Im Spiegel hinter den zahllosen Flaschen an der Bar sah Jason den Schwarzen herein kommen. Und er spürte einen eiskalten Hauch, als die Tür wieder ins Schloss fiel.
Der Schwarze blickte sich kurz um, ließ dann seinen Ledermantel von den Schultern gleiten und platzierte ihn mit einer eleganten, fließenden Bewegung auf dem Haken neben dem Eingang. Schwarzes Hemd, Lederjeans, Cowboystiefel. Der Schwarze war wirklich schwarz. Auch die langen Haare, die er zu einem Pferdeschwarz gebunden trug. Nur sein Gesicht war weiß. Kalkweiß, wie auch seine langen, schmalgliedrigen Hände.
Jason grinste in sich hinein. Wieder so ein Zombie. Er nahm kaum davon Notiz, dass der Schwarze wie ein Schatten auf den leeren Barhocker neben ihm glitt. Nur ein leises, heiseres Kichern veranlasste Jason, leicht den Kopf zu drehen.
Doch der andere hatte keine Miene verzogen und blickte nur gerade aus. Woher das Glas gekommen war, das der Schwarze plötzlich zum Mund hob, war Jason völlig entgangen. Egal.
Stumpf starrte er wieder in seinen Tullamore Dew. Er dachte nach. Sorgen? Welche Sorgen? Er wusste nichts mehr. Die ungesteuerte, niederdrückende Traurigkeit stieg wieder in ihm hoch, und er bemerkte, wie sich grundlos seine Augenwinkel mit Tränen füllten. Verdammt.
Verstohlen fuhr er über sein Gesicht. Und dann kam die Wut wieder hoch. Besser. Er wusste nicht auf wen oder was, aber besser als grundlose, namenlose Traurigkeit war sie allemal. Tullamore Dew half. Er hob sein Glas und nahm einen Schluck. Dabei kreuzte sich sein Blick mit dem des Schwarzen im Spiegel. Jason musste husten und setzte sein Glas ab.
"Deprimiert?"
Hatte sein Nachbar das gesagt? Jason schielte ihn kurz aus den Augenwinkeln an. Er war sich nicht sicher, denn der Schwarze starrte unverwandt geradeaus in den Spiegel.
"Hmmm", brummte Jason um irgendwie zu reagieren und widmete sich wieder seinem Glas.
"Es ist alles so sinnlos, nicht wahr?"
Jetzt hatte Jason es deutlich gehört und wandte den Kopf. Der Schwarze sah ihn nun direkt an, und Jason meinte plötzlich, ihn sehr, sehr lange schon zu kennen. Ein dunkler Schatten auf der Stirn hob sich von seinem blassen, fast durchscheinenden Gesicht ab und die tief schwarzen Augen starrten weit in Jasons Seele.
Yes. Der Schwarze hatte Recht. Sinnlos. Nein, nicht nur sinnlos, sondern schlimmer…
Plötzlich erkannte er den Plan. Er sah das wirbelnde Weltall, die sich aufblähende Materie vom Urknall bis zum Ende, die sich bildenden und vergehenden Galaxien, Sternsysteme, Planeten und Monde, die evolutionären Kriechtiere mit ihren Schleimspuren auf unsäglich fremden Planeten unter aberwitzigen Sonnen, hörte das Schreien der leblosen Materie und fühlte den sinnlosen Kampf ums Überleben eines Nichts. Und dann erkannte er, dass da doch kein Plan dahinter war. Nur eine widerwärtige, ekelerregende Masse an Nichts.
Es wurde ihm nicht bewusst, dass er aufstand, er wusste nicht, ob er gezahlt hatte und wollte auch nicht darüber nachdenken, ob er dem Schwarzen willenlos gefolgt war und wohin, zu welchem Zweck.
"This is the end, beautiful friend,
This is the end, my only friend…"
Dieser Song der Doors ging ihm immer wieder im Kopf um, als er aus dem Fenster seiner ehemaligen Schule blickte. Zuckende Blaulichter überall, sinnlos geplärrte Megaphonworte in seinen Ohren. Er drehte sich um und lächelte. Da lagen und saßen sie, ruhig, still, zufrieden, auf ihren Stühlen, am Boden. Sie plärrten nicht, plapperten, tobten nicht, und sie beschimpften und verarschten ihn nicht wie früher. Nur diese sonderbaren Spritzer und roten Lachen überall. Na ja.
Er sah seine Hände an, die das Sturmgewehr umklammerten. Hey. Schöne Waffe, so matt glänzend, so rein, so ruhig. Er wischte sachte einen roten Fleck vom Lauf. Full Metal Jacket.
Woher die Waffe wohl kam? Sie fühlte sich gut an, beruhigend, wie die Hand seiner Schwester, die er gehalten hatte, als sie starb.
Ja, hallo, wo war sie nur? Er wollte schon lange zu ihr, schon so lange. Warum hatte er nur gewartet?
Wieder sah er aus dem Fenster, sah mit Grauen die wirbelnde Masse unten auf dem Schulhof, das Geschrei, die Lichter.
Und dann, ja, da war er, der Schwarze.
Als sich ihre Blicke trafen, wurde Jason ganz ruhig. Schön, endlich. Der Schwarze nickte und Jason setzte den Lauf des M 16 unter sein Kinn.
Und drückte ab.
NEWSFLASH
Blahblahblahblah die Ministerin blahblahblah
der Beauftragte blahblahblahblah
blahblah der Medienzar blahblah...
Der Schwarze schaltete das Radio ab und verließ seine Wohnung. Der nächste Auftrag wartete.
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Texte: Bert Rieser
Bildmaterialien: Stephan Dietl, pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
gewidmet natürlich Randall Flagg