Es
war ein Tag wie jeder andere.
Die Sonne stach schon morgens herunter, und die Hitze trieb mich von meinem Lager. Magdalena rumorte bereits herum und stritt sich nebenbei mit ihrer Mutter. Mein Schwiegervater hatte schon längst das Weite gesucht.
Ich schlich in die Küche, riss mir – unbeachtet von den zeternden Frauen – ein Stück Fladenbrot ab, griff mir ein paar frische Feigen und drückte mich vorsichtig im Windschatten der Weiber aus dem Raum.
Zum Glück war der Streit so hochgekocht, dass sie mich zwar bemerkten, aber eher aus den Augenwinkeln, so nebenbei, wie ein harmloses Insekt.
Ich hatte wirklich Glück. Es hätte auch gut sein können, dass sie ihren Disput kurz unterbrachen, um mich als willkommene Abwechslung zu bearbeiten:
Ich solle mir endlich eine vernünftige Arbeit suchen, ich solle nicht immer mit meinen Kumpanen herumhängen, ich solle mir endlich meine Flausen aus dem Kopf schlagen und so weiter. Und dann würde die übliche Krönung der Anfeindungen kommen: Wann ich denn endlich Willens (Schwiegermutter) und in der Lage (Ehefrau) sei, für Nachwuchs zu sorgen. Darin waren sie sich immer einig.
Ich hatte es satt. So satt.
In der Vorkammer griff ich mir meine Unterlagen, auf denen ich immer meine Gedanken und Projekte aufzuzeichnen pflegte und steckte sie zusammen mit dem Fladenbrot und den Feigen in einen Beutel. Dann bückte ich mich, stieß die Tür auf und trat auf die Strasse.
Das gleißende Licht war eine Wohltat nach dem Gekeife aus der Küche.
Unschlüssig blickte ich mich um. Keine bekannten Gesichter waren zu sehen, nur Wasserträger, Marktweiber und ein klirrender Trupp von Besatzern, der arrogant schwitzend vorbei staubte, den blasphemischen Adler schwenkend.
Den Berg hoch wandern, im Schatten der Ölbäume das Tal überblicken und den Tag verträumen – das wäre jetzt schön gewesen, aber dann hätte ich an der Werkstatt meines stets übel gelaunten Vaters vorbei gemusst, und das weibliche Gezeter wäre nur einem ebensolchen männlichen gewichen. Bretter hobeln, Balken schleppen? Nein danke. Es gab Wichtigeres für die Welt zu tun.
So beschloss ich wieder einmal, meinen Schritt nach unten zu lenken, zum Marktplatz, wo der Grieche Giamopoulos ein Kafeneion betrieb.
Alsbald saß ich in der dämmrigen Taverne, einen Becher Wein vor mir, blätterte in meinen Aufzeichnungen und hing meinen Gedanken nach, wie fast jeden Tag.
Plötzlich wurde das Dämmerlicht, das durch die Fensterluke in die Schänke drang noch dunkler. Erschrocken blickte ich auf. Erst sah ich nur einen Schatten. Dunkel, verwaschen, bedrohlich wirkend. Doch dann drehte sich der Fremde, und Licht fiel auf sein Gesicht. Er war alt wie jeder, gekleidet wie jeder, trug einen dunklen Bart wie jeder. Aber er hatte graue, tiefgründige Augen wie niemand. Sie schienen tausend Jahre alt zu sein.
"Entschuldigen Sie", sagte er, "es war nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken, Magister."
Erst wollte ich verärgert reagieren, weil er mich Magister genannt hatte. Das taten nur meinen Freunde, seit ich in jungen Jahren im Gemeindehaus die Honoratioren mit meinen altklugen Reden fasziniert hatte – sehr zum Leidwesen meiner Eltern. Doch dann blickte ich wieder in seine sanften Augen, und der Ärger verflog.
"Ja, was gibt's?"
Wortlos legte der Fremde ein Blatt auf meine Notizen und verschwand im Dämmerlicht der Taverne.
Erst zögerte ich, aber nahm dann doch das Blatt. Es enthielt einen einzigen Satz, geschrieben in der Sprache der Besatzer. Mühsam entzifferte ich ihn:
Als Besitzer dieses Briefes haben Sie
für einen Tag
DIE WELTHERRSCHAFT
Machen Sie das Beste daraus"
Erst stutzte, dann lachte ich laut auf. Was für ein Unsinn! Tagtäglich traf ich auf Prediger, Wahrsager, Wunderheiler und Messiasse in Massen. Ich hatte selbst Mühe, mich bei meiner Anhängerschaft zu behaupten.
"He, Freundchen!", rief ich ins Halbdunkel. "Weltherrschaft, ja? Toll, her damit!"
Fast erschrak ich ein wenig, als der Fremde wie aus dem Nichts vor meinem Tisch stand.
"Du kannst sie haben. Und du willst sie doch, oder?"
Er grinste mich frech an und stellte einen vollen Weinkrug auf den Tisch.
Der Krug war ein gutes Argument. Ein sehr gutes.
Ich schenkte mir ein und leerte den Becher in einem Zug, goss nochmals nach, trank wieder und fixierte dann den Gönner. Plötzlich erschien mir sein Angebot nicht mehr so hirnrissig.
"Und wie soll das gehen?", fragte ich und nahm noch einen großen Schluck.
"Ganz einfach", antwortete er. "Nimm meine Hand und folge mir."
Und dann begann etwas, das ich heute, da ich diese Zeilen schreibe, immer noch nicht verstehen kann, und das mich ständig beschäftigt. Es war echt, wirklich, ganz und gar real.
Wir drangen durch die Wand und flogen wie die Vögel des Windes hinauf in den Himmel, hinein in die Wüste, wo wir wieder sanft zu Boden schwebten. Ich spürte die Hitze auf der Haut, den Sand in den Augen und die fast glühenden Steine, die der Fremde mir in die Hand legte. Und ich wusste: Das geschieht wirklich.
"Nimm die Steine, befehle ihnen, zu Brot zu werden, und sie werden zu Brot. Du hast jetzt die Macht dazu."
Und ich wusste, dass ich wirklich die Macht hatte. Aber ich wollte es nicht ausprobieren. Zwar hatte ich weder das Fladenbrot noch die Feigen aus meinem Beutel gegessen, aber der Hunger war verflogen.
Der Fremde spürte mein Zögern, nahm mich wieder bei der Hand und flog mit mir zur großen Stadt. Dort stellte er mich auf den höchsten Turm, ließ meine Hand los und sagte:
"Du kannst selbst fliegen, versuche es, spring!"
Ja, ich fühlte die Macht noch viel deutlicher als in der Wüste. Ich war überwältigt. Tief sog ich die Luft ein, blickte über die Stadt und genoss die Vorfreude. Noch einmal sah ich den Fremden an und bemerkte seine gerunzelte Stirn.
Meine Vorfreude auf das Fliegen interpretierte er offenbar als erneutes Zögern, glaubte wohl, dass ich immer noch nicht überzeugt wäre, dass ich Angst hätte, gleich platt wie Kamelscheiße auf dem Pflaster zu liegen und packte wieder meine Hand. Ziemlich grob, diesmal. Er wirkte leicht genervt.
Bevor ich etwas sagen konnte hatte er mich schon auf einen hohen Berg gebracht. Von dort aus zeigte er mir alle Herrlichkeiten der Erde, die Städte, die Reichtümer, die Frauen. Alles solle mir gehören, mir gehorchen.
Jetzt erst erkannte ich die Möglichkeiten, die sich mir boten. Die Weltherrschaft! Ich dachte an den fernen Machthaber, der mein Land besetzen ließ, dachte an die Unterdrückung meines Volkes, an all das Elend, das ich beseitigen konnte und das schon immer mein Bestreben gewesen war. Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand für alle und vor allem für mich! Und ich dachte an die zickige Magdalena, die zänkische Schwiegermutter, meinen despotischen Vater, an meine jämmerlichen zwölf Freunde, die auch nur an meinem Rockzipfel hingen, weil ich ihnen immer Wein und Fische beschaffte und sah dem Fremden tief in seine uralten Augen. Und da erkannte ich:
ER
war es. ER,
dessen Name Legion
ist,Asmodeus, Leviathan, Baalberith, Astaroth
oder vielleicht sogar Luzifer
. Egal. Wo war das Pergament? Ach ja, ich hielt es immer noch verkrampft in meiner linken Hand und riss es hoch.
"Wo soll ich unterschreiben? Hier? Mit meinem Blut?"
Der Fremde nickte, sichtlich zufrieden.
Wenn ich etwas gelernt hatte, damals im Gemeindehaus, als ich den Lehrern gelauscht und mit meinen altklugen Reden meine Zuhörer entzückt hatte, dann war es der Rat, Verträge zweimal zu lesen, bevor man sie unterschreibt. Und das tat ich dann auch. Aber was war das?
Was sollte denn das heißen? Hatte ich das vorher überlesen oder nur nicht richtig übersetzt? Was bedeutete: '…per unum diem.'?
Dieser Mistkerl! Für einen Tag
hieß das! Was sollte mir das nützen? Immer diese kleingedruckte, teuflische Scheiße! Damit kriegen die dich immer am Arsch! Was wäre denn am nächsten Tag? Dann wäre ich wieder der, der ich immer war und bald darauf tot. Neeneeneenee. Nicht mit mir! Ich zerfetzte das Pergament, zerstreute die Schnipsel in den Wind und schrie den Versucher an:
"Hebe dich weg von mir, Satan!"
Was ich in meiner Wut noch alles geschrieen hatte, weiß ich nicht mehr, aber es hatte gewirkt.
Ich fand mich wieder an meinem schmuddligen Tisch in Giamopoulos' schmuddliger Taverne und glaubte, geträumt zu haben. Doch dann fiel mein Blick auf den Weinkrug des Fremden. Ich schlug ihn vom Tisch, dass er in tausend Scherben zersplitterte und rief nach Giamapoulos, um Nachschub zu bestellen. Viel Nachschub…
Ich habe diese sonderbare Geschichte aufgeschrieben und hinzugefügt meinen anderen Aufzeichnungen, die alsbald verborgen werden vor meinen Feinden und den unseligen Besatzern unseres Landes in den verschwiegenen Höhlen, hoch über dem salzigen See. Möge ein weiserer Geist als ich sie dereinst entziffern und die kryptischen Worte deuten, die der Fremde noch an mich richtete, bevor er verschwand: "Nun denn, Jesus von Nazareth, dann wirst du dein Kreuz wohl tragen müssen..."
Literaturangabe: Lutherbibel, Matthäus 3.4
©Garlin 6309
Texte: Cover: Hieronymus Bosch: Der Garten der Lüste
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet Jacob, dem unermüdlichen Moderator und Tjalda, die die Idee hatte