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"Der schönste Tag meines Lebens – mein Wiedergeburtstag, wenn ich so sagen darf – war, als ich herausfand, dass ich keinen Kopf hatte."


D.E. Harding, On having no Head

 

 

AMPUTATION

 




Man spricht immer von posttraumatischer Amnesie und vom Schockzustand, der adrenalingesteuert den Schmerz blockieren würde.
Bei mir war das anders, und ich bin froh darüber, sonst hätte ich mich nicht zu dem Schritt entschlossen, der mich jetzt auf dem OP-Tisch liegen lässt.
Ich habe eine Amputation vor mir – und ich freue mich darauf.


Ich erinnere mich noch genau an die Detonation vor uns auf dem Freeway. Kathy, meine Fahrerin und Bodyguard riss das Steuer herum, um die Wucht der Explosion abzufangen. Ich roch das Feuer, schmelzendes Plastik, hörte knallende Airbags und splitterndes Glas, spürte, wie der gepanzerte Mercedes schleuderte, sich überschlug, über den Asphalt Richtung Straßengraben schlitterte und wusste, dass ich in einen normalen Fahrzeug schon tot wäre. Der Wagen krachte mit der Front mit derartiger Wucht auf die Grabenböschung, dass die verstärkten Türscharniere brachen. Ich wurde herausgeschleudert, registrierte noch, dass der infernalische Lärm aufgehört hatte und verspürte einen höllischen Schmerz unterhalb der linken Leiste, der mich fast ohnmächtig werden ließ.

Und dann sah ich auch die Ursache meiner Schmerzen: Ein scharfkantiges Blechteil der Karosserie war vor die Türöffnung gebogen und hatte mir beim Herausschleudern das ganze linke Bein abgetrennt. Ich sah es noch liegen, zwischen mir und dem Wagen. Kathy kam gerade offenbar unverletzt aus dem Wrack gekrochen, sah mich an, dann das Bein und kotzte in die Gegend, während mein Leben rot und stoßartig aus mir in den Dreck floss.
Erst jetzt wurde ich ohnmächtig.


Auf der Intensivstation erfuhr ich dann zwei Tage später, dass ich nicht tot war. Ein Notarzt in einem Rettungswagen, den wir kurz zuvor überholt hatten, hatte mir mein Leben gerettet.
Die Unfallursache war inzwischen geklärt. Eine ferngesteuerte, zwanzig Kilo schwere Bombe, die neben der Fahrbahn deponiert war. Wie dilettantisch! Wären wir gerade auf der Überholspur gewesen, wäre kaum etwas passiert. Aber so sind sie, die religiösen Fanatiker. Überzeugt, Gott auf der Seite zu haben, der ihnen schon zum Sieg verhelfen wird – auch wenn Unschuldige dabei ihr Leben verlieren könnten. Und es waren diese Fanatiker, davon bin ich überzeugt, denn ich hatte schon unzählige Drohungen erhalten.
Ich solle nicht Gott spielen, dem Schöpfer nicht ins Handwerk pfuschen, ich und meine Mitarbeiter seien Helfershelfer des Satans und ähnlichen Schwachsinn.


Wenn jemand aus religiösen Gründen Bluttransfusionen oder Transplantationen ablehnt, aus ethischen Überlegungen rein lebensverlängernde Maßnahmen für sich verweigert oder aus welchen Gründen auch immer aus dem Leben scheiden will, so ist das seine Sache. Bob Marley starb, weil er an einem Zeh Hautkrebs hatte. Eine Amputation hätte ihm wahrscheinlich das Leben gerettet, aber als echter Rastafari, der den äthiopischen Kaiser Haile Selassie als wiedergekommenen Messias verehrte, weigerte er sich, die Haare abzuschneiden oder irgendetwas anderes vom Körper.
Lieber starb er. Schwachsinn? Seine Entscheidung.

Aber wenn Eltern ihren Kindern adäquate Behandlungsmethoden vorenthalten, zu Voodoo-Zauberern und Geistheilern rennen und sie lieber sterben oder erblinden lassen, als zu behandeln, dann hört bei mir das Verständnis auf.

Jedenfalls aus dieser religiös-esoterischen Ecke kamen die Attentäter, da bin ich sicher. Aber warum? Ich werde es nie verstehen.
Ich bin der Chef und Alleininhaber von CyberMed Biocare Inc., und wir beherrschen den Weltmarkt der Neuro-Elektronen-Kopplungstechnik. Und das zu Recht. Wir haben sie schließlich erfunden. Aber Helfershelfer des Satans?

Was die Leute alles so denken, wenn sie aufhören zu denken…

Wir helfen den Menschen auf vielerlei Weise, unsere Geschäftbereiche sind weit gestreut.
Beispiel Medizinbereich:
Millionen Blinde sehen wieder durch unsere Methoden, Millionen verwenden unsere Hand- und Armprothesen, unsere elektronischen Füße und Beine, als hätten sie nie etwas anderes gehabt. Unsere Herzmaschinen und Lungenersatzimplantate sind besser als die Originale. Wir haben die unsäglichen Humantransplantate mit ihren verzwickten ethischen Fragen und der Abstoßungsproblematik abgeschafft. Arme Menschen, die früher ihre Körperteile verkauften wie lebende Ersatzteillager sind jetzt auf andere Einnahmequellen angewiesen.

Und wir schonen die Umwelt.
Niemand muss mehr um die halbe Welt fliegen, um bei Sipadan zu tauchen oder den Mount Everest zu besteigen – ganz zu schweigen von den Kosten und den Gefahren. Unsere CyberTravelAgency, Inc.-Filialen vermitteln mittels der Neuro-Elektronen-Kopplungstechnik, kurz NEK-Technik, authentischere Erlebnisse als die Realität früher, da man sich noch mühsam selbst auf den Weg machen musste und sich Wochen später fragte: "War ich wirklich dort gewesen, oder habe ich das nur im TV gesehen?"
Oder CyberLearn, Inc. : Was möchten Sie lernen: Fremdsprachen? Philosophiestudium? Was auch immer – unsere Rechner haben schon vor Jahren den Penta-Flop-Bereich verlassen; nichts ist mehr unmöglich dank unserer Technik.
Warum bekämpfen uns diese Leute? Warum sehen sie in uns den Antichristen? Warum faseln sie vom freien Willen? Gut, wir manipulieren Gehirne, aber das tun die doch auch, nur anders. Hey, zum Glück haben die nicht unsere technologischen Möglichkeiten!
Gerade der Reisebereich ist im Wachsen, macht uns aber mehr und mehr Kopfzerbrechen. Die Leute wollen Echtzeiturlaube, wollen weg von der Firma, weg von der Verwandtschaft, vom nörgelndem Ehemann und das nicht nur für ein paar Stunden.
Natürlich ist ein zweiwöchiger Urlaub auch besser zu simulieren, als alles auf eine Stunde zu komprimieren, aber die Körperfunktionen unserer Kunden machen da Probleme. Man muss den ganzen, verdammten, unnützen Körper versorgen, nur um die Hirnsynapsen der Klienten auf die Reise zu schicken. Der Körper will real Sauerstoff, Essen, Trinken und das Gegenteil. Und das will gemanaged werden, kostet Geld, Zeit, ist unangenehm.

Und damit komme ich wieder zurück zu meinem Bein, bzw. zu dem Tag, an dem 'mein Bein fortging'. Haha, guter Witz!

Als ich da so lag, wie gelähmt vor Schmerzen, war ich seltsamerweise trotzdem in der Lage, über mich nachzudenken. Vielleicht tut man das, wenn man am Verbluten ist. Warum, zum Teufel, hatte ich das Haus verlassen, bin auf dieses fingierte Treffen hereingefallen? Ich bin aus der Zentrale schon jahrelang nicht mehr heraus gekommen. Warum auch? Diese ganze verseuchte Umwelt, diese ekligen persönlichen Kontakte mit Kunden und Mitarbeitern, diese abstoßende Körperlichkeit, auf die viele meiner Zeitgenossen noch immer Wert legen. Wozu?
Ich leite meine Firma seit Jahren mit NEK-Technik, ich erhole mich mit ihr, ziehe alle meine Lebensfreude aus ihr.
Das hatte ich nun davon. Lag da, verblutete und dachte über mich nach. Und ich sah mein Bein da liegen.
Ich überlegte mir: Ich liege hier, und da liegt mein Bein. Ist mein Bein ich? Offensichtlich nicht.
In diesen Augenblick wurde der Entschluss geboren, weshalb ich jetzt auf dem OP-Tisch liege.

Einer meiner Vorläufer, ein Wissenschaftler, der sich bereits 1799 mit Elektromedizin befasste, Alessandro Volta, hatte sein Schlüsselerlebnis auch mit einem Bein. Mit einem Froschbein.

Damals, beim Attentat, hatte ich weiter überlegt: Was bin ich?
Was wäre, wenn da zwei Beine liegen würden. Dann könnte ich sagen: Hier liege ich und dort meine zwei Beine. Oder alle meine Gliedmassen. Wo werden Partialobjekte zum Ich, wo hört das Ich auf? Könnte ich – theoretisch - sagen: Hier liege ich und dort mein Kopf? Oder müsste es dann heißen: Hier liege ich und dort mein Körper? Irgendwann, kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, wurde mir klar, dass mein Ich nur wenig mit meinem Körper zu tun hat.

Unsere Firma CyberMed Biocare bietet Ersatzteile des menschlichen Körpers aller Art an, vom Herz-Lungen-Ersatz über Augenprothesen bis zu gewissen Hilfsteilen, die speziell für Männer entwickelt wurden. Absolut gefühlsecht, so wie alle unsere Prothesen voll biointegriert werden. Denn die Adaption der Implantate erfolgt im Quanteneffektbereich über die Schwingungsmatrizen organisch modulierter Interferenzmuster unter Umgehung der synaptischen Erregungsübertragung direkt im ZNS – kurz: durch unsere NEK-Technik.

Ich hätte mir sofort unser Topmodell BP X/3 mit allen Schikanen einbauen lassen können, aber - ich wollte nicht.
Denn dort, im Dreck des Straßengrabens, in den mein Blut spritzte, wurde mein Plan zur Reife gebracht:
Ich will weg von dem Körper, der mich nur belastet, der mich angreifbar macht, weg von meinem Herz, das pumpt wie verrückt, nur um Dinge zu versorgen, die ich eigentlich nicht brauche: Beine, Gedärm, Furunkel am Hintern...

Ich hoffe, die Milliarden Verrechnungseinheiten, die ich in die Forschung gesteckt habe, waren es wert. Ich bin das menschliche Versuchsobjekt Nr.1.
Wenn es bei mir klappt, werden künftig Millionen von Chirurgierobotern diesen Eingriff, den Dr. Chang, mein Chefchirurg jetzt bei mir durchführen wird, auch an allen anderen Menschen machen können:


die TOTALAMPUTATION


Dr. Chang wird mein Gehirn entnehmen, in eine Nährlösung setzen und tief unter meiner Zentrale im atombombensicheren Keller durch die NEK-Technik mit der Welt verbinden .
Von hier aus werde ich dann die Firma leiten, Drachenfliegen, am Strand von Acapulco Mädels anbaggern, in die tiefsten Ozeane tauchen - nur besser als real.
Und ich werde weiter forschen, bis ich auf diese graue, wabblige Masse in der Nährlösung auch noch verzichten kann.

Und alles wird gut.


Bis bald, wir sehen uns im Netz!







Garlin 10609

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.06.2009

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