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Easy Rider haben wir gesehen, danach eine ganze Reihe ziemlich abgefahrener Motorrad-Road-Movies und zuletzt noch Wild Hogs mit John Travolta – genug könnte man meinen. Doch jetzt lief Sixtysix and More an, ein Streifen , dessen Untertitel wie ein Abklatsch des letztgenannten klingt: Oldie but Goodie. Wir fragen uns: Gilt dieser etwas fade Name der Route 66, der aus den letzten Zuckungen teilweise reanimierten Mother of Roads, Glory Road, Strasse der Freiheit und wie noch die Klischees heißen mögen, oder den beiden Protagonisten P. und B.,deren Habitus zumindest dem Alter der mythenumwobenen Straße angemessen erscheint?
Zwei ältere Herren, die glauben, auf einem Trip von Chicago nach L.A. auf zwei fetten Harleys einen Hauch ihrer alten Freiheit und Abenteuerlust aus dem Winterschlaf erwecken zu können – muss man sich diesen Film unbedingt antun? Mal sehen. Folgen wir den Protagonisten einfach und schauen, ob sie uns dahin führen werden, wo sie erfunden wurden: nach Hollywood.


EINS. Die erste Szene beginnt unspektakulär.
Man sieht zwei Typen unschlüssig in den Schluchten zwischen den Skyscrapern herumwandern – zu Fuß, wie Cowboys, denen man die Pferde geklaut hat. Und sie frieren wie die Schneider, denn der Spitzname Windy City für Chicago ist Programm. Die Szenerie wirkt eigenartig: Das soll die drittgrößte Stadt der Staaten sein? Kaum Menschen auf den Strassen, kaum Verkehr, als wäre eine Seuche ausgebrochen. Aber nein. Weekend. Erst ein Park, der Milleniumpark, zeigt Leben. Rührende Spielereien, ganz witzig, ziehen die Leute an: Ein riesiges, verspiegeltes drei-, nein n-dimensionales Gebilde schlägt sie in seinen Bann, eine Skulptur, genannt The Bean und ein weiteres Objekt, das wie eine monströse explodierte Milchbüchse aussieht.

Dann zwei gegenüberliegende, etwa dreißig Meter hohe Monolithen, die von innen heraus leuchten und verschiedene Gesichter dieses Schmelztiegellandes zeigen und immer wieder gigantische Wassermassen ausspucken – sehr zur Freude der Kinder, die in dem zentimeterhohen Wasserfilm zwischen den Säulen herumtoben.
Dahinter liegt der Grant-Park. Die Kamera schwenkt auf den zumindest Al Bundy-Fans bekannten Buckingham Fountain mit der gigantischen Fontäne – hübsch, aber leider nicht alt, na ja, wie auch? Ziemlich alt dagegen schauen unsere Protagonisten aus, als sie bemerken, wie hoch die Fontäne ist, die aus ihren Geldbeuteln schießt. Zwei Kaffee: 7$, zwei Dünnbiere (Budweiser): 10$, zwei kleine, grüne Heineken: 10$, Fahrt auf das höchste Gebäude Amerikas, den Sears-Tower: 12$ pro Person. Aber erst von dort oben erkennt man, wie spektakulär die Skyline tatsächlich ist und dass 436 Meter verdammt hoch sind.

Von unten betrachtet verschwindet der gewaltige Turm immer durch die Kameraperspektive gesehen hinter anderen Wolkenkratzern, als wäre er niedriger als sie. Vielleicht ist das Absicht des Regisseurs und er will uns etwas damit sagen. Bloß was? Ermahnung, Babel nicht zu vergessen?
Immerhin steht der Sears-Tower an der Adams Street, dort, wo die legendäre Route 66 beginnt – wie nebenbei schwenkt die Kamera über das Schild, das darauf hinweist.
In der letzten Einstellung des Tages sieht man unsere Helden etwas verloren in der Halle des Hollyday-Inn sitzen, einer reichlich uninspirierten Betonplattenkonstruktion, der ein wenig Farbe und/oder ein paar Grünpflanzen etwas von dem Charakter eines Getreidesilos nehmen würde. Nun ja, nicht jeder Architekt Chicagos heißt Frank Lloyd Wright oder Ludwig Mies van der Rohe.
Während die leeren grünen Fläschchen am Tisch zu je 6$ immer mehr werden, blendet die Kamera ab.


ZWEI. Aufblende. Wie bitte? Noch immer keine Harleys? Wir sehen die Hauptdarsteller beim Sightseeing, bei einer Schiffstour auf den Lake Michigan und durch die Stadt auf dem Chicago River. Dann in einem nach ranzigem Bratfett müffelnden Mac Donald's einen süßlichen, schwammartigen Kloß, genannt Grilled Basic Sandwich hinunterwürgen und auf der Suche nach einer Flasche Wein durch ein menschenleeres Kaufhaus streifen. Hochinteressant, but so what?
Immerhin erfährt der Zuseher so en passant, dass das nächste am See gelegene Hochhaus von Mies van der Rohe erbaut worden ist und dass einmal Größen wie Alice Cooper darin Ein-Millionen-Dollar-Wohnungen hatten. Auch der Kameraschwenk vom Hancock-Tower und skurrile Bilder aus einem Pub entschädigen für die Längen der Einstellungen. Doch sollte der Film bald zur Sache kommen: Zur Route 66.


DREI. Na also, geht doch! Endlich, nach langer Taxifahrt und Warten auf den lokalen Chef von Eagle Rider, dem Vermieter, werden die Rösser aus dem Stall geführt: Road King und Heritage Softail. (Was, zum Teufel, soll das heißen? Weichschwanzerbe? Wer war der Weichschwanz? Herr Harley oder einer der Gebrüder Davidson? Klar, das bezieht sich auf die Federung der Schwinge, aber trotzdem, ich bitte Sie…)

Dann endlich kommen die Bilder, auf die wir gewartet haben: Fette Trucks auf den Highways und endlose Ebenen, aber irgendwie gelingt es der Kamera nicht, das richtige feeling rüber zu bringen – auf der Leinwand kann weit und platt auch verdammt langweilig sein.
Die Einstellungen ziehen sich, ab und zu zoomt das Objektiv auf eine Wellblechscheune, einen Fischtümpel, ein paar Pappdeckelhäuser, dann wieder Trucks – alle mit typisch amerikanischer Schnauze – und dazwischen die hämmernden Harleys. Ja, das tun sie wirklich: hämmern. Vor allen beim Gasgeben. Roaring thunder. Herrlich. Ein Klischee, das Wirklichkeit wird. In Deutschland undenkbar, da sei der TÜV vor. Immer wieder Truckstopps mit den wiederkehrenden Motelketten und die Fastfood-Ausfahrten mit Taco-Bells und Co.
Unsere Helden landen in einem Super-8-Motel, nicht ohne kamerawirksam kreuz und quer durch die kafkaesk wirkenden Weichbilder St. Lous' geirrt zu sein.
Kafkaesk auch die Versuche der Protagonisten, europäischen Alkoholgewohnheiten ("Ja Herr, wir sind Sünder!") Tribut zu zollen. Sie enden in einer mexikanischen Cantina, deren Speisekarte mit der Realität so viel zu tun hat, wie ein amerikanisches Sandwich mit einem italienischen Panino. Draught Beer gibt's nur light, kalten Wein nur plastikbecherweise. Bleibt nur Corona. Das passt auch zum Kellner. Hier klingt ein wenig Sozialkritik durch: Der Ober hat anscheinend erst vor wenigen Tagen den Grenzzaun zu Mexiko überwunden, aber er bemüht sich rührend, wenn auch erfolgsarm.
Unsere Helden schlagen sich endlich durch ein kniehoches Irgendwas-Feld, um den Heimweg zum Motel nicht wieder über Highways und Interstates nehmen zu müssen. Für Fußgänger ist Amerika ein hartes Los. Und sie philosophieren über die Logik der Light- Getränke im Kontext der Fastfoodkultur.
Abblende.

VIER. Aufblende.
Weichschwanzerbe und Straßenköter, sorry, Straßenkönig on the road again. Die Musik wird düster, das Wetter auch. Schwarze Wolken, Blitze, das ganze Repertoire und unsere Protagonisten unter einer Brücke, triefend nass. Endlose Reihen von Freight-Liners, Volvos, Kenworths und Macks brettern vorbei, gigantische Wirbelschleppen von Illinoiswasser hinter sich herziehend. Tankstopps, Regenstopps, Nullbockmehrstopps. Trotzdem lernen wir etwas über die USA: Es gibt kostenlos Papiertrichter zum Ölnachfüllen, das Re-fill von Kaffe ist billiger als der erste Becher und jeder bedauert dich, wenn du triefend nass in die Tanke kommst. Der Weg ist das Ziel? Yeah, man! Und Bourbon tröstet auch über ein "spitzenmäßiges" Motel hinweg.
By the way: Was ist das Geheimnis der gespaltenen Klodeckel? Seltsam.
Dennoch: Durch geschickte Kameraführung lässt uns der Regisseur immer nachvollziehen, wo sich die Protagonisten gerade befinden – der Gateway Arch, der gigantische stählerne Bogen, der das Tor zum Westen symbolisiert, steht in St. Louis.



FÜNF. Der nächste Tag zeigt strahlendes Wetter, der Asphalt fliegt unter den Rädern, und da ist er endlich, der Mittlere Westen, mit seinen Kühen, verstreuten Farmen, den Traktoren mit den doppelten Reifen. Hier stellt keiner den Motor ab, wenn er sich ein six-pack Bud light aus der gas-station holt, hier grüßt jeder jeden, und wenn einer einen japanischen Reiskocher statt einer Harley fährt, dann erklärt er entschuldigend, dass er Cowboy sei und kein Biker.
Oklahoma City zieht vorbei, und die endlosen Ebenen der Prärie lassen die Zeiten erahnen, als die Jungs auf dem Chisholm Trail Herden mit Tausenden von Rindern zu den Schlachthöfen von Chicago trieben.
Abseits des Highways liegt ein Kaff namens Clinton. In einer Tankstelle erstehen die Protagonisten von einer Indianerin das laut großflächiger Werbung coldest beer in town und als die Sonne sinkt und die Kamera langsam abblendet, sieht man sie noch zufrieden auf schäbigen Motelstühlen neben ihren Stahlrössern sitzen und den Staub der Straße hinunter spülen. Cowboyland. Stille, Ruhe.
Ein letzter Dialog begleitet den Sonnenuntergang:
"Konnte mir nie vorstellen, dass ich mich mal auf ein Heineken freuen würde. Das Budweiser muss man sich ja mit Jim Beam schön trinken!"
"Schon, aber womit trinkt man sich Jim Beam schön?"
"Mit Jack Daniels."


SECHS. Der Film ist aufgebaut wie eine Cautauqua, die alte, fahrende Schule des 19. Jahrhunderts. Jeden Tag lernt man etwas Neues. Das Route 66 Museum in Clinton, das unsere Protagonisten am nächsten Tag besuchen, schildert anschaulich die Gründe der Entstehung, die Entwicklung und den Untergang der Motherroad. Mit unsäglichen Fahrzeugen brachen die Ärmsten der Armen damals auf, um im "Goldenen Westen" das Glück zu suchen, und oft genug fanden sie nur Steine.
Die Tour geht weiter durch unendlich offenes Land. Texas: Prärie ohne Grenzen, durch den Panhandle mit Herden von Hamburgerlieferanten (Best Beef!). Weiße Wolken, weites Land.

Doch dann New Mexico: Der Regisseur liebt düstere Stimmungsbilder. Tief hängen die Wolken, nicht mehr weiß, sondern schwarz, und dann beginnt der Regen. Die Szenerie, gefilmt durch die Harleyscheiben, wird endzeitmäßig, und die Umziehzeremonie unter einer Highwaybrücke bleibt den Zuschauern nicht erspart. Harleyfahrer im Regenkombi? Musste das sein?
Und dann das unfassbare Budget Motel. Gleich wird Norman Bates aus Psycho an die Tür klopfen und Alfred Hitchcock hinter dem Highway-Patrol-Wrack auf dem Parkplatz hervor grinsen. Doch unsere Helden finden einen Laden mit Jack Daniels und Heineken ("Ich liebe es, dank Budweiser") und desinfizieren die Kakerlakenbude wenigstens innerlich.
Die panischen Blicke zum Himmel lassen für den nächsten Tag Schlimmes erahnen und die Frage des Abends lautet:
"Hat es eigentlich in Indianerfilmen jemals geregnet?"


SIEBEN. Und wieder sieht man die endlosen Weiten (ja, verdammt noch mal, manchmal stimmen die Klischees!), nur durchsetzt von Truckstopps.


Topgestylte Biker unterbrechen die Monotonie mit chromblitzenden Maschinen – auch eine Titan ist darunter. Einer zieht sofort nach dem Anhalten eine Sprühflasche heraus und wienert einen Mückenschiss von der Scheibe (Hey Dicker, deine Markise hat 'ne Falte – lass den Spießer in dir raus!).
P. und B. entschließen sich, vom Highway abzubiegen, um Montezumas Castle zu besichtigen, das laut Triple-A-Karte bei Las Vegas, New Mexico, liegen soll. Es folgen wieder lange Einstellungen auf endlos gerade Straßen, ein paar magere Kühe, Dornengestrüpp.

Endlich eine Abwechslung: Die Santa Fee Southern Railway. Ein ziemlich abgewrackter Zug steht am Bahnhof von Nirgendwo und symbolisiert die kleinen Dramen des Lebens, die sich so nebenbei abspielen: Eine Schulklasse will mitfahren, aber zwei Kids sind abgängig.
("Oohh my Gooood!!")

Die Kinder rufen, die Lok tutet, der Lehrer rennt kopflos in dem namenlosen Nest herum, der Zug wartet und wartet. In Deutschland undenkbar.
Wieder ziehen böse Wolken auf, Blitze zucken, etc. p.p. wie gehabt. Und auch die Dialoge der Protagonisten wiederholen sich:
"Gummi an?"
"Will nicht! Verfluchtes Pisswetter!"
"Fahr nach Amerika, haben sie gesagt, da ist schönes Wetter, haben sie gesagt…"
Nützt alles nichts. Der Regisseur will Regen, also kriegt er Regen.
Las Vegas, N.M., ist wieder trocken und protzt mit einer Old- und Newtown, die zwar nur 45 Jahre auseinander liegen, aber für amerikanische Städte ist das eine Menge. Prozentual gesehen zumindest. Ja, auch das ist der Mittlere Westen: Manche Häuser würden bei uns nicht einmal als Geräteschuppen durchgehen.

Die Historie ist nur mühsam nachzuvollziehen, aber das Städtchen leistet sich ein Visitor Center. Hier sinkt die Stimmung der Protagonisten auf Null, als sie erfahren, dass Montezumas Castle nicht die Pueblosiedlung der ancestral puebloans,wie die Anasaziindianer heute genannt werden ist, sondern ein "historisches" Hotel der alten Santa Fee Railroad.
Nachschubprobleme und damit verbundene Fragen tauchen auf: Wo kaufen die Las Veganer Gemüse? Zwiebeln, Knoblauch, Salat? An der Tanke offensichtlich nicht. Unsere Helden ringen sich dazu durch, zwei Büchsen Tunfisch zu erstehen und einen Sack Hamburgerbrötchen. Sonderbares Zeug. Ist das ein Bäckereiprodukt oder wird es von 3M geliefert? Platt gedrückt nimmt es die Dicke eines Bierdeckels an, ohne nennenswert in die Breite zu gehen. Vielleicht kann man die so komprimierte Masse in den Toaster stecken? Was aber, wenn sie dann schmilzt und wie ein Marshmellow die Maschine verklebt?




Um diese und andere Aspekte der amerikanischen Kultur drehen sich die Gespräche der Protagonisten, die sich vor dem Regen in das Thunderbird Motel von Las Vegas, N.M., geflüchtet haben. Zwei Kingsize-Betten, darüber zwei identische Kakteenbilder, daneben Wandlampen, von denen auch nach Jahrzehnten des Gebrauchs noch nicht die Schutzfolien und Preisschilder entfernt worden sind. Thunderbird-Design. Passt in seiner Trostlosigkeit zur Stadt und zum düsteren Himmel.

Nur die Stimmungsaufheller Heiniken und Daniels lassen alles in etwas heiterem Licht erscheinen.
Die Harleys draußen warten geduldig auf den nächsten Tag. Und auf die Gelegenheit, einen Hamburger platt zu fahren, wie wir bald sehen werden.

Und dann zum Abschluss die zutiefst beunruhigende Frage: Was macht man mit den kurzen, schwarzen Gummibändern mit den zwei Fleischerhaken, die es überall in der Stadt zu kaufen gibt?


Hier endet unvermittelt der erste Teil des Roadmovies, und der Kritiker begibt sich ins Foyer, um die Qualität des passenderweise angebotenen Budweiser's am eigenen Leibe zu testen.
Gleich geht's weiter...




Fortsetzung folgt

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Teil 1 Chicago - Las Vegas (New Mexico))

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