Die Katastrophe
begann am Gründonnerstag um die Mittagsstunde. Weltweit.
Ohne jeglichen ersichtlichen Grund stürzten alle zu dieser Zeit in der Luft befindliche Flugzeuge ab. Es waren viele. Gleichzeitig gaben scheinbar grundlos in tausenden von Krankenhäusern die Herz-Lungen-Maschinen den Geist auf und mit ihnen die Menschen, die auf sie angewiesen waren. Ohne erkennbaren Anlass blieben weltweit alle Autos, Züge, Fahrstühle, Metros und Rolltreppen einfach stehen. Fährschiffe, Frachter, Öltanker und Schubverbände dümpelten antriebslos im Wasser, hilflos den Unbilden der Natur ausgeliefert. Überall auf der Welt fiel gleichzeitig der Strom aus, alle Heizungen und Kühlaggregate versagten, Fernseher, Radios, Computer verweigerten ohne Grund ihre Dienste, alle Kommunikationskanäle erstarben.
Innerhalb eines Augenaufschlags fanden sich die Menschen in die Bedingungen der Steinzeit versetzt – nein, noch weiter zurück, vor die Erfindung des Feuers. Denn es gab plötzlich kein Feuer mehr. Als sie aus ihrer momentanen Schreckstarre erwachten und versuchten, ihre Öfen wieder anzustecken, die Maschinen erneut zu starten, die ausgefallenen Kraftwerke hochzufahren, mussten sie feststellen: Es ging nicht.
Nicht lange dauerte es, dann kamen sie aus ihren Häusern, Büros, Fabriken, Bordellen, Arztpraxen, Polizeistationen, U-Bahnschächten gequollen und versammelten sich ratlos, hilflos, panisch, schockiert.
Weltweit. Aber das wussten sie nicht, da sie nicht einmal in Erfahrung bringen konnten, dass dasselbe auch in den Nachbarstädten passiert war. Alles Menschenwerk war tot.
Die abgestürzten Flugzeuge hatten grausige Schäden in Wäldern und Häuserzeilen verursacht, aber keines war explodiert. Keiner der havarierten Lkws auf den Autobahnen war in Flammen aufgegangen. Und keines der Notstromaggregate in Flughäfen, Krankenhäusern und Militärstationen war angesprungen.
Es war ein weltweites Inferno. Aber kein kreischendes, brüllendes, flammendes Inferno, sondern ein stilles, denn keine der Katastrophen reichte weiter, als der Schall trug.
Alle Kommunikationskanäle waren unterbrochen. Erst als über einige wenige batteriegestützte Amateurfunkverbindungen und akkugepufferte Relaisstationen von Nachrichtenagenturen bekannt wurde, dass die Katastrophen weltweit aufgetreten waren und die neuen Bedingungen überall herrschten, drang die Erkenntnis erst sickernd, dann kriechend, dann bohrend in die Gehirne von Milliarden von Menschen – abgesehen von einigen Ethnien in Neuguinea, Afrika oder Lateinamerika: Der Untergang der Welt stand bevor, die Apokalypse, Harmagedon, Ragnarök, das Jüngste Gericht!
Es war erstaunlich, in wie kurzer Zeit die gesamte Welt aus den Fugen geriet. Plünderer begannen sofort mit ihrem Handwerk, nachdem feststand, dass die Schusswaffen der Staatskräfte und Securities nicht mehr funktionierten. Sektierer, Wahrsager, Endzeitgurus, Untergangsprediger, Geißler aller Schattierungen erschienen wie aus dem Boden gestampft und beklagten oder begrüßten das Ende der Welt.
Schauerliche Tänze und Orgien begannen öffentlich wie zu den schlimmsten Zeiten der Pest, das dünne Mäntelchen der Zivilisation bröselte in kürzester Zeit von der Menschheit und der brüchige Commonsense atomisierte sich.
Erstaunlicherweise blieben die Profis der Endzeit in ihren Löchern, vergruben sich in ihren Bruderschaftslogen, Klöstern, Aschrams und Koranschulen.
Völlig allein gelassen empfanden sich auch die Wissenschaftler, weil ihre Wissenschaft nicht mehr funktionierte.
Martin Behaim vom Max-Planck-Institut in Martinsried erlebte die Stunden des Schreckens wie in einem Film. Der Strom in den Labors fiel aus, die Kommunikationskanäle nach draußen ebenso. Der Blick auf die Hauptstrasse zeigte chaotische Zustände durch versagende Motoren, Servolenkungen, Bremskraftverstärker und Ampeln, aber keine Warnleuchten blinkten, keine Polizei, keine Rettungswagen kamen, die Panik eilte wie Edvard Munchs Schrei durch das Institut und plötzlich war Behaim allein. Er hatte keine Familie, um die er sich sorgen musste, er wusste nicht, wohin er laufen sollte. Nach Hause? Wozu?
Er schüttete den Rest des kalt gewordenen Kaffees hinunter und begann, ganz Wissenschaftler, zu überlegen, was die Ursache der sonderbaren Vorfälle sein konnte. Von der weltweiten Katastrophe ahnte er nichts.
Zur selben Zeit schreckte in der Kirche Hl. Kreuz Pater Aschenköhler aus seiner Kontemplation über den morgigen Karfreitag auf, als plötzlich alle Kerzen am Hochaltar erloschen. Es war wie in einem schlechten Horrorfilm, wenn Das Böse erscheint. Aschenköhler war Herz-Jesu-Missionar. Er hatte vom Bösen sein eigenes Bild. Mühsam erhob er sich von seinem Betschemel und zog ein Feuerzeug aus seiner Soutane. Doch es gelang ihm nicht, die Kerzen wieder zu entzünden. Ratlos schüttelte er das Feuerzeug, aber es nützte nichts. Das Gas musste alle sein. Na ja. Er ging zu seinem Platz zurück und setzte sich, den Blick auf den Schmerzensmann gerichtet.
Carla Friedrich, allein erziehende Mutter einer dreijährigen Tochter im Plattenbau am Rande der Großstadt zog an ihrer Zigarette und stellte fest, dass sie ausgegangen war. Gereizt warf sie den Stummel in die Tonne und schaute zum Herd hinüber. Wann kochte die verdammte Suppe für ihre Tochter endlich? Carla Friedrich war auf brutale Art und Weise aus ihrem Beruf gemobbt worden, als sie schwanger war. Nach der Geburt von Sarah hatte sie sich mit Hartz IV und Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und jetzt endlich wieder eine neue Stelle in Aussicht. Gleich war das Vorstellungsgespräch; sie musste sich beeilen. Verdammt, die Kontrollleuchte des Herdes brannte nicht. Sie knipste am Lichtschalter, aber die Küchenlampe blieb dunkel. Mist.
Rund um Carla herum versank die Welt im Chaos, und sie merkte nichts. Erst als sie zufällig beim Gang zum Sicherungskasten aus dem Fenster blickte, die Staubwolke über der Stadt sah, die kreuz- und querstehenden Autos auf der Strasse, die Massen von umherirrenden Menschen, begriff sie, dass etwas Schlimmes geschehen war.
Und dann kamen die Schiffe
.
Drei riesige Scheiben näherten sich der Erde, groß wie Städte, schwarz wie die Hölle, bedrohlich, dass den Menschen der Atem stockte.
Sie umkreisten den Planeten auf unterschiedlichen Bahnen mit konstanter Geschwindigkeit, und wo immer sie auftauchten, wurde das Entsetzen von den Katastrophen auf der Erde zum Himmel gerichtet.
Professor Behaim hatte begonnen, erste Experimente anzustellen. Er versuchte, einen Bunsenbrenner zu entzünden, aber es gelang ihm nicht, egal wie er es anstellte. Schließlich holte er ein Stück Konstantandraht aus der Werkstatt, drehte eine Wendel daraus und befestigte sie über dem Brenner. Dann öffnete er das Gas und schloss mit den Drahtenden eine Kfz-Batterie kurz. Doch der Draht, der weiß glühend hätte werden sollen, erreichte kaum mehr als Handtemperatur. Er zermarterte sich das Gehirn. Warum nur, warum?
Und plötzlich hörte er eine glasklare Antwort auf seine Frage, so wie plötzlich Milliarden Menschen glasklare Antworten auf ihre Fragen erhielten, egal wo, egal in welcher Sprache. Die Antworten entstanden direkt in ihren Gehirnzellen, als hätten sie sie selbst gedacht.
"Weil wir die maximal erreichbare Temperatur vorläufig auf fünfzig Grad Celsius beschränkt haben."
"Verstehe. Wenn es keine höhere Temperatur gibt, gibt es auch kein Feuer, keine Explosionen, keine Zündfunken, keine Kraftstoffverbrennung, keine Elektrizitätswerke… obwohl, Photovoltaik, Wasserkraftwerke…"
"Da haben wir etwas anders nachgeholfen."
"Ach so… Ja Himmel und Hölle, was tu' ich hier eigentlich? Bin ich wahnsinnig geworden? Mit wem rede ich denn, wer bist du? Geht weg aus meinem Kopf!"
Dieser Schrei hallte milliardenfach um die Welt und wurde prompt milliardenfach beantwortet.
"Wir sind die Skzzzzisssrr...."
Bei diesem Geräusch oder Gefühl pressten Milliarden Menschen die Fäuste an die Schläfen, weil sie glaubten, ihre Schädel würden platzen.
"Verzeihung, wir vergaßen, dass eure Gehirne zu primitiv sind, gewisse Dinge zu verstehen. Wir wollen es einfach ausdrücken: Wir sind Gott."
"Satan!", schrie Pater Aschenköhler in der Kirche Heilig Kreuz gepeinigt auf. "Ihr seid Diener Satans, ihr könnt nicht Gott sein!"
"Oh doch. Du glaubst, Gott hat dich erschaffen und wacht über dich. So ist es, zumindest haben wir dich erschaffen. Wir sind GOTT. Wir sind auch ALLAH, JAHWE, ZEUS, EL, SHIVA, MOLOCH, ODIN oder wie auch immer du uns nennen willst. Und wir haben dich erschaffen, vor etwa 6000 Jahren eurer Zeitrechnung. Nicht nur dich, euch alle, alles hier auf diesem Planeten. Nach unserer Zeitrechnung ist das allerdings nicht einmal ein Jahr her".
"Das gibt's nicht, das ist Blödsinn!", schrie Professor Behaim in seinem Labor. "Höheres Leben gibt’s schon seit Millionen von Jahren hier, es ist durch die Evolution so geworden, wie es ist… nein, nein, geh weg aus meinem Kopf, ich bin verrückt geworden!"
"Ach was, es stimmt schon, was wir gesagt haben. Glaubst du wirklich, dass diese komische… Evolution… Wesen wie ulkige Chamäleons, Paradiesvögel, die kaum fliegen können, kuriose Schnabeltiere, Sauriere, die von ihrem eigenen Gewicht fast erdrückt werden, Nacktschnecken und Paviane hervorgebracht hat? Ameisenbären und Tukane, deren Schnabelgewicht ihnen fast den Hals bricht, Albatrosse, die gut fliegen aber saumäßig landen, Pantoffeltierchen und Retroviren, Giraffen, die zum Saufen eine grauenhafte Figur abgeben müssen und Hirsche, die sich mit ihren Angebergeweihen im Gebüsch verfangen – alles die Evolution? So ein Quatsch, das glaubst du doch nicht im Ernst! Wir waren das! Wir haben alles entwickelt und zur Erde gebracht. Und deswegen glaubt ihr ja an uns. Wir sind GOTT!"
"Und warum, Gott, warum hast du das alles erschaffen? Welchen Zweck sollte das haben? Und warum zerstörtst du jetzt alles wieder?"
"Wegen der ZZRattikk…. Entschuldige, wegen der Spiele, wegen unserem jährlichen Wettkampf. Jeder unserer Wettkampfteilnehmer – und es sind viele, wir sind Legion, wie es in einem eurer schlauen Bücher steht – kreiert in bestimmten Kategorien eine gewisse Anzahl von Geschöpfen, die er hier auf der Erde zur Bewertung stellt. Es gibt Punkte für Schönheit, Witzigkeit, Schnelligkeit, beste Tarnung, beste Flugeigenschaften, interessantestes Paarungsritual usw. Ihr macht doch so was im Kleinen auch, Hollywood, Olympia und so. Das habt ihr irgendwie von uns übernommen. Überhaupt erinnern sich manche von euch erstaunlich deutlich an uns, ihr hört nur nicht drauf! Ihr habt Hunderte von Religionen gehabt, in denen wir mehr oder weniger deutlich beschrieben werden, die EDDA, die BIBEL, den Koran, die Bhagavadgita, das Gilgameschepos blahblah. Lest ihr denn eure Bücher nicht? Hört ihr nicht auf eure Mythen? Glaubt ihr euren Wissenschaftlern wie Charroux, Buttlar oder Däniken nicht? Oder warum seid ihr jetzt so perplex, dass wir, euer Gott hier auftaucht? Wenigstens wird in einem Teil eurer Welt, den ihr USA nennt, etwas weiter gedacht. Dort wird unsere Schöpfung sogar schon in der Schule gelehrt. Kreationismus nennt ihr das oder Intelligent Design. Ihr seid witzig, ihr Menschen."
"Apage Satanas!"
"Ach Pater, wer ist Satan? Wir sind GOTT. Schau, die letzten Spiele waren gut. Der Kreator, der euch erschaffen hat, sollte gewinnen, weil solch ein Geschöpf hatte bislang noch keiner zustande gebracht. Aber leider wurde ihm der Preis wieder aberkannt, weil er zuviel von sich in euch eingebaut hat. So etwas ist nicht erlaubt! Ihr habt euch an zu viel von uns erinnert und das dann Glauben genannt. Zum Glück habt ihr dann Religionen daraus gemacht, statt Wissenschaften, sonst wärt ihr von diesem Planeten schon längst geflohen, und wir hätten mit dem Intergalaktischen Rat Probleme bekommen. Jetzt ist es zu spät. Aber macht euch nichts daraus, nehmt es sportlich!
Wir in unseren Schiffen sind so was wie Platzwarte. Das neue Spiel beginnt bald und wir müssen die Erde wieder in den Urzustand versetzen, wie immer. Erst senken wir die Temperatur weiter bis auf minus 273 Grad ab und dann…"
"Aber es hieß doch immer, Gott ist gut und nicht böse! Muss Sarah jetzt sterben?"
"Das können wir nicht beantworten. Was ist gut und böse, und was ist ein Sarah?
Aber wir haben jetzt auch keine Zeit mehr, wir müssen arbeiten. Macht's gut und danke für die Vorstellung. Ihr wart Spitze!"
Den milliardenfachen Aufschrei hörten die Götter nicht mehr, denn sie hatte die Gedankenverbindung unterbrochen.
Was die Götter nicht berücksichtig hatten war, dass der Job als Platzwart zwar gut bezahlt wird, aber auch gefährlich sein kann. Ihre Energieversorgung erhielten die Schiffe über einen ionisierten Partikelstrahl vom Heimatgestirn, das in dem Sternhaufen schräg über der Galaxis der Erde liegt. Und genau in diesem intergalaktischen Raum stülpte die Dunkle Materie gerade in dem Augenblick ein gigantisches schwarzes Loch aus, als die ZZZIlaaprr… mit der Terminierung beginnen wollten. Dieses schwarze Loch spie einen ungeheuren Stoß von Hawking-Strahlung aus, der – Zufall oder nicht – justament den Versorgungspartikelstrahl der Schiffe traf. Durch die Ionisierung wurde der Energieimpuls abgeleitet, jagte als PLASMA mit unvorstellbarer Geschwindigkeit am Leitstrahl entlang und traf die Schiffe völlig unvorbereitet. Als gigantischer Partikelregen erleuchteten die Reste der Schiffe das All und regneten als Sternenstaub zur Erde hinunter.
EPILOG
Unmittelbar danach sprangen die Notstromaggregate an, es gab noch ein paar kleinere Katastrophen durch unkontrolliert hochfahrende Kraftwerke und startende Autos, aber die Welt war gerettet.
Ein milliardenfacher Jubelschrei stieg zum Himmel auf, Dankgottesdienste wurden abgehalten, Friedensfeste gefeiert und das große Aufräumen begann.
Doch schon tauchten die ersten Gruppen auf, mal hier, mal da, wurden stärker und stärker, gewannen an Macht und Einfluss, und ihre Botschaft lautete:
Nieder mit den alten Religionen! Nieder mit den Götzengläubigen! Sie sind Satan nachgelaufen, sie haben Aliens angebetet, sie haben den Verführern geglaubt! Nieder mit Allah! Nieder mit Jehova, nieder mit Vatersohnundheiligergeist! Diese wollten uns vernichten, doch PLASMA hat uns errettet! PLASMA hat die bösen Götter getötet, PLASMA ist gut! Es gibt nur einen Gott und der heißt PLASMA!
Und schon wurden wieder die ersten Scheiterhaufen errichtet zu Ehren von PLASMA. Professor Martin Behaim als Prototyp des ungläubigen Wissenschaftlers und Pater Aschenbrenner als Vertreter der Götzenanbeter gehörten zu denen, die hinaufgebunden wurden, und Carla Friedrich, mit Sarah an der Hand, warf als eine der ersten eine Fackel. Im Namen PLASMAS, des Erlösers, des Retters.
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© BRieser 10109
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2009
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Cover: Plejaden-Sternhaufen