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Seien

Sie mir bitte nicht böse, meine Liebe, aber hier ist es mir etwas zu… Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns auf die Terrasse setzen? Dort können wir uns sicher ungestörter unterhalten.

Ja, hier ist es gut, danke schön. Verzeihen Sie mir noch mal, dass ich Sie hier heraus…, aber sehen Sie: Es ist nicht so voll, man wird schneller bedient, und es nicht so – musikalisch.
Nein, ich habe nichts direkt gegen Musik im Allgemeinen, aber diese Art, welche drinnen läuft – da bekomme ich immer noch Panikanfälle.
Es ist dieser elektronisch erzeugte Sound, der mir Angst macht. Wissen Sie, ich hatte vor vielen, vielen Jahren ein Erlebnis, das mich fast um den Verstand gebracht hätte.

Damals, es ist lange her, und Sie, meine Liebe, waren vermutlich noch nicht geboren, verdiente ich meinen Lebensunterhalt als freier Fotograf. Ich arbeitete hauptsächlich für Naturzeitschriften und Wissenschaftsmagazine wie Geo, National Geographic oder Nature. Und ich war ziemlich erfolgreich. Eines Tages erhielt ich den Auftrag, eine Reportage mit dem Arbeitstitel 'Sieg der Natur' zu machen.
Wenn menschliche Artefakte wie Fabriken, Autobahnen, ganze Stadtviertel aufgegeben werden, können Sie sehr schnell sehen, was passiert: Löwenzahn bricht durch den Asphalt, Efeu sprengt die Mauern, Pionierpflanzen und –tiere erobern die Brache als Lebensraum zurück, Wildschweine, Fledermäuse, Wölfe folgen. Sie konnten das in Ihrem Land nach dem Fall der Mauer ja auch beobachten. Das 'Grüne Band', der alte Grenzstreifen, Bitterfeld – Sie wissen, was ich meine.

In meinem Land war es damals ähnlich. Ich hatte mir eine Kleinstadt ausgesucht, die durch ein metallverarbeitendes Kombinat enormen Aufschwung erlebt hatte. Zumindest was die Arbeitsplätze betraf. Von den Arbeitsbedingungen oder von Umwelt will ich jetzt nicht reden. Eine ganze Siedlung von Plattenbauten war für die Arbeiterfamilien am Stadtrand aus dem Boden gestampft worden. Doch so schnell der Aufschwung kam, so schnell kam auch der Untergang. Die Fabrik machte Pleite, rottete vor sich hin und die Siedlung ebenso. Keine Arbeit, keine Wohnung. Nur wenige blieben in den maroden Gemäuern, und so konnte ich fast umsonst eine teilmöblierte Wohnung im Erdgeschoss einer dieser Plattenburgen beziehen.
Ich hatte vor, etwa ein halbes Jahr zu bleiben, die Veränderungen mit meiner Kamera festzuhalten und nebenbei an meinem Roman zu arbeiten. Die Miete war so niedrig, weil ich sozusagen als Hausmeister eingestellt wurde, obwohl es nichts zu hausmeistern mehr gab. Das Gebäude war in einem so desolaten Zustand, dass es über kurz oder lang von selbst zusammenfallen würde.
Nur im obersten Stockwerk hauste noch ein russischer Emigrant, wie mir der Verwalter der Siedlung erlärte, ein Musiker und noch verrückt dazu. Sergej Schostenkow sei sein Name, aber ich solle mich nicht um ihn kümmern, wie gesagt, er sei etwas seltsam. Dann drückte er mir die Schlüssel in die Hand und überließ mich meinem Schicksal.

Nachdem ich mich etwas eingerichtet hatte, beschloss ich, Schostenkow einen Antrittsbesuch abzustatten, verrückt hin oder her. Aufzug gab es nicht in dem Gebäude und so kam ich ziemlich außer Atem oben an. Erst nach längerem Klopfen und Klingeln öffnete sich die Tür.
Sergej Schostenkow war ein dürres Kerlchen mit langer, grauer Mähne, unstetem Blick, abgestandenem Geruch und ebensolcher Kleidung. Meine Vorstellung quittierte er mit einem irritierenden Grinsen, Kopfnicken und wenigen seltsamen Lauten, die ich interpretieren konnte, wie ich wollte. Erst als ich wieder nach unten tappte, kam mir zu Bewusstsein, wie eiskalt die Luft aus der Wohnung geströmt war. Wie aus einem Kühlschrank.

Einige Tage, an denen ich meine Bleibe notdürftig ordnete, einige Testaufnahmen der Umgebung gemacht und entwickelt hatte – ja, damals 'entwickelte' man noch – waren vergangen, als mir auffiel, wie schlecht ich eigentlich schlief. Ich wachte morgens gerädert auf, zerschlagen und gepeinigt von hässlichen Albträumen, welche ich zuerst auf einen zu geringen Rotweinkonsum zurückführte. Rotwein ist der Freund der Einsamen müssen Sie wissen, meine Liebe. Aber auch eine Dosiserhöhung führte nicht zu einer Besserung.
Eines Nachts erwachte ich, weil ich glaubte, Geräusche zu hören. Es gab hier keine Geräusche außer dem Wind und dem Knacken des sich abkühlenden Betons am Abend. Eigentlich. Ich starrte in die Dunkelheit und lauschte. Da war eindeutig eine Art von Rhythmus, eine Andeutung von Musik, ein unharmonisches Scheppern, Klirren, untermalt von dumpfem Wummern. Nicht laut, nicht wirklich deutlich zu hören, aber irgendwie beängstigend.
Ich schlief endlich wieder ein, träumte vom Fallen in endlose Abgründe, von lodernden Feuern, von qualvollen Leiden. In den darauffolgenden Nächten wiederholten sich die Phänomene, aber ich führte meine Schlafprobleme, meine zunehmende Depression, meine Abgeschlagenheit zunächst nicht auf die Geräusche zurück. Dazu waren sie zu schwach und zu unregelmäßig. Doch als sie immer stärker und deutlicher wurden und schließlich eindeutig als aus dem Dachgeschoss kommend zu orten waren, fiel mir wieder ein, das dort ein Musiker wohnte. Seit meiner kurzen Vorstellung hatte ich Sergej Schostenkow nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Ich versuchte zuerst, die seltsame 'Musik' zu ignorieren. In einer lärmerfüllten Großstadt, sagte ich mir, würden diese Dissonanzen gar nicht auffallen.
Eines Abends wurde es mir aber zu viel. Ich hatte lange gearbeitet, war an der frischen Luft auf dem Bauch gekrochen, um einen Gelbrandkäfer in einer ölschillernden Pfütze zu fotografieren, hatte mir fast den Hals gebrochen, als ich das Nest der Myotis daubentonii in einer abgesprengten Betonecke inspizieren wollte und war todmüde ins Bett gefallen. Doch dann plagten mich wieder die grauenhaften Träume, Bilder von Tod, Schmerz, Unendlichkeit und entsetzlicher Leere, und ich erwachte schweißgebadet. Da waren sie wieder, diese Geräusche, diese seltsame Art von Musik von dort oben. Und lauter als je zuvor.
Ich warf meinen Bademantel über und stapfte über die finsteren Treppen zum Dachgeschoss hoch, hämmerte an Schostenkows Tür und drückte den Klingelknopf, bis die Tonorgie aus der Wohnung abbrach. Unter Scheppern und Klirren wurde die Tür geöffnet und Schostenkow starrte heraus. Ich war entsetzt. Der Russe war noch dürrer und grauer geworden. Und seine Augen leuchteten gespenstisch im Schein der 25-Watt-Funzel des Flures. Schlagartig war meine Wut verflogen, so mitleiderregend sah er aus. Mit wohlgesetzten Worten versuchte ich, ihm seine Ruhestörung vor Augen zu führen.
Er zeigte sich überraschend zerknirscht, bat mich mit einem devoten Lächeln in die Wohnung, die wieder eine Grabeskälte ausstrahlte, dass es mich schauderte. Zögernd trat ich ein und nahm dankbar das Wasserglas voll Wodka an, das mir Schostenkow in die Hand drückte.
Staunend sah ich mich um. Ich hatte ein Ambiente à la Armer Poet erwartet, erblickte stattdessen ein erschreckendes Konglomerat aus Büchern, Müll und elektronischem Tohuwabohu. Oszillographen, Netzteile, glühende Röhren, Lötkolben, diskrete Bauteile aller Art, die spärlichen Möbelstücke übersät mit Schaltplänen, Kabelstrippen, Messgeräten, ausgeweideten Fernsehern und Lautsprechertürmen.
Sie müssen wissen, meine Liebe, damals gab es noch keine Computer. Damals lötete man noch und klemmte und isolierte ab, wenn man Elektroniker war. Und man arbeitete mit Dioden, Röhren, Relais, Kondensatoren und Spulen… aber ich schweife ab.
Das Zentrum des 'Wohnraums' bildete eine Tastatur, die mit ihren Manualen und Pedalen dem Spieltisch einer Orgel ähnlich sah. Unzählige Kabel liefen wirr zu den elektronischen Ungeheuern, die überall herumstanden. Mehrere Moog-Synthesizer und sogar ein Mellotron waren angeschlossen.
Schostenkow machte eine scheue Handbewegung über das Chaos und blickte mich entschuldigend an.
"Wissen Sie", sagte er, "ich befasse mich mit Grenzbereichen der Musik."
Ich suchte nach einem Sitzplatz, blieb dann aber vernünftigerweise einfach stehen und nippte am Wodka. Wenigstens diesem bekam die Eiseskälte. Ich wunderte mich noch darüber, erwartete ich doch angesichts der glühenden Röhren, der blinkenden Lampen, der laufenden Lüfter eher brütende Hitze. Doch Sergej lenkte mich ab. Er habe einmal Musik studiert, habe sich mit neuen Strömungen beschäftigt, mit Schönberg, Stockhausen, mit Psychedelic und Raga-Rock, mit King CRIMSON, den Königen des Progressive Rock und mit der ganzen psychedelischen Szene. Sogar mit dem Deutschen Rainer Werner Fassbinder habe er im Arbeitskreis Elektronische Musik, AEM, gearbeitet – zusammen mit Hüngsberg, einem der späteren Computerpioniere. Doch schon immer, so erklärte Schostenkow weiter, habe er etwas anderes in der Musik gesucht, als die langweilige Aneinanderreihung von Tönen zu bloßen Unterhaltungszwecken. Aber dann sei er auf die Schriften von Pythagoras und Aristoteles gestoßen, die zu Urzeiten schon den Zusammenhang von Tönen, Mathematik und Kosmos erkannt hätten.

Inzwischen schlotterten mir so die Glieder, dass ich ihm kaum folgen konnte und nur meine gute Erziehung und die einsetzende Wodkawirkung hielten mich davor zurück, abrupt zu gehen.

Der gesamte Weltraum, so dozierte Schostenkow mit seiner leisen Stimme weiter, sei ein atmender Organismus, der über gewisse Frequenzen Energie verströme, aber auch aufnehme, ich solle doch nur an die Sferics denken, an die Schumann-Resonanzen und so weiter. Alles bilde ein gigantisches Orchester aus Tönen und Harmonien, wobei sich alles selbst erschaffen, stabilisieren und wieder vernichten würde. Die neuesten Theorien der Kosmologen würden im Grunde nicht anderes aussagen, als das, was Pythagoras und andere alte Philosophen schon längst gewusst hätten. Auch bei der Superstringtheorie sei die Materie nichts weiter als Musik, gespielt auf hauchdünnen Saiten, den Strings, die sich im Raum-Zeit-Kontinuum bewegen würden.

Mich schauderte, doch Sergej hatte sich in Rage geredet.
Man müsse nur die Musik des Kosmos – genau so drückte er sich aus – verstehen, dann könnte man wirklicher Teil des Ganzen, der Schöpfung, ja sogar selbst zum Schöpfer werden. Und genau das sei es, was er vorhabe. Die Schwingungen, den Groove, den Beat, den Rhythmus und Herzschlag des Universums zu verstehen und zu verändern.

Durch diese irre Faselei wurde ich schlagartig wieder nüchtern, obwohl ich inzwischen das ganze Wasserglas Wodka intus hatte. Ich hätte sagen sollen, dass das nicht mein Problem sei, dass er sich seine Experimente sonst wo hin stecken könne und zumindest gefälligst Kopfhörer benutzen solle, weil mir mein Schlaf heilig sei, aber ich stammelte nur etwas Belangloses, fand mich schlotternd im Treppenhaus wieder und hörte erneut diese unheiligen Dissonanzen, während ich zu meiner Wohnung hinunter tappte.

An die darauf folgenden Nächte kann ich mich kaum erinnern. Die Albträume nahmen zu, die Wahnvorstellungen, die Phantasien. Aber auch die direkten Bezüge zur Dachwohnung wurden deutlicher.
Und dann, an jenem denkwürdigen Freitag, dem dreizehnten, erreichte der Horror seinen Höhepunkt. Aus einem Höllentraum aus Blut, splitternden Knochen, klanglosem Ersticken und namenlosem Entsetzen fuhr ich mitten in der Nacht hoch. Mein Schädel hallte von schrecklichen Dissonanzen, Krepitationen, als knirschten Knochen übereinander, wabernden Untertönen, die jede einzelne Zelle an den Rand des Zerberstens brachten und schrillen Kakophonien, welche die Resonanzfrequenz menschlicher Trommelfelle sprengten. Ich stieg, nein rollte, fiel aus dem Bett, presste mir beide Handballen auf die Ohren, was allerdings keinerlei Wirkung zeigte. Es war, als käme die grauenhafte Höllenmusik direkt aus meinem eigenen Gehirn. Schostenkow! Das war alles, was mir in den Sinn kam.

Ich griff nach dem Baseballschläger neben der Tür und rannte barfuss das finstere Treppenhaus hoch, ungeachtet, wie viele Zehen ich mir brach, die Glasscherben missachtend, die ich mir eintrat. Ich kam oben an und schlug mit aller Gewalt zu der ich fähig war mit dem Schläger gegen das Schloss. Die Tür flog krachend auf und glauben Sie mir, meine Liebe, das was ich sah, war ein Blick in die tiefste Hölle. Ich kann es nicht beschreiben, aber ich sah die Ewigkeit vor mir.
Die gesamte Wohnung war verschwunden und stattdessen blickte ich in die uralten Strudel des Universums. Nein, die Sterne glitzerten nicht freundlich, der Mond war nicht gut und ging nicht stille. Und vom Himmel auf die Erde fielen sich die Engel tot. Wie heißt es bei Rammstein? Ach Gott weiß, ich will kein Engel sein… Was ich sah, erfüllte mich mit alles verzehrendem, abgrundtiefem Grauen. Namenlose, urzeitliche Schrecken taten sich auf, die Kälte wurde unerträglich. In die Ewigkeit zu schauen ist so grauenhaft, dafür gibt es keine Worte. Ach hätte ich doch sterben können!
Mit unerbittlicher Kraft zog mich das Grauen an. In einem Restreflex hielt ich mich im Türrahmen fest, schloss die Augen und begann sinnlose Gebete zu stammeln, die aus meiner Kindheit hoch kamen. Und dann konnte ich mich irgendwie losreißen von dem Entsetzen. Ich taumelte zurück und kippte ins Treppenhaus, das schwankte, wie bei einem Erdbeben. Ich rollte hinunter, rappelte mich wieder auf und jagte wie von Furien gehetzt aus dem Haus, rannte und rannte, hinaus aus der grauenhaften Siedlungsruine, die Pappelallee entlang, bis ich auf eine belebte Strasse stieß. Und ab da verlässt mich meine Erinnerung.
Es müssen Wochen vergangen sein, bis ich wieder versuchen konnte, meine Wohnung zu finden. Es ist mir nicht gelungen. Ich fand weder die Siedlung, noch die Strasse, noch den Plattenbau je wieder.

Sie werden mich vielleicht für verrückt halten, aber alles ist wahr! Und seit damals kann ich keine elektronisch erzeugten Töne mehr ertragen, verstehen Sie?

Aber hallo, meine Liebe! Wo sind Sie denn hingekommen? Sie wollten doch... Hallo? Haaaaloooo!


Garlin 101009

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.10.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
In memoriam Erich Zann, so er denn gelebt hat

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