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Du, Hölle, musstest dieses Opfer haben!
Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen!

Mephistopheles




Deepwater Horizon




235 East 42nd Street, New York



Im 34. Stock der Konzernzentrale des Pharmariesen Pfyser

saß ein Mann mit aschfahlem Gesicht am Schreibtisch. Seine Haare hingen wirr über die Augen, die Achselbereiche und der Rücken seines Businesshemdes waren durchgeschwitzt, die gelockerte Krawatte kringelte sich wie ein nasser Spüllappen auf der Tischplatte. Mit schweißnassen Händen stützte er den Kopf und starrte auf den Sony Flachbildschirm, der an der gegenüberliegenden Wand befestigt war.
Der Fernseher zeigte kein Bild, nur weißes Rauschen. Einzig der CNN-Newsflash-Ticker lief im unteren Bereich.

++ Tokio: Hokkaido-Express entgleist, alle Bahnverbindungen gestört, Verkehr komplett zum Erliegen gekommen ++ Sao Paulo: Anzahl der Toten hat jedes Ausmaß überschritten, letzte Meldung 10.15: Vier Millionen, seither keine Informationen mehr ++ Berlin: Regierung hat sich abgesetzt, öffentliches Leben erloschen, Anzahl der Opfer unbekannt ++ London: keinerlei Informationen ++ Moskau: keinerlei Informationen ++ LETZTE NACHRICHT: WIR VERSUCHEN,UNS IN SICHERHEIT ZU BRINGEN: HAHAHA,WAS FÜR EIN WITZ! LEBEN + SIE + WOHL +++++++++++++++++++----------

Der Mann schloss die Augen. Mein Gott, dachte er, wir haben es versaut. Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Er stand langsam auf, öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus. Dort, wo sonst Telefongeklingel, Druckerrattern und Stimmenwirrwarr eine Kakophonie von Geräuschen verursachten, herrschte Stille. Totenstille.
Plötzlich spürte der Mann ein merkwürdiges Ziehen, fasste sich ins Gesicht und starrte dann seine Hand an. Sie war warm und rot und nass. Aus seiner Nase rann Blut wie Wasser und tropfte auf den PVC-Boden. Plitzschplitschplitschplitzsch. Das einzige Geräusch. Und dann schien etwas in seinem Kopf zu explodieren. Er taumelte und stürzte. Als er am Boden aufschlug, war er schon tot.


Süddeutschland, Waldstück zwischen Landsberg und Ammersee, vier Wochen später.




"Verdammt noch mal, wo sind sie hin?", schimpfte Adam Weishaupt leise vor sich hin und sah sich suchend um. Bäume, Büsche, verdorrtes Unterholz. Sonst nichts.
Schon seit zwei Wochen verfolgte er die beiden und versuchte herauszufinden, wo sie hin wollten. Ein Kind – nein eher eine Jugendliche von etwa 15 Jahren und eine erwachsene Frau. Ein seltsames Gespann. Die Kleine hatte pechschwarze, halblange Haare, die sperrig in alle Richtungen abstanden wie bei einem mutierten Stachelschwein. Einige dieser Stacheln waren knallrot gefärbt und stachen leuchtend aus den anderen hervor. Die Augen hatte das Mädchen tiefschwarz getuscht und die Lippen blutrot gefärbt. In jedem Supermarkt, aus dem sie Nahrungskonserven holten, ging sie zuerst in die Drogerieabteilung und zog sich die Lippen nach. Den Stift warf sie dann immer achtlos weg. Warum auch mitnehmen? Es gab ja genug. Sie trug schwarze Leggins, riesige Turnschuhe und ein schwarzes Minikleidchen. Erst heute Morgen hatte sie ihre viel zu große Lederjacke ausgezogen und trug sie unter dem Arm. Es war inzwischen sehr heiß geworden.
Welchen Kontrast stellte dagegen ihre Mutter dar: flache Adidas-Sneakers und irgendwie Jeans. Adam konnte das nicht genauer erkennen, denn darüber trug sie einen knöchellangen, kackbraunen Daunenmantel à la Steppdecke, geschlossen bis zum Hals. Sie legte ihn nie ab, ja öffnete ihn nicht einmal bei dieser Hitze ein wenig. Vielleicht war sie krank, oder schämte sich wegen ihrer Figur, grübelte Adam. Sie war um die Hüften ziemlich mollig, aber wen sollte das interessieren, in diesen letzten Tagen der Menschheit? Im krassen Gegensatz dazu stand ihr Gesicht. Es war wunderschön. Hohe Wangenknochen, leicht schräg stehende, strahlend blaue Augen, schulterlanges, braunes Haar, das ihr Gesicht perfekt umrahmte. Adam hatte es vor einigen Tagen heimlich durch sein Fernglas genau beobachten können und war fasziniert. Ach wenn dieser herrliche Mund doch nur einmal lächeln würde! Doch er lächelte nie. In diesen Tagen gab es nichts mehr zu lächeln. Die Strassen waren voller Leichen, aus deren aufgequollenen Bäuchen breite Highways von fetten, weißen Maden wanderten. In den Läden herrschte ein noch infernalischer Gestank als draußen, aber die Sinne waren schon so abgestumpft, dass sie es kaum noch wahrnahmen. Und Konserven gab es nur in den Läden. Dass sie vorwiegend querfeldein wanderten, war nur logisch. Und dass sie nie lächelte auch. Trotzdem – sie hatte das Gesicht eines Engels, das nicht zu ihrer plumpen Figur passen wollte.
Was soll's? dachte Adam, zumal sich seine Faszination gerade in Wut verwandelte. Wo, zum Teufel, waren die verdammten Weiber hingekommen?
Im nächsten Augenblick wusste er es. Sie hatten sich hinter dem verkrüppelten Eibenbusch versteckt gehalten. Adam Weishaupt verspürte einen teuflischen Schmerz in der linken Schulter, taumelte herum und sah die kleine Punkerin gerade mit einen gewaltigen Prügel zum zweiten Schlag ausholen. Doch Adam hatte in diversen Strafvollzugsanstalten gelernt zu kämpfen. Er sprang vor, wehrte mit der Linken den Prügel ab und schlug mit der Rechten zu. Als er die entsetzten Augen des Mädchens registrierte, öffnete er instinktiv die Hand, und aus dem mörderischen Faustschlag wurde nur eine gewaltige Ohrfeige. Bevor sie umfallen konnte, packte er die Kleine. Sie schlug um sich, biss und kratzte wie eine Wildkatze und stieß dabei die unflätigsten Schimpfwörter aus. Arschloch, Scheißer, Drecksack waren noch die harmlosesten. Als Adam sie an beiden Handgelenken zu fassen bekam und sie auf Armeslänge von sich abhielt, versuchte sie, nach ihm zu treten und zu spucken. Plötzlich hörte sie damit auf und starrte über seine Schulter. Die Mutter

!, schoss es Adam ins Gehirn. Er schubste die Kleine zu Boden, rollte sich über die Schulter ab und brüllte auf vor Schmerzen. Das Mädchen hatte verdammt heftig zugeschlagen. Trotzdem gelang es ihm, die P 7

, die er einem toten Wachmann abgenommen hatte, aus dem Gürtel zu ziehen. Er entsicherte die Pistole durch einen Druck auf den Griff und richtete sie auf die Frau.
"Vorsicht, Lady, sonst bist du mausetot!" Doch dann musste er lachen.
"Hältst du mich für dein Hündchen? Soll ich dein Stöckchen apportieren?" Die Frau ließ das lächerliche Ästchen mit dem sie ihn attackieren wollte fallen, und dabei bemerkte Adam, was für zarte, feingliedrige Hände sie hatte. Er schwenkte die Waffe zur Punkerin hinüber, die sich gerade aufgerappelt hatte und sich wieder auf ihn stürzen wollte und schrie scharf: "Schluss jetzt, Mädels, sonst gibt’s eine Kugel in die hübschen Köpfchen! Keiner mehr da, der mich dafür einknasten würde. Ja, schon besser. Und jetzt seid brav und setzt euch auf eure verdammten Ärsche, und dann reden wir.
Stumm die eine, maulend und schimpfend die andere, setzten sie sich zwei Schritte von ihm entfernt auf den Waldboden. Adam entspannte die P 7 und legte sie neben sich.
"Also, raus mit der Sprache, wo wollt ihr hin?"
"Das geht dich einen gottverdammten Scheißdreck an, Arschloch!", giftete sofort die Kleine.
"Ts Ts, Mädel, hast du noch was anderes in deinem Wortschatz?"
"Scheißkerl, Wichser, Blödarsch – reicht das?"
"Ja", seufzte Adam, "es reicht. Und es langweilt langsam. Ich will nichts Böses von euch – im Gegenteil. Ohne mich wärt ihr schon längst tot. Ich habe euch mehrfach aus Schlamasseln geholt, in die ihr durch eigene Blödheit getappt sei. Ja, glotzt nicht so. Erst gestern wieder. Was wolltet ihr denn im Kühlraum dieser Schlachterei? Wenn ich die Außenverriegelung nicht gelöst hätte, würdet ihr da drinnen verrecken wie die Ratten!" Sie schauten ihn entgeistert an.
"Du warst das?", fragte die Kleine leise. "Ich, ich dachte…"
"Was? Ihr wisst doch, dass der Strom seit Wochen ausgefallen ist, und da drinnen muss es doch gestunken haben, wie in der Hölle!"
"Hat es auch, aber es stinkt ja überall. Und ich … ich weiß nicht, warum wir da rein sind, heute weiß doch niemand mehr, warum man was tut, oder?"
Plötzlich empfand Adam ein tiefes, nie gekanntes Gefühl von Mitleid für die Kleine, wie sie da so zerbrechlich vor ihm saß und auf den Waldboden starrte, während Tränen ihre Schminke zerstörten. So viel Trauer, so viel Elend, so viel Leid.
Doch bevor er vor Mitleid mit ihr und sich selbst zerfloss, riss er sich zusammen.
"Warum wolltest du mich niederschlagen?"
"Weil Sie uns verfolgt haben."
"Hör zu, Mädchen, wenn du Arschloch, Drecksack etc. weglässt, kannst du ruhig beim Du bleiben. Du willst wissen, warum ich euch verfolgt habe? Okay, ich sag's dir. Weil ihr offensichtlich ein Ziel habt. Die wenigen Überlebenden irren wie Zombies ziellos herum. Ihr dagegen wandert seit Würzburg, wo ihr mir aufgefallen seid, zielstrebig nach Süden. Warum? Ich sage es dir: Weil ihr wisst, wo noch ein offener Überlebensbunker ist, stimmts? Alle Schutzräume sind voll, geschlossen, nichts geht mehr. Am Reservelazarettbunker des Lufttransportgeschwaders 61 in Penzing standen Soldaten mit ABC-Masken vor der Schleuse und hätten mich fast erschossen, weil ich rein wollte. Ihr habt es nicht einmal versucht, sondern seid stur weiter gewandert. Warum?"
Schweigen.
"Warum zum Teufel?", brüllte Adam schließlich so laut, dass sich seine Stimme kreischend überschlug. Das Mädchen zuckte zusammen und begann zu zittern.
"Komm schon, Kleines, beruhige dich.", sagte Adam leiser. "Schau, wir drei gehören zu den letzten Menschen auf dieser Erde. Wir haben niemanden mehr, nur noch uns. Wir sollten zusammenhalten, versuchen, zu überleben, verstehst du?"
" Ist doch alles egal. Wozu überleben?", schniefte die Kleine.
"Du weißt wozu!", sagte plötzlich die Frau im Steppdeckenmantel.
Adam war verblüfft. "Hoppla, die Frau Mama kann ja sprechen, wer hätte das gedacht?"
Sie blitzte ihn aus ihren schönen blauen Augen an: "Ich bin nicht ihre Mutter. Wir haben uns nur zusammengetan, weil wir das gleiche Ziel haben."
"Und das wäre?"
"Die Schweine bestrafen, die uns das angetan haben!"
Adam wartete. Die Frau starrte vor sich hin, und eine unendliche Trauer überzog ihr Gesicht wie ein Leichentuch. Schließlich sprach sie weiter: "Wir waren so glücklich, mein kleiner Sohn und Jan, mein Mann." Sie schwieg wieder und starrte in den Wald. Endlich fuhr sie fort: "Jan war Journalist. Er war einer verdammt großen Sache auf der Spur und arbeitete verbissen daran. Kennen Sie Pfyser

?"
"Der Parmakonzern?"
"Ja, genau. Pfyser

hat vor zwei Jahren TecPharm GenSolutions

aufgekauft, eine kleine Chemieklitsche in Tutzing. Für ein unglaubliches Schweinegeld. Ja. Und Jan hatte herausgefunden, dass die schon mit Ali Hassan el Madschid zusammengearbeitet haben, dem Cousin Saddam Husseins, der für seine Grausamkeiten bekannt war. 'Chemie-Ali'. Entwicklung biologischer Waffen - das ist deren geheimes Kerngeschäft, und die arbeiteten schon für viele Diktatoren. Die waren auf dem Genmanipulationsmarkt völlig unauffällig, aber sehr innovativ, skrupellos und geldgeil. Das gesamte Geld, das sie für die Übernahme bekommen hatten, haben sie in Pfyser

reinvestiert – ohne deren Wissen. Zumindest konnte Jan das bis…bis…bis zu seinem Tod nicht nachweisen."
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Adam hätte sie gern getröstet, wusste aber nicht wie. Schließlich wischte sie sich übers Gesicht und fuhr fort: "Klar war, dass die ehemaligen Inhaber von TecPharm

ihre Investitionen vervielfachen konnten, wenn sie den Wert und Gewinn von Pfyser

hochtreiben würden. Da sie weiterhin als Geschäftsführer ihrer ehemaligen Firma fungierten, hatten sie ja ein Büro in der New Yorker Konzernzentrale von Pfyser

und Einblick in alle Geschäftsfelder. Die Vakzine-Branche, also die Impfstoffabteilung, erschien ihnen mit ihrer Erfahrung am meisten Erfolg zu versprechen. Während der Schweinegrippepanik 2009/2010 hatten sie das Potential erkannt. Damals waren die Pharmahersteller nicht richtig vorbereitet, hatten zuwenig Kapazitäten, die Politik reagierte zögerlich und falsch, das Bedrohungspotential war zu klein und unglaubwürdig. Trotzdem haben sie ordentlich verdient. Aber ein zweites Mal Schweinegrippebedrohung würden die Kunden nicht mehr Ernst nehmen. Etwas viel Drohenderes musste her. Der Panikfaktor musste vor einer Impfkampagne sehr schnell hochgefahren werden, dann würde man ihnen den Impfstoff aus den Händen reißen."
Die Frau schwieg wieder, und Adam konnte es kaum erwarten, dass sie weitersprach. Doch er wollte sie nicht bedrängen. Er sah, wie schwer es ihr fiel.
Endlich räusperte sie sich und erzählte weiter.
" TecPharm GenSolutions

hatte in ihren Genbanken noch Material der Spanischen Grippe von 1918, der mindestens 25 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Sie sammeln solche Erreger, um sie irgendwann zu einer Biowaffe umzubauen, wenn sie einen Käufer finden, diese Schweine. Dieser Virus ist dem H5N1 Virus sehr ähnlich. Viren enthalten in ihren Proteinen etwas 4400 Aminosäuren, und man braucht nur etwa 25 bis 30 entsprechend zu verändern und: PENG."
Adam starrte sie gebannt an.
"Nach den Recherchen meines Mannes verschmolzen sie die Viren-RNA der Spanischen Grippe mit H5N1 und mutierten die Erbsubstanz mit selektiver Röntgenstrahlung. Sie wollten einen Virus schaffen und freisetzen, der anfangs schnell ein hohes Potential aufbaut und dann durch ein automatisch aktiviertes Return

-Enzym auf eine harmlose Variante zurückmutieren würde. Zu der Zeit wären dann alle Impfdosen verkauft und ausgeliefert, die Pfyser

natürlich in ausreichender Zahl auf Lager hätte. Ein Milliardengeschäft. Sie rechneten, um das Bedrohungspotential schnell genug hochzuschrauben, mit 10 – 20tausend Anfangstoten."
Adam schluckte. Ihm war schlecht. Er konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte.
"Die…die haben 20tausend Tote einkalkuliert, um… um ihr Geschäft zu machen?"
"Ja."
Wie vor den Kopf geschlagen, aber doch mit eiskalter Logik erkannte Adam dann die ganze, grauenvolle Wahrheit. "Das Return

-Enzym hat nicht funktioniert. Und jetzt haben wir Milliarden von toten Menschen." Seine Stimme war rau und brüchig geworden.
"Ja.", bestätigte die Frau, und ihre Tränen tropften auf die Fichtennadeln. "Und Milliarden toter Haustiere. Alle, die engen Kontakt zu Menschen hatten."
"Ich weiß", stöhnte Adam, "Garibaldi, mein Hund, ist auch jämmerlich eingegangen." Jetzt weinten alle.
"Aber… wie willst du die Schweine bestrafen, es gibt keine Gerichte mehr, wahrscheinlich sind sie selbst tot, und wenn nicht, wer soll das Strafmass bestimmen, wer Gericht über sie halten? Wie bestraft man Verbrecher von solcher Niedertracht und Menschenverachtung? "
"Ich bin davon überzeugt, dass einige aus der Geschäftsführung von Tecpharm

noch leben. Zumindest die aus Tutzing. Die werden wohl ihren eigenen Impfstoff gespritzt haben. Dass sich das mutierte Monster so schnell verbreiten konnte, hatten sie ja nicht geahnt. Ihr perfider Plan wäre ja nur aufgegangen, wenn man nicht groß nachgefragt hätte, wo die Masse an Impfstoff plötzlich hergekommen sei – noch dazu abgestimmt auf den Virus. Dafür hatten sie in allen Regierungen Verbindungsleute sitzen, vor allem hier in Deutschland. Und hier kommt Charly ins Spiel."
"Charly?"
"Ich bin Charly", antwortete die kleine Punkerin. "Eigentlich Carlotta, aber ich hasse diesen Namen. Sundermann. Carlotta Sundermann. Und ja, ich bin die Tochter des Außenministers."
Adam starrte sie betroffen an. "Wenn… wenn du… wie…", stotterte er herum und schwieg wieder.
"Ja, keiner weiß das. Du kennst ja das Image meines Vaters. Ich bin auch schon vor zwei Jahren einfach abgehauen, weil ich es nicht mehr ertragen habe. Hab' nur ab und zu eine Mail von ihm bekommen. Und die letzte Mail…" Sie begann wieder lautlos zu weinen. Dann schniefte sie kurz und fuhr fort. "Es war eine verdammt lange Mail. Er hat mir darin erklärt, dass es einen Bunker gäbe, der gegen Atomwaffen und chemische und bakteriologische Kampfstoffe gesichert sei, von dem aber nur ganz wenige Mitglieder der jeweiligen Regierung wüssten. Und – einige Wirtschaftsbosse. Der Eingang sei in einem öffentlich mehr oder weniger zugänglichen Bereich und ich wäre selbst schon einmal knapp davor gestanden.
Ich solle sofort dorthin, da wäre ich sicher. Und dann gab er mir noch das Passwort für die Wachmannschaften. Deepwater Horizon

."
"Deepwater Horizon? Wie außerordentlich witzig! Und du glaubst, dein Vater wäre da drin?"
"Ganz bestimmt nicht. Er hat es nicht geschafft. Die Mail kam aus Vietnam, als es losging."
"Und deine Mutter?"
"Die ist schon lange tot. Aber die Mitwisser und die Bonzen von TecPharm

sitzen da drin. Da wette ich meinen Arsch drauf, dieses Schweinepack!" Sie hob einen Stein auf und schleuderte ihn wütend in den Wald.
"Okay, okay. Angenommen, es stimmt – wo ist dieser Bunker?"
"Himmelherrgottnochmal", schrie die Kleine plötzlich, "ich weiß es nicht!"
"Du weißt es nicht? Wie soll ich das verstehen?"
"Ich-weiß-es-einfach-nicht, klar? Wohl aus Angst, dass der Mailverkehr überwacht wird, hat mein Vater nur eine Andeutung gemacht. 'Geh zum Berggarten' hat er geschrieben, 'du weißt schon wo'."
"Berggarten? Nicht mehr? Und deshalb rennt ihr wie die Wahnsinnigen nach Süden?"
"Was soll ich sonst tun? Ich war ein einziges Mal mit meinen Eltern in irgendwelchen Bergen, und das waren die Alpen. Ich hoffe, wenn ich da bin, werde ich mich erinnern, wo dieser beschissene Berggarten ist."
"Mann, Mann, Charly, wann warst du denn da?"
"Damals war ich vielleicht vier Jahre alt."
Adam stöhnte innerlich auf. Dann rutschte er auf dem Fichtennadelteppich vor und fasste das Mädchen sachte an den Händen. Sie ließ es widerspruchslos geschehen. Adam blickte ihr fest in die Augen und sagte dann leise, aber eindringlich:
"Bitte, Charly, denk nach. Vertrau mir. Schließ die Augen und stell dir Berge vor. Denk nach. Denk ganz fest nach, während du die Berge anschaust. Was siehst du noch?"
"Dunkel. Es ist dunkel. Viele Menschen mit komischen Anzügen. Ein See."
Adam drückte Charlys Hände etwas fester. Er spürte, wie sie feucht wurden.
"Komische Anzüge, was meinst du damit?"
"Keine… keine richtigen Klamotten, so… so was wie Schutzanzüge."
"Weiße, so wie sie Maler tragen oder Ärzte?"
"Ja, nein, dunkel. Und der Wind saust, ich rutsche, ich falle, das Boot schaukelt, ich habe Angst…"
Adam ließ sie los und schüttelte den Kopf. "Das gibt alles keinen Sinn."
"Doch", sagte die Steppdeckenmantelträgerin plötzlich in die Stille hinein, "das ergibt durchaus einen Sinn!"
Charly und Adam blickten sie erwartungsvoll an.
"Nun ja, wie würde ein vierjähriges Mädchen ein kompliziertes Wort aussprechen, das es aufgeschnappt hat? Sagen wir… Berchtesgaden

?"
"Berggarten!", riefen Charly und Adam gleichzeitig wie aus der Pistole geschossen.
"Genau. Das isses. Berchtesgaden. Und alles passt zusammen: das Salzbergwerk. Man kann es besichtigen, rutscht in Schutzanzügen irgendwo hinunter, es gibt eine Bootsfahrt über einen unterirdischen See – alles passt!"
"Wow!", jubelte Charly, "jetzt erinnere ich mich! Ich war mit meinen Eltern da und sie haben immer gelacht, weil ich erst immer Bechgaaden gesagt habe, dann Berggarten. Wir haben das lange getrieben, bis meine Mutter…" Sie verstummte.
"Bingo!", rief die Braunhaarige, "und das passt zu Jans Recherchen. Er hat erzählt, dass die Nazis irgendwo in der Nähe vom Obersalzberg einen Teil eines alten Bergwerks ausgebaut haben. Stichwort Alpenfestung. Das Wissen darüber ging sicher auf geheime Kreise über."
"Okay, Rätsel gelöst. Bravo, Mama!" Adam grinste frech, als er sah, dass die Braunhaarige wütend zu einer Antwort ansetzte, es sich aber anders überlegte und zum ersten Mal ein schwaches Lächeln zuließ. "Lasst uns aufbrechen. Auf nach Berchtesgaden. Wir können eines der herrenlosen Autos nehmen, dann sind wir schnell da." Als er die entsetzten Gesichter der beiden Frauen sah, ruderte er schnell zurück. "Ja ich weiß, da sitzen Tote drin. Aber zu Fuß schaffen wir das auch locker in zwei Tagen. Bloß…" Plötzlich zögerte er. "Ich meine, wie stellt ihr euch das vor, wie wollt ihr die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, selbst wenn ihr in den Bunker kommt? Was habt ihr vor?"

"Das!", sagte die Braune mit Eiseskälte in der Stimme, stand langsam auf und öffnete ihren Mantel. Adam erschrak so, dass er instinktiv nach seiner Waffe greifen wollte. Doch die lag noch da, wo er vorher gesessen hatte. Er hatte auf einen Blick erkannt, was die unvorteilhafte Figur der Frau hervorgerufen hatte: Sie trug um die Hüfte mit Packband geklebt eine Dynamitstangenreihe über der anderen.
"Das kannst du doch nicht im Ernst vorhaben! Bitte, lass uns reden!"

Den Rest des Tages und die folgende Nacht würde keiner der drei jemals wieder vergessen. Sie redeten über Schuld und Sühne, Verantwortung und Pflicht, über den Sinn des Lebens und das Aufrechnen von Schuld. Sie legten ihre Seelen offen, entblößten ihre Gefühle bis zur vollkommenen Nacktheit, sie schrieen ihren Schmerz hinaus, und sie weinten gemeinsam, bis die Tränen versiegten, und schließlich fielen sie in einen komatösen Schlaf.

Adam erwachte in der Dämmerung des Morgens. Es war viel kühler als am Morgen zuvor, feucht und glibberig, und die Fichtennadeln klebten überall. Er richtete sich auf und sah, was er fast schon erwartet hatte: Die Frauen waren weg.
Mühsam erhob er sich und streckte seine steifen Glieder. Alles tat weh, nur seine Schulter verhielt sich erstaunlich friedlich. Am Boden entdeckte er die P 7, steckte sie in den Gürtel, klopfte notdürftig den Schmutz von seiner Kleidung und machte sich auf den Weg. Wohin? Er wusste es nicht.
Nach nur wenigen Schritten war plötzlich der Wald zuende, und er blickte über eine traumhafte, von leichten Nebelschwaden durchzogene Talebene, über der gerade die Sonne aufgegangen war. Die Gräser glitzerten vom Tau, Vogelgezwitscher überall, und dann ging ihm das Herz auf. Da standen die beiden Frauen und lächelten zu ihm hinüber.

"Na, endlich aufgewacht?"
"Äh, ja, was ist los?"
"Siehst du nichts?" Die Frau drehte sich um die eigene Achse, und Adam blieb die Luft weg, als er ihre traumhafte Figur erfasste. "Ja", sprach sie weiter, "es war hart, aber du hast mich überzeugt. Selbstjustiz ist keine Lösung. Ich habe das Dynamit in den Wald geworfen und den verdammten, heißen, scheußlichen Mantel gleich hinterher." Charly klatschte begeistert und rief theatralisch:
"Darf ich vorstellen, das ist Adam, und das, Adam, ist … Eva!" Und dann wälzte sie sich am Boden, kreischte vor Lachen und ihre Punkerstacheln funkelten in der Morgensonne. "Adam und Eva!", brüllte sie und schnappte nach Luft. "Die ersten und die letzten Menschen – ist das nicht ein Witz?" Und dann lagen alle am Boden und kringelten sich vor Lachen.
Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatten. Dann sagte Eva:
"Lasst es uns machen. Es sind ja nicht nur wir allein immun gegen die Seuche. Wir suchen die Überlebenden auf, und du hältst deine Rede wie gestern nacht. Du hast uns überzeugt, und du wirst auch die anderen überzeugen. Wir bauen eine neue Gesellschaft auf. Wer weiß, ob jemand überhaupt in den paar Bunkern überlebt hat, aber wenn sie wieder herauskommen, soll die Welt besser sein, als vorher! Aber jetzt frühstücken wir erst einmal. Ich hab Hunger. Allerdings- ", jetzt schaute sie etwas betreten, "- allerdings haben wir nichts anderes dabei." Sie warf Adam eine Büchse zu.
"Weißwürste aus der Dose", stöhnte er, "geht's noch perverser?" Aber er schlitzte die Büchse mit seinem Victorinox

Multitool auf.
Charly kuschelte sich an ihn. "Wir haben ja schon mit der Neuordnung der Gesellschaft begonnen. Schließlich sind wir die erste neue Familie!", stellte sie fest und grinste schelmisch.
Plötzlich schreckte sie ein Kläffen auf. Zwei Punkte bewegten sich rasend schnell aus der Ebene auf sie zu. Adam sprang hoch und griff zur Waffe. Doch dann ließ er sie wieder sinken und lachte laut auf. "Möpse! Ausgerechnet Möpse haben überlebt. Aber besser als nichts!"
Er warf den tobenden Fellbündeln eine Weißwurst hin, und dann lachten sie wieder alle, wie schon lange nicht mehr…


Und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut.
So geht es fort, man möchte rasend werden!
Mephistopheles




ENDE




GARLIN9510




Impressum

Texte: für Chrissy, die sich einen Film gewünscht hat - ich hoffe, er beginnt im Kopf zu laufen...
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zur 20. Schreibarena

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