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Die Blätter raschelten über unseren Köpfen; es war als wisperten die Äste. Vielleicht trauerten sie auch. Schließlich wurde eine Beerdigung abgehalten. Unter dem großen Baum mit den vielen Blättern wurde sie begraben. Meine Mutter. Ich stand da und ignorierte meine schmerzenden Füße, die in den viel zu engen schwarzen Absatz-Schuhen steckten, ignorierte mein schmerzendes Herz. Schließlich lag dort meine Mutter. Oder zumindest lag dort ein lebloser Körper, dem einst die Seele meiner Mutter innegewohnt hatte. Ich glaube an Seelen und an ein Leben nach dem Tod. Ich glaube auch, dass die Seele meiner Mutter in dem Augenblick aufstieg, hoch über der schwarzen Trauergesellschaft in die Baumkronen und ich bin fest davon überzeugt, dass sie schon von den höheren Mächten wusste und sie verstand. Und weil sie all das eben verstand, hat sie wohl auch irgendwie in die Wege geleitet, dass genau dieser Mann am Tage ihrer Beerdigung mit seinem Hund vorbei kam. Der Friedhof war nicht umzäumt. Also konnte man vom Bürgersteig aus alles mit beobachten. Der Collie bellte nicht, war ganz still. Wie sein Besitzer. Nachdem ich die Blumen auf den dunklen hölzernen Sarg gebettet hatte und mich fortdrehte, sah ich ihn. Er stand einfach nur da und ich wollte nicht schon wieder heulen. Also ging ich zu ihm hin. Er sah so aus, als dächte er, ich würde ihn verscheuchen wollen, doch ich lächelte nur und der Hund, der wohl bessere Menschenkenntnis als sein Herrchen besaß, kam schwanzwedelnd auf mich zugelaufen. Ich beugte mich zu ihm, um ihn zu streicheln.
„Na, wie geht’s dem feinen Hund?“
Als der Hund selbstverständlich nicht antwortete, sprang sein Herrchen für ihn ein.
„Nun ja … Maddy geht es eigentlich recht gut“, meinte er verlegen, bevor er hastig hinzufügte:
„Wir wollten hier nicht stören. Wirklich nicht.“
„Ach.“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich hab’ genug vom Trauern und ewigen Heulen. Irgendwann muss auch mal gut sein. Ich habe die letzten paar Wochen nichts anderes mehr getan als mir die Augen aus den Höhlen zu weinen.“
Ich sah ihn an.
„Und das hätte Mama nicht gefallen.“
„Oh, Ihre Mutter?“
„Ja.“
Dann standen wir da. Maddy wuselte um meine Beine.
„Sieht aus als hätte sie eine neue Freundin gefunden.“
„Ja!“, lachte ich, während Maddy mit ihrer rauen Zunge über meine nackten Beine leckte, die unter dem Rock hervor kamen.

Wir saßen in einem kleinen Imbissladen nicht weit entfernt vom Friedhof. Es war wunderbar. Maddy lag unter dem Tisch an meine Beine geschmiegt. Ich hatte die Schuhe ausgezogen und ich lachte endlich wieder. Maddys Herrchen hatte sogar einen Namen. Er lautete Eric. Eric hatte dunkle Haut und schwarze gelockte Haare. Und Grübchen hatte er auch, immer wenn er lachte oder grinste oder einfach nur vor sich hin lächelte. An dem Tag trug er ein schwarzes Hemd, Jeanshose und –Jacke. Und ich trug Mutters schwarz-grau marmorierte Perlenkette, eine Bluse, Anzugsjacke, Rock und schmerzende Schuhe bzw. Letzteres trug ich eigentlich nicht. Wir blieben lange in dem Laden und, als wir ihn verließen, tat ich es ohne sie mir wieder anzuziehen. Das letzte Stück zu seinem Apartmenthaus musste er mich tragen. Maddy lief brav neben uns her, während wir ausgelassen und kindisch auf seiner Treppe herum alberten. Er schloss auf und geleitete mich in den Flur. Dann fuhren wir mit dem Aufzug hoch. Da war es sehr still. Manchmal sah ich ihn an, nur um dann ganz schnell wieder fort zublicken und seinen Blick dann auf mir ruhen zu spüren. Wie kleine Kinder haben wir uns verhalten. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen – und das am Tag, da meine Mama beerdigt wurde!
Dann öffnete sich die Aufzugtür vor uns und ich trippelte hinaus, lachte den ganzen Weg zu seinem Apartment. Und er lachte auch. Ich weiß nicht, ob Maddy lachte, aber sie machte einen sehr fröhlichen Gesichtsausdruck, fand ich, auch wenn ich damals nichts von der Mimik eines Hundes verstand.
Eric hatte weichen Teppichboden in seiner Wohnung. Alles war recht altmodisch gebaut und das Apartment war eher gemütlich eingerichtet. Hier und da lagen ein Pullover, ein Schuh und der dazugehörige lag dann auf der anderen Seite des Raumes. Fließend ging das Wohnzimmer in die Küche über und ich fühlte mich sofort heimisch. Maddy sprang auf das Sofa und lud mich geradezu ein es ihr nachzutun. Also machte ich mich auf seiner Couch breit, während er uns zwei Gläser Wein einschüttete. Natürlich hatte es das im keinen Imbissladen nicht gegeben. Eric kam zu mir herüber, reichte mir mein Glas und ich nahm einen Schluck ohne die Augen von ihm zu nehmen. Dann stellte ich das Glas auf einem Tischchen ab und richtete mich auf, tat so als müsste ich überlegen.
„Hmm ... nun ja … Etwas trocken, wissen Sie … “, mimte ich einen Weinkenner mit tiefer Stimme. Er lachte. Dann war ich plötzlich still und sah ihm ins Gesicht. Er hatte schwarze Augen. Sie waren vollkommen, abgrundtief schwarz. Ich lehnte vor, um sie näher zu betrachten, doch da lehnte ich mich noch ein Stückchen vor und noch ein bisschen und so kam es, dass ich plötzlich ganz andere Absichten hatte. Ich küsste ihn sanft, spürte seine Hände an meinen Oberarmen, spürte wie sie mich näher zu ihm hinzogen. Es war ein sanfter Kuss, doch dann rückte ich nach und schubsten ihn rücklings auf seine eigene Couch, küsste ihn stürmisch zurück. Es war wie perfekt …
Mom hatte auch an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, ich nicht ... bis zu diesem Tag. Wir blieben zusammen. Wir drei. Ich, Eric und Maddy. Wir waren unsere eigene kleine Familie. Ganze drei Jahre waren wir das, doch Eric und ich wollten irgendwie nicht heiraten. Es war nicht so, dass wir nicht daran glaubten, dass wir eine Ehe bewältigen konnten, doch wir wollten immer das romantische Liebespaar bleiben, dass für sich zurückgezogen lebte und da passte eine Hochzeit einfach nicht hinein. Da hätte man Verwandte einladen müssen und alles organisieren müssen und den ganzen Stress ertragen müssen. Das brauchten wir alles nicht. Uns genügte es spazieren zu gehen. Oder abends gemeinsam auf der Couch zu liegen. Doch nach drei Jahren reichte es dann für mich nicht mehr. Nein, unsere Beziehung zerbrach nicht. Eric starb. Danach dachte ich eine Zeit lang, dass wir noch so Vieles hätten tun sollen. Wir hätten heiraten sollen, Kinder bekommen sollen. Ich hätte seine Familie näher kennen lernen sollen. Wir hätten eine Reise nach Paris unternehmen sollen! Wir hätten uns nicht mit den kleinen Dingen zufrieden geben sollen! Aber das haben wir getan und die anderen Sachen haben uns nie gekümmert und dann war Eric auf einmal tot und ich erst einmal recht frustriert.
Es war in einem Autounfall. Plötzlich stand da ein Polizist vor unserem Apartment, dem kleinen gemütlichen Apartment, das früher nur ihm und Maddy gehört hatte. Ich weiß nicht mehr genau, was danach geschah. Danach verlief alles wie Farben auf der Leinwand, die mit zu viel Wasser vermischt wurden. Die Reihenfolge der Tage geriet durcheinander und ich übergab alles Organisatorische, anders als bei Mutters Tod, in die Hände seiner Eltern. Anfangs war ich untröstlich. Ich hatte ja auch niemanden, dachte ich. Doch das stimmte nicht. Ich hatte Maddy. Abends lag ich mit ihr, die ihn auch sehr vermisste, auf der Couch, fütterte sie mit Knabber- und mich mit Selleriestangen. Wir gingen fortan allein im Park spazieren oder über den Friedhof, um Mutter zu besuchen, wie ich es früher mit Maddy und Eric getan hatte. Ich war sehr dankbar, dass seine Eltern mir den Hund ließen. Ich glaube, sie haben gespürt, dass ich sie brauche und dass Eric gewollt hätte, dass wir beide als geschrumpfte Familie weiterleben.
Anfangs haben wir uns nicht zum Grab getraut. Es war ein schwarzer Marmorstein durchzogen von grauen Striemen. Wie Mutters Kette, konnte ich feststellen, als wir uns dann doch hingewagt haben. Ich saß auf dem Stein, Maddy lag neben dem Grab. Ich wusste, sie würde keine Gräber durchwühlen. Wir haben geweint, uns die Augen aus den Höhlen geweint, doch dann reichte es auch. Irgendwann haben wir uns nachmittags an den Stein gekuschelt und geredet. Natürlich konnte Maddy sich nicht ausdrücken wie ein Mensch, doch ich verstand sie trotzdem und ich verstand auch Eric. Er schwebte über uns in den Bäumen und brachte Blätter zum Rascheln jedes Mal, dass er uns etwas sagen wollte. Ich habe nie geheiratet, denn ich war schon verheiratet. Ich hatte auch schon eine Familie. Ich weiß, dass alle gesagt haben, ich sei wahnsinnig geworden und wäre nicht mit dem Schock fertig geworden und dass das der Grund ist, weshalb ich mit Grabsteinen, Bäumen und meinem Hund spreche, doch ich weiß es besser. Ich hatte eine Weile gebraucht, doch dann hatte ich irgendwann begriffen, was ich zu Anfang eben schon erwähnte. Es gab ein Leben nach dem Tod, aber man kommt nicht sofort in den Himmel. Man wartet auf diejenigen, die man liebt. Man wartet, damit man, wenn es dann so weit ist, gemeinsam durch die Himmelspforte schreiten kann. Somit gibt es auch keine Hölle, denn egal, wo das Leben nach dem Tod stattfindet, man geht dort mit seinen Liebsten hin und das macht den Ort zu einem Himmel, einem Paradies…

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diesen Text einem schönen, breiten, dunklen Grabstein ...

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