Der
völlig überladene, schrottreife Kenworth-Laster hatte mit seiner hinteren Doppelachse gerade eben die Ladeklappe überwunden, als schon mit viel Geschrei die Leinen losgeworfen wurden und die Schrauben der Autofähre ARXAEÓN das Wasser des Hafens von Vassilikí aufwühlten. Auf typisch griechische Manier steuerte das Schiff mit voller Fahrt und sich erst mühsam schließender Heckklappe an der Mole vorbei auf die offene See zu, Richtung Insel Kefalonía. Sicherheitsbestimmungen? Ti íne avtó? Was ist das?
Missmutig blickte Ronald Scherer von der Heckreling zur Insel Lefkada zurück, die immer kleiner wurde. War doch scheißegal. Sollte der Kahn doch absaufen wie ein vollgelaufenes Ouzoglas. Sein eigenes Schiff war schon längst am Sinken.
Er hatte es verbockt.
Diese Reise war ein letzter Versuch gewesen, seine Ehe zu retten. Ja, er hatte es zu weit getrieben, ja, er hatte Regine nach Strich und Faden belogen und betrogen. Was war sie auch so pingelig! Früher hatte sie ihm doch auch immer verziehen. Doch jetzt?
Er drehte sich um und blickte über die Heckplattform zur Wand des Schiffaufbaus. Dort saß seine Frau auf einer Bank und hielt das Gesicht in die Sonne. Ob sie die Augen offen hatte, konnte er wegen der dunklen Sonnenbrille nicht erkennen. Es war ihm auch verdammt egal.
Die Fähre war nicht voll, nur der LKW, drei griechische Pick-ups und außer ihrem noch zwei weitere Touristenautos. Die Griechen saßen bestimmt schon an der Bordbar und tranken Schüttelkaffee und Ouzo, und die Touris standen sicher am Bug, um die sagenhafte Insel Ithaka zu bestaunen, die bald am Horizont auftauchen würde.
Eigentlich lag eine herrliche Stimmung über der Heckplattform, nur das dumpfe Rumoren des Schiffsdiesels, das Kreischen der ewig hungrigen Möwen und das Rauschen des Kielwassers waren zu hören.
Ronald Scherer sog die würzige Luft tief in seine Lunge und sah wieder übers Wasser. Das sagenhafte mythische Licht Griechenlands - ja, es war da, aber es konnte ihn nicht aus seiner trübseligen Stimmung reißen. Verdammt! Mühsam hatte er es geschafft, Regine zu einem letzten Versuch eines Neuanfangs zu überreden. Eine Reise über die Ionischen Inseln sollte es sein, drei lange Wochen. Zeit genug.
Sie waren nach Korfu geflogen, hatten dort einen Mietwagen übernommen und die Insel erkundet,waren dann aber vor den englischen und russischen Touristenhorden aufs Festland geflohen. Gemütlich ging's die Küstenstrasse entlang, bis sie über den Verbindungsdamm die Insel Lefkada erreicht hatten. Schön war es gewesen, fast wie in alten Zeiten. Sie hatten gelacht, Retsina getrunken, in kleinen Tavernen Kalamares und Tsatsiki gegessen, übers Meer geschaut, und das Licht verzauberte alles zusätzlich. Er hatte es wieder einmal geschafft, seine Frau herum zu kriegen.
Doch dann, gestern Abend, in dieser Hafenkneipe in Vassilikí, war der alte Streit wieder ausgebrochen. Eine hübsche Kellnerin, die er im Gang zur Küche abknutscht hatte, war der nichtige Anlass gewesen. Er könnte sich selbst ohrfeigen. Dabei hatte das trinkgeldgeile Luder ihn nur verarscht. Aber Regine hatte es gesehen und es war wieder aus. Sie hatte nun die Nase entgültig voll von ihm.
Mann! Er war nun einmal so veranlagt - was stellt die Alte sich denn so an? Es wunderte ihn nur, dass sie nicht gestern schon das Hotel verlassen hatte und auf eigene Faust heimgereist war. Obwohl – wie denn? Das hätte zuviel Eigeninitiative vorausgesetzt, und die hatte Regine nie gehabt. Nicht im Ausland, nicht außerhalb ihrer beschränkten Welt. Der gebuchte Rückflug ging von Zakynthos aus, wo sie auch den Wagen zurückgeben mussten, und so blieb sie eben bei ihm, für den Rest der Tour.
Bei diesem Gedanken grinste Ronald in sich hinein, verzog dann aber das Gesicht, als er an ihre miese Laune dachte und an das bockige Schweigen, mit dem sie ihn ignorierte. Blöde Gans. Aber Scheiße, Scheiße, Scheiße, wenn sie Ernst machte, - und so wie es aussah, machte sie Ernst – dann war er am Ende. Er besaß nichts. Kein Geld, keinen Anteil an ihrer vom Vater geerbten Firma, am Haus. Nichts. Vielleicht war Regine doch cleverer, als er gedacht hatte. Der verdammte Ehevertrag.
Als sie vor vier Jahren heirateten, war es für ihn nur eine Frage kurzer Zeit gewesen, bis er ihr gesamtes Vermögen in den Händen haben würde, so hatte er gedacht. Falsch gedacht. Er hatte es irgendwie nicht geschafft. Und jetzt drohte ihm das Aus.
Gereizt blickte er über das strahlend blaue Wasser. Mensch, wäre das jetzt schön, eine tolle Frau an seiner Seite, ein Glas in der Hand, diese Luft, diese Ruhe…
Mit der Ruhe war es plötzlich vorbei, als drei Kinder die Treppe zur Plattform herunter gestürmt kamen. Meine Fresse, dass Blagen immer so plärren und toben müssen! Wo waren denn die Eltern dieser Schädlinge? Missbilligend blickte sich Scherer um. Keine Eltern. Die glotzten wahrscheinlich rührselig Richtung Ithaka und ließen ihre Schreihälse machen, was sie wollten. Verdammte Rabeneltern! Regine blickte indessen weiterhin in die Luft oder weiß der Teufel wohin.
Vielleicht hätte er ihr doch das Kind machen sollen, das sie so gerne gehabt hätte? Aber er als Vater? Grauenhafte Vorstellung. Und außerdem hätte im Falle eines Falles dann sicher das Blag alles geerbt.
Verdammt, verdammt. Er hatte keine Wahl. Er musste das Ruder noch einmal herumreißen, egal zu welchem Preis. Sonst könnte er gleich über Bord springen, bei den Schulden, die er mittlerweile bei diversen Zockerkumpanen hatte. Er musste noch einmal versuchen, sie für sich zu gewinnen.
Wieder drehte er sich um und blickte die Bordwand hinunter. Die Heckklappe wackelte bedrohlich in ihrer Verankerung, doch das registrierte Ronald nur so nebenbei. Griechischer Seelenverkäufer eben. Mehr interessierte es ihn plötzlich, wie tief es wohl bis zum Wasserspiegel hinab ging. Der LKW war vielleicht drei Meter hoch und war knapp unter der Quertraverse hindurchgekommen. Mit dem Aufbau, na ja, vielleicht so fünf Meter? Mehr nicht. Es war eine kleine Fähre, die wie eine Straßenbahn die Inseln verband.
Er drehte sich wieder um und starrte zu Regine hinüber. Die Bälger tobten noch immer herum. Der größere Junge zog ein sonderbares Stofftier an einer Leine hinter sich her, und die anderen beiden versuchten es zu fangen. Dabei kreischten sie wie Oskar, der Blechtrommler. Ronald sah gedanklich schon den Rost aus den maroden Schweißnähten rieseln. Plötzlich rannte der Junge mit dem Stofftier die Treppe hoch, verfolgt von seinem brüllenden Bruder.
Schlagartig kehrte Stille ein. Ronald atmete erleichtert auf. Doch was war mit dem dritten Scheißer? Er sah genauer hin. Es war ein mageres Mädchen von etwa fünf oder sechs Jahren mit rostroten Haaren, und sie hatte offensichtlich das Interesse an der wilden Jagd verloren.
Ganz, ganz langsam bildete sich ein Gedanke in Scherers Gehirn. Er starrte die dünne, rostige Kleine an, die an die dünne, rostige Reling getreten war und fasziniert zum Kielwasser hinunter starrte.
Mann, ja, das wäre vielleicht…
Verstohlen huschten Scherers Augen übers Deck. Nichts hatte sich verändert. Seine Frau hielt unverwandt ihr Gesicht von ihm weg in die Sonne und rührte sich nicht.
Wirre Gedanken schwirrten durch Ronalds Kopf, als er sich wieder dem Kind zuwandte. Dann wanderten seine Augen wieder die Reling entlang.
Ja, da waren sie. Grellorange. Zwei backbord-, zwei steuerbordseits. Rettungsringe. Erstaunlich, auf einer innergriechischen Autofähre.
Der Gedanke gewann an Konturen.
Seine Frau einfach über Bord zu werfen, aus Wut und Hass, ja, das hätte ihm Freude bereitet. Aber es wäre auch furchtbar dumm gewesen. Es hätte ihm nichts genützt, er war nicht ihr Erbe. Gütertrennung. Die Erinnerung an seine damalige Blödheit ließ ihn mit den Zähnen knirschen.
Sigá, sigá, langsam, langsam. Er musste sich konzentrieren. Was war es, das ihm vorhin unbewusst aufgefallen war? Etwas war seltsam gewesen. Dann kam ihm die Erleuchtung.
Er drehte sich zu dem Mädchen, das noch immer zum Wasser hinunter schaute.
"Pst. Pssst."
Keine Reaktion. Leise rief er:
"Hallo. Haaaloooo."
Wieder keine Reaktion. Er sah zu seiner Frau hinüber. Sie konnte ihn unmöglich hören. Er rückte näher zu dem Mädchen hin und sagte in einem scharfen Tonfall:
"He, du kleiner Scheißblag, bist du taub?"
Wieder keine Reaktion.
Jetzt wusste er, was ihn vorhin unbewusst irritiert und ihm gleichzeitig den Gedanken ins Gehirn gepflanzt hatte: Das Geplärr und Gekreische war nur von den Jungs gekommen. Das Mädchen war taubstumm.
Super. Sein Plan war fertig.
Womit kann man eine Frau beeindrucken, speziell seine Frau? Mit rührseligem Scheiß. Mit opferwilligen Helden, mit selbstlosen Bürgern, die nasse, ins Eis eingebrochene Bälger aus knöcheltiefem Wasser zogen. Hey, das war's!
Er würde das stumme Mädchen über die Reling werfen, einen Rettungsring hintendrein, seiner Frau schreien, dass ein Kind über Bord gefallen war und todesmutig hinterher springen.
Er war ausgebildeter Taucher und Rettungsschwimmer. Für ihn würde es ein Leichtes sein, das Kind zu bergen, zum Ring zu schwimmen und auf Hilfe zu warten. Seine Frau hatte den Segelschein, Motorbootscheine für Binnen und See etc. pp.
Sie wusste was zu tun war, um ein Mann-über-Bord-Manöver einzuleiten. Ganz sicher. Und er wäre der strahlende Held. Rettet selbstlos ein Kind aus den mörderischen Fluten und drückt es bescheiden der aufgelösten Mutter an den wogenden Busen. Genau.
Regine würde gar nicht anders können, als ihn wieder zu lieben. Und das Mädchen war so jung, dass es sicher noch nicht schreiben und ihn so verraten konnte. Perfekt.
Aber es musste schnell gehen. Jederzeit konnten die zwei Brüder wieder auftauchen oder andere Fahrgäste, oder seine Frau veränderte ihre Kopfhaltung und sah, was er tat.
Es musste sofort passieren. Jetzt. Er holte tief Luft, während sein Puls zu rasen begann.
Scherer sprang auf, packte das Kind und wollte es hochheben. Das erschrockene Gesicht, der aufgerissene Mund, aus dem kein Schrei drang, brannten sich in sein Gedächtnis. Perfekt, dachte er noch kurz, dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
Ein unsäglicher Schmerz war von seiner Leistengegend nach oben ins Gehirn geschossen und lähmte alles.
Das Mädchen hatte ihm in seinem Abwehrkampf mit voller Wucht die Knie in die Eier gerammt. Genau auf den Punkt. Ende
.
Er ließ das Kind los, taumelte nach hinten und spürte nicht einmal, wie die morsche Reling in seinen Rücken krachte und nachgab. Schreien konnte er nicht, der Schmerz hatte alle Luft aus seiner Lunge getrieben. Nach hinten kippend sah er noch, wie seine Frau die Brille hoch schob und ihn anstarrte. Gott sei Dank! Nicht auszudenken, wenn sie seinen Sturz nicht bemerkt hätte!
Strampelnd, schnaufend, spuckend und fast blind vor Schmerz erreichte er wieder die Wasseroberfläche. Scheiße, Scheiße und noch mal Scheiße. Sein Plan war schief gegangen. Wenigstens hatte seine Frau seinen Abgang bemerkt. Die kurze Zeit, bis das Schiff aufgestoppt, gewendet hätte und die Suche aufnehmen konnte, würde er als guter Schwimmer in der warmen See überstehen. Darin war er Profi.
Als sich sein Blick vom Salzwasser geklärt hatte, sah er auf der sich rasch entfernenden Fähre seine Frau an der
gebrochenen Reling stehen. Sie hielt das stumme Mädchen im Arm und winkte ihm zu.
Und dann zeigte sie ihm den Mittelfinger.
Garlin 4309
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2009
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