isar und den Universalschlüssel hinterher. Der Schlüssel war das Einzige gewesen, das er aus seinem alten Beruf als Fernmeldetechniker der Telekom noch in Besitz gehabt hatte.
Zögernd riss Richard Forster den Blick vom Wasser hoch und beeilte sich, nachhause zu kommen, bevor seine Kinder wach wurden.
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(c)BRieser9610
Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Bert Rieser
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2010
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